20.01.2015
Im Krieg und danach: Eine aktiv handelnde deutsche Arbeiterklasse gab es nicht...
Wiederentdeckt: Rudolf Herrnstadts Artikel »Über die Russen und über uns«
Unter der Überschrift „Standort
der Geisteshaltung“ berichtete die Spotless-Ausgabe „Das
Ende“ vor zehn Jahren über den Herrnstadt-Artikel vom
November 1948. Behandelt wird das Wesen der russischen und der
deutschen Arbeiterklasse im Krieg und bei Kriegsende. Der gesamte
Artikel wurde bei redaktion@nd-online.de entdeckt. Wir dokumentieren
den Bericht von Spotless:
Das Finale des Zweiten Weltkriegs lieferte den Medien
und einigen Historikern vieler Nationalitäten bis heute Stoff
für höchst unterschiedliche Urteile. Im Frühjahr 2005
wurden in Deutschland von den Medien unzählige Berichte
verbreitet, die nicht so sehr den dokumentarischen Realitäten als
viel mehr höchst durchsichtigen Absichten der
»Aufarbeitung« der Geschichte folgten. Diese Feststellung
schließt die Tatsache ein, dass man verständlicherweise auf
oft weit auseinandergehende Meinungen auch bei Militärhistorikern
stößt. Hinzu kommen zahllose hinterlassene Aufzeichnungen
und bislang kaum bekanntgewordene Berichte. Kurzum: So sehr die Arbeit
der Historiker zu respektieren ist, so agitationsverdächtig sind
zusammengeschnittene Reportagen, in denen nachträglich politische
Absichten verfolgt werden. Ein Thema, das immer wieder strapaziert
wird, ist das Verhalten vorrückender sowjetischer Soldaten
gegenüber der Zivilbevölkerung.
So überschrieb »Der Spiegel« 2003 (Nr.
16) einen Report unmissverständlich »Die Frau als
Kriegsbeute« und bemühte sich mit altbekannten Thesen dieses
Schock-Thema aufzufrischen. Im Mittelpunkt stand das 1954 zum ersten
Mal in den USA erschienene Buch »Eine Frau in Berlin«,
deren Autorin auch anonym blieb, als es 1959 in der Schweiz verlegt
wurde. 2003 verlegte es Hans Magnus Enzensberger in der BRD in seiner
Reihe »Die Andere Bibliothek«, woraufhin Jens Bisky in der
»Süddeutschen Zeitung« verkündete, er habe die
Identität der Autorin enthüllt und auch einen Namen nannte.
Enzensberger reagierte betroffen: »Selbst die
,Bild’-Zeitung wurde vermutlich das Gesicht einer vergewaltigten
Frau unkenntlich machen. So viel Schonung kann einem
Enthüllungsjournalisten wie Bisky nicht in den Sinn kommen.«
Die Auseinandersetzung eskalierte, bewegt uns aber
verständlicherweise kaum. Das konnte auch für den Inhalt
gelten, würde auch dieses Buch nicht als antikommunistisches
Kreuzfahrtschiff durch die Zeiten segeln und jeweils wieder in See
stechen, wenn das Thema wieder aktuell zu werden scheint.
In der Rezension, die der »Spiegel« 2003 der
Enzensberger-Ausgabe widmete, fand man übrigens auch den Satz:
»Die Verfasserin des Tagebuchs, offenbar in der damaligen
Medienbranche tätig, hat es Anfang 1945 in eine
zusammengewürfelte Hausgemeinschaft irgendwo in der Hauptstadt
verschlagen.« Der Hinweis auf die, »damalige
Medienbranche« war nicht neu, bestätigte aber einmal mehr,
dass es sich um eine Journalistin aus dem Goebbels-Korps gehandelt
haben dürfte.
Worum es geht? Der »Spiegel« resümierte
das so: »Doch am Abend kommen... Besatzer. Sie haben es auf die
Frauen abgesehen. Die wohlgenährten sind die beliebtesten.
,Diesmal wollen sie die Bäckerin.’ Der Ehemann muss die
Vergewaltigung mit ansehen. Die Tagebuchschreiberin notiert mit
unerschütterlicher Distanz dessen Zusammenbruch: ,Unmöglich
kann ein bürgerlicher Bäckermeister sich so bewegen, solche
Herztöne in seine Stimme legen, so nackt, so aufgerissen wirken,
wie ich es bis jetzt nur an großen Schauspielern erlebte.’
Dann fallen zwei russische Soldaten auch über die Autorin her, im
Keller, auf der Treppe, mit roher Gewalt, erbarmungslos und
schnell.«
Genug damit – alle sind im Bilde.
Logisch ist, dass solchen Passagen – wo immer sie
gedruckt werden – Fragen folgen, auch die, ob es so gewesen sein
könnte und wer in den Monaten vor dem 60. Jahrestag die
Fernsehserien und deren Begleitbücher über sich ergehen
ließ, kann bezeugen, welche Hauptrolle dieses Thema spielte.
Deshalb erschien es nützlich, an einen Artikel zu
erinnern, der am 19. November 1948 in »Neues Deutschland«
erschienen war. Sein Autor Rudolf Herrnstadt war wohl der
profilierteste Journalist der kommunistischen Presse. Später stieg
er ins Politbüro auf, machte sich dort mit seinem faszinierenden
Intellekt Feinde, wurde aus der SED ausgeschlossen und schrieb als
Leiter des Staatsarchivs in Merseburg noch Bücher, die nicht in
Vergessenheit geraten werden.
Der Artikel vom 19. November trug den Titel
»Über die Russen und über uns«, füllte mehr
als eine Zeitungsseite und kann deshalb hier nur zitiert werden.
Zu bedenken ist: Im Mai 1945 endete der Krieg –
der Antikommunismus, der auch dazu geführt hatte, dass noch in den
Straßen Berlins ein sinnloser blutiger Krieg geführt wurde,
war mit der Unterzeichnung der Kapitulationsurkunde durch Keitel nicht
aus der Welt geschafft, sondern wucherte weiter.
Herrnstadt packte das Thema bei den Hörnern.
»Mitunter trifft man Genossen, die reden so: ,Ja,
wenn die Russen im Jahre 1945 anders aufgetreten wären. Damals
hatten sie die ganze Bevölkerung für sich haben können.
Aber z. B. die Sache mit meinem Schwager. Der stand friedlich am
Straßenrand, bekommt eines über den Schädel, das
Fahrrad wird ihm weggenommen – dabei hat er sein Lebtag für
die Kommunistische Partei gestimmt.’ Untersuchen wir dieses
Beispiel, denn es enthält ein ganzes Bündel wichtiger Fragen
und führt uns auf den Weg zur Lösung.
Also der Schwager stand am Straßenrand. Und obwohl
er sich für einen fortschrittlichen Menschen hielt, hat ihm die
Sowjetarmee das nicht angesehen. Aber woran sollte ihm die Sowjetarmee
das ansehen? Am Schlips? Und selbst wenn sie es ihm angesehen
hätte, was bedeutet es, was einer denkt –, wenn er nicht
tut, was er denkt? Denn darum handelt es sich: Durch Taten – und
nur durch sie – enthüllt sich ein Volk, enthüllt sich
der einzelne, bestimmen sich die Fronten, ermöglicht sich das
Weitere.
Stellen wir nun den Einzelfall in den historischen Zusammenhang. Was ging damals vor sich?
Das imperialistische Hitlerregime ging unter. Jahrelang
hatte es einen mörderischen Klassenkampf gegen das werktätige
deutsche Volk geführt, es arm gemacht und dezimiert –, ohne
dass das Volk den Krieg erwidert hätte. Nun ging das Hitlerregime
unter, weil die Sowjetarmee kam, auf die es sich im gleichen
Klassenkampf geworfen hatte. Und die Sowjetarmee kam als Siegerin, weil
die sowjetische Arbeiterschaft zum Unterschied von der deutschen den
Kampf aufgenommen hatte. Zwei Monate schon lag das Hitlerregime in der
Agonie, von der überwältigenden Mehrheit der Deutschen
inzwischen als Feind erkannt und verflucht. Was tat das deutsche Volk
in dieser Lage? Was tat die deutsche Arbeiterklasse? Kürzte sie
wenigstens jetzt durch ihr Eingreifen den Krieg ab? Sie kämpfte
nicht. Sie kämpfte selbst in Berlin nicht, obwohl der
überlegene Bundesgenosse schon in der Stadt stand. Sie
überließ ihm – in ihrer eigensten Sache – das
ganze Maß des Kampfes mit dem ganzen Maß der Opfer.
Ungeschoren, ja unbehelligt konnte das Hitlerregime fliehen, noch die
Koffer wurden ihm in den Wagen gereicht.
Wie musste die Sowjetarmee dieses Verhalten der
deutschen Bevölkerung einschätzen? Sie musste es so
einschätzen, wie es objektiv war: es gab – von heroischen
Einzelfällen abgesehen – nur zwei Arten von Deutschen, die
Faschisten, welche sprengten, hängten, aus jedem Fenster schossen,
und die anderen, die den Kampf der Faschisten deckten, indem sie
,friedlich am Straßenrand standen’. Eine aktiv handelnde
Arbeiterklasse gab es nicht...
So wurde ihr Gesichtskreis eng, ihre Vorstellungen
wurden schief und unaufrichtig. Kehren wir zurück zum Schwager am
Straßenrand, der diesen Prozess verdeutlicht. Wie sah die Welt in
seinem Kopf aus und wie war sie wirklich?
Sich selbst hielt er für einen fortschrittlichen
Menschen, obwohl er keiner war. Die Vorgänge, die er sah, hielt er
für eine Niederlage. Obwohl es sich in Wahrheit um einen
welthistorischen Sieg der Arbeiterklasse handelte – auch der
deutschen, wenn sie nur verstand, ihn zu nutzen. Und die Armee, die da
kam? Sie war ihm unheimlich, denn der Instinkt sagte ihm, dass sie mit
ihm nicht befreundet sein könne, weil er nicht gekämpft
hatte. Sah er, woher sie kam? ,Aus Frankfurt an der Oder’ hatte
er vermutlich geantwortet. Nein, sie kam von dort her, woher er nicht
kam, nämlich aus dem Klassenkampf in seiner erbittertsten,
wildesten Form, aus dem Freiheitskampf eines überfallenen Volkes,
gegen das vier Jahre lang Krieg auf Leben und Tod geführt worden
war. Sie kam daher nicht in den abgetragenen, aber sauberen Schuhen,
die er selbst an hatte, auch nicht in den geputzten Schühchen aus
der kürzlich verlassenen Friedenskaserne in Boston oder
Manchester, in denen später einige andere kamen. Sie kam in
klobigen Stiefeln, an denen der Dreck der Historie klebte,
entschlossen, entzündet, gewarnt, geweitet, in weiten Teilen auch
verroht – jawohl, in Teilen auch verroht, denn der Krieg verroht
die Menschen, wer hat ein Recht sich darüber zu erregen? ...
Nun hatte er – den totalen Krieg? Eben den hatte
er nicht. Auf der verbrannten Erde steht man nicht mehr am
Straßenrand. Hatte er das für möglich gehalten?
Keineswegs. Wie oft hatte er im Chor mit dem ganzen deutschen Volk
geflüstert: ,Wenn das mal zurückschlägt.’ Sagte er
sich jetzt: wie groß muss die moralische Kraft einer Armee sein,
die selbst nach einem solchen Krieg und solchem Ende imstande ist, den
Rückschlag aufzufangen? Fragte er sich: wie sähe dieses Ende
aus, wenn nicht die im Geist des Fortschritts und der
Menschenwürde erzogene Sowjetarmee gekommen wäre, sondern
eine imperialistische Armee nach vierjähriger Ausschmelzung in
Hitlers Vernichtungskrieg? Er sagte sich nichts, und er fragte sich
nichts, er sah nur eins: dass ihm das Fahrrad abhanden gekommen war.
Und das empfand er als ungerecht. Weil er doch der Sowjetarmee nichts
getan hatte und im Grunde gegen Hitler sei ...«
Manch Diskussion folgte diesem Artikel, einsichtige
Worte fielen, aber viele schwiegen, weil auch diese Zeilen nicht alle
in Richtung logische Vernunft bewegt hätten. Und da viele diesen
Artikel damals gar nicht gelesen haben könnten, weil sie noch
nicht auf der Welt waren oder zumindest noch nicht so gut lesen
konnten, dass sie diese Zusammenhänge erfassten, geriet so mancher
Gedanke Herrnstadts wieder in Vergessenheit und trug demzufolge auch
nicht dazu bei, Schneisen zu schlagen, die vonnöten gewesen
wären.
Immerhin: Wenn das Finale dieses Krieges behandelt wird, sollte Herrnstadts »Schwager« nicht fehlen!
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