20.01.2015
Sind wir wirklich nun alle
Charlie?
Conrad Schuhler hat sich auf www.isw-muenchen.de mit der
Begeisterung bis nach ganz rechts hin für die Losung "Wir sind
Charlie" befasst. Er kommt zu dem Ergebnis; Je ne suis pas Charlie, und
dies vor allem, weil damit und mit dem 7. Januar von Paris eine
Neuauflage von 9/11 begründet werden kann - mit alle den
schrecklichen Folgen. Hier sein Beitrag im Wortlaut:
Die Toten in Paris waren noch nicht bestattet, da
hatten sich auch in Deutschland Publizisten und Journalisten aller Art
schon in Positur geworfen: Wir alle sind Charlie, wir Journalisten
werden auch weiterhin unter Lebensgefahr für Meinungsfreiheit,
Wahrheit und die Verteidigung der demokratischen Werte in Europa
kämpfen. So, unter anderen, der Herausgeber des
Handelsblattes. Der Chef des Springer-Konzerns, Döpfner,
ernannte den 7.1., den Tag der Pariser Attentate, zum neuen
„9/11“, dem Beginn des „Kampfes gegen
Terrorismus“ nach dem verheerenden Anschlag auf das World
Trade Center in New York. Die Spiegel-Redaktion trat in voller Mann-
und Frauschaftsstärke vor die Kamera und reckte Plakate in die
Luft: Je suis Charlie.
Wider
Verlogenheit und Größenwahn deutscher Medien
„Wir sind Charlie“ wurde
„zum Symbol für die bedrohte Öffentlichkeit
und demokratisch-rechtsstaatliche Ordnung insgesamt“
(Süddeutsche Zeitung). Viele haben die Losung aus diesem
respektablen Grund in die Höhe gehalten. Viele andere haben es
getan, die schon dabei sind, Meinungsfreiheit einzuschränken,
Menschen auszugliedern aus der Solidar- und Rechtsgemeinschaft. Viele
reden von einer „Attacke auf die Republik, auf die Werte der
Aufklärung und der Französischen
Revolution“ (Spiegel), und sind dabei, mit dem
französischen 9/11 einen neuen „Kampf gegen den
Terrorismus“ einzuläuten, bei dem diese Werte auf
der Strecke bleiben würden.
Drei Fragen sind zu stellen:
- Steht Charlie Hebdo für die
Meinungsfreiheit, auf die uns die Werte der Aufklärung
verpflichten?
- Was ist von den Propagandisten des
„Je suis Charlie“ in den deutschen
Groß-Medien zu halten? Haben wir es hier mit
Aufklärern zu tun oder nicht eher mit dem Gegenteil?
- Was steht uns bevor in der
angekündigten neuen Offensive im „Kampf gegen den
Terrorismus“?
Charlie Hebdo
– linke Karikaturen für den rechten Fremdenhass
Der Mord an den 12 Redakteuren und Zeichnern und
Schutz- und Reinigungspersonen von Charlie Hebdo ist schauerlich. Er
ist selbstverständlich durch nichts zu rechtfertigen oder zu
verharmlosen. Es muss alles getan werden, um ähnliche
Schauertaten zu verhindern.
Das sagt aber nichts über die
humanistische Qualität der Produkte von Charlie Hebdo. Die
sind zumindest ambivalent. (Vgl. Harald Neuber: Das wird man doch wohl
zeichnen dürfen! www.heise.de/tp/artikel/43/ 43818/1.html)
Ihre Muslim-Karikaturen sind in der Regel abstoßend. Ein
scharfnasiger, glupschäugiger Mohammed wird mit seinen
dümmlich-ironischen Sprüchen lächerlich
gemacht. Das Argument der Verteidiger dieser Manier der
Schmähung lautet, Charlie Hebdo mache das durchgängig
so mit allen Religionen. Es ist aber ein gewaltiger Unterschied, ob ein
Magazin eine Religion angreift und schmäht, die im Lande eine
überragende politische Gestaltungsmacht besitzt, oder ob sie
sich gegen eine Minderheit richtet, wo ihre fremdenfeindlichen Gegner
nur auf Munition gegen den verhassten Gegner warten. Nicht umsonst hat
Pegida eine Trauer-Veranstaltung mit den Charlie-Opfern mit
über 25.000 Teilnehmern in Dresden organisieren
können. Man trauert mit den Opfern und fühlt sich
einig im Abscheu über die Muslim-Objekte der satirischen
Kritik. Dieses Zusammenspiel von aufklärerisch gemeinter
Satire mit übelster rechter Agitation wird von den Satirikern
natürlich nicht eingeplant, aber auch nicht mitbedacht. Es ist
aber ein Faktum.
Zur Satire gegen Minderheiten muss man sich nur
folgende Vorstellung vor Augen halten: In Deutschland würden
Magazine Juden nur noch als hakennasige, verschlagen blickende Figuren
auftauchen lassen, die Hand am Bank-Computer, am Telefon die Gruppe der
Verfolger unschuldiger Kinder. Alles (modifizierte) mediale Stereotype
der Nazizeit. Die Israelitische Kultusgemeinde würde Sturm
laufen gegen solche „Aufklärung“. Und dies
zu Recht, und hoffentlich mit Unterstützung aller Demokraten.
Dasselbe muss aber auch für die Minderheit der Muslims gelten.
Der französische Autor Michel Houellebecq, mit seinem Roman
„Unterwerfung“ mitten im Tumult um den 7.1., hielt
zwar den Islam für die dümmste aller dummen
Religionen, die alle abgeschafft gehörten, aber Demokraten
dürfen darüber das Gleichheitsgebot nicht
vernachlässigen.
Deutsche
Medien: Wir sind Charlie. Welch ein Witz.
Die Pose deutscher Medien als Brüder und
Schwestern im Geiste von Charlie ist in aller Regel pure Heuchelei.
Harald Neuber führt in dem zitierten Artikel folgende
Fälle an: Der WDR hat das Attentat von Paris als
„Anschlag auf die Freiheit“ gegeißelt.
Doch hat der WDR das Musikvideo von Carolin Kebekus, die
kirchenkritische Sendung „Dunk dem Herrn“, Mitte
2013 kräftig zensiert. Die Berliner Zeitung, die sich als
Charlie-Kombattantin hervortut, hat die Zensur der Kölner
Kabarettistin damals so kommentiert: „ Der Skandal besteht
nicht darin, dass der WDR dieses Video bearbeitet hat. Der Skandal
besteht darin, dass der WDR Carolin Kebekus überhaupt eine
Sendung gegeben hat.“
Neubers Schlussfolgerung: „Die Mehrheit
der Journalisten und Redaktionsleiter, die heute ein Din-A4- Papier mit
dem Aufdruck „Je suis Charlie“ in die Kamera
halten, hätten gestern noch eine Publikation von Karikaturen
dieser Zeitschrift abgelehnt.“ Man darf hinzufügen:
Hätten sich diese Karikaturen gegen christliche Personen und
Inhalte gerichtet.
Unsere „Leitmedien“ sind
willige Mitstreiter für die Mächtigen im Reich der
„Werte des christlichen Abendlands“, ihre Chefs
sind Teil von deren Eliten. So gehören die
außenpolitischen Spitzen von SZ (Kornelius), FAZ
(Frankenberger), Welt (Stürmer) und Zeit (Joffe) eng in
Netzwerke transatlantischer Eliten. Dementsprechend sehen ihre
Stellungnahmen über eine Welt, die immer gefährlicher
werde und ein höheres Nato-Engagement verlange, auch aus (vgl.
Uwe Krüger: Meinungsmacht. Köln 2013). Und
dementsprechend auch die Kennzeichnung des Islam, der die Hauptquelle
der internationalen Friedensgefahr geworden sei. Das Pariser Attentat
ist für diese Propagandisten Munition für ihre immer
aggressivere Innen- und Außenpolitik.
7/1: Neue
Welle im „Kampf gegen den Terrorismus“
Eines der abscheulichsten Bilder von der
„Welthauptstadt Paris“ zeigte das Defilé
der Staatschefs bei der „ersten internationalen Demonstration
gegen den Terrorismus“. In der ersten Reihe, knapp getrennt
von Frankreichs Präsident Hollande, marschierte Israels
Regierungschef Netanjahu. Ein französischer Muslim hat dazu
den passenden Satz gesagt: „Ihr seid einen Tag Charlie, aber
wir sind jeden Tag Gaza.“ (SZ) Der politische
Hauptverantwortliche für täglichen Terror gegen
Hunderttausende Palästinenser darf sich in Paris als Opfer des
Terrors darstellen – und als Rächer.
Denn darum geht es natürlich. Von Paris
soll die neue Welle im „Kampf gegen den
Terrorismus“ ausgehen, der 7.1.15 als der zweite 9/11. Was
war damals geschehen, nach 2001?
Der Irak wurde von den USA und seinen
„willigen Verbündeten“
überfallen. Hunderttausende starben. Afghanistan wurde
überfallen. Hunderttausende starben. Syrien wurde zerrissen.
Hunderttausende starben. Die NSA überzog die Welt mit einem
totalen Überwachungsnetz. Privatsphäre und
geschützte politische Basisarbeit sind völlig
überholte Begriffe in unserer Lebenswelt. „Big
Brother“ ist die Realität, und „Big
Gun“ – Konflikte werden nach Waffengewalt
entschieden. Was steht uns bevor mit dem „7.1.“?
Das Handelsblatt, ein Zentralorgan der
wirtschaftlichen Eliten Deutschlands, hat nach dem 7.1. ein
„Manifest der Freiheit“ publiziert. „11
Werte, auf die es jetzt ankommt“, werden herausgestellt.
Darin heißt es: „Europa muss nicht nur seine
gemeinsame Währung, sondern wir müssen auch unsere
gemeinsamen Werte bewahren.“ Und als letzten Schluss:
„Der ökonomische Erfolg der Vereinigten Staaten und
der Europäischen Union ist ganz grundlegend mit dem
rechtlichen Schutz des Eigentums verbunden.“
Wir sollen Hass auf Migranten und Muslime und
vielleicht bald auch auf Griechen erleben, neue Kriege, wo immer
geboten (Afrika!), mehr Opfer der Armen und Prekarisierten –
fundamental bleibt: „der rechtliche Schutz des
Eigentums“.
In diesem Sinne: Je ne suis pas Charlie.
Conrad Schuhler
http://www.isw-muenchen.de/download/charlie-cs-20150114.pdf
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