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Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes
Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten

Landesvereinigung NRW

 

16.01.2015

Kunst im antifaschistischen Kampf – Eine Veranstaltung der VVN-BdA / NRW in Wuppertal

Am 13. Dezember fand in Wuppertal im Gebäude der Erwerbsloseninitiative „Tacheles e. V.“ die landesweite Veranstaltung der VVN-BdA „Kunst im antifaschistischen Kampf“ statt. Die ReferentInnen waren Bodo Treichler und Liza Mikosch, für die musikalische Untermalung sorgte die Gruppe „Die Taubenvergifter“, bekannt insbesondere für die Interpretation von Liedern des Sängers und Komponisten Georg Kreisler. Harald Thomé von der  Erwerbsloseninitiative „Tacheles e. V.“ sprach einige einleitende Worte zu den Aufgaben und Zielen des Vereins und zur Geschichte des Gebäudes selbst, das der VVN-BdA NRW freundlicherweise zur Verfügung gestellt.

Der Bildhauer Bodo Treichler stellte sein Konzept des steinernen Erinnerungsensembles zum mahnenden Gedenken an die Hiltruper ZwangsarbeiterInnen im „Waldpark“, einem ZwangsarbeiterInnenlager der Nazi-Zeit in Münster, vor und veranschaulichte seine Arbeit auch durch einige Photos. Der Erinnerungsstein aus Baumburger Sandstein, einem Stein der Region, wurde rau behauen und soll somit die Rauheit des Ortes symbolisieren. Die am Stein angebrachte Erinnerungstafel an die ZwangsarbeiterInnen ist aus Stahlguss. Es wurde mit Bedacht kein edleres Material wie Bronze verwendet, denn auch das Lager war kein edler, sondern ein bitterer Ort. Bodo Treichler erläuterte, dass er die Erinnerungstafel ganz bewusst nicht in Augenhöhe der BetrachterInnen anbrachte, sondern an einer tieferen Stelle, so dass vor dem Lesen ein Verneigen unumgänglich ist. Die LeserInnen der Gedenktafel verneigen sich somit symbolisch vor dem Ort der Sklavenarbeit und der an diesem Ort zerstörten Lebensläufe.

Im Gegensatz zum Mülheimer Gräberfeld der ZwangsarbeiterInnen auf dem Alten Friedhof gibt es in Hiltrup drei Hinweisschilder, auf denen die ZwangsarbeiterInnen auch als solche erwähnt werden. Auf die Standorte dieser Hinweisschilder und den Ort des Lagers selbst verweisen die Tafeln am steinernen Erinnerungsensemble von Bodo Treichler. Vorbildlich gegenüber dem völlig unzureichenden Schild am Mülheimer Gräberfeld der ZwangsarbeiterInnen ist insbesondere eine Übersetzung des Erinnerungstextes in die Sprachen Russisch, Niederländisch und Englisch. In Mülheim fehlen außer dem Wort „ZwangsarbeiterInnen“ generell ein erläuternder Text sowie nicht zuletzt ein Ausdruck des Bedauerns. Hier besteht demnächst Handlungsbedarf.

Der Bildhauer Bodo Treichler erläuterte, dass er sich als Künstler der Nachkriegsgeneration verstehe, der selbst noch genügend Erfahrung mit der Tätergeneration gemacht habe, mit dem Schweigen in den Familien und mit Lokalverboten für langhaarige Jugendliche, neuerdings aber auch mit der Tatsache, dass in der Bundesrepublik „die Freiheit“ wieder am Kosovo oder in Afghanistan „verteidigt“ wurde. Nicht zuletzt soll das steinerne Erinnerungsensemble in Hiltrup die Bereitschaft auslösen, sich weiter zu informieren und den Wunsch zu erzeugen, im Sinne des Schwurs von Buchenwald zu handeln: „Nie wieder Krieg – Nie wieder Faschismus“. Die tiefe persönliche Beteiligung und die langjährige Beschäftigung mit dem Thema war Bodo Treichler an jedem seiner Worte anzumerken – ein derart kenntnisreiches sowie höchst individuelles Eingehen auf die zahlreichen Fragen des Publikums ist nur aufgrund sehr fundierter Kenntnisse möglich. So war die anschließende Akklamation durch die Anwesenden auch enorm.

Nach mehreren Liedern der Gruppe „Die Taubenvergifter“ und vor dem auch nicht gerade schlechten Mittagessen referierte Liza Mikosch zum Thema „Ästhetische Bildung gegen Fremdenfeindlichkeit“. Zum Stand der Dinge stellte sie fest, dass fremdenfeindliche Einstellungen insbesondere in den letzten Jahren verstärkt aufgetreten seien und dass Ausländerfeindlichkeit in erhöhtem Ausmaß bei den Unter-Dreißigjährigen existiere. Nach einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung können sich ca. 15 Prozent aller Befragten „voll und ganz“ mit Aussagen identifizieren, wie z. B. „die Ausländer kommen nur hierher, um unseren Sozialstaat auszunutzen“ oder „die BRD ist in einem gefährlichen Maß überfremdet“. Fremdenfeindlicher Hass werde u. a. durch Angst vor Veränderungen ausgelöst und unter Zuhilfenahme diffuser Begriffe wie „deutsche Werte“, „deutsche Identität“ oder „deutsche Moral“ quasi „begründet“. Diese Angst vor Veränderungen könne mit einiger Wahrscheinlichkeit aus der Tatsache rekurrieren, dass insbesondere Jugendlichen gerade im letzten Jahrzehnt viele Zukunftsperspektiven genommen wurden – so sei z. B. ein sicherer Job durch Fleiß nicht mehr garantiert, befristete Arbeitsverträge, unbezahlte Praktika sowie Niedriglohn seien an der Tagesordnung und das Bewußtsein einer Vergeblichkeit des eigenen Tuns sowie des „Nichtgebrauchtwerdens“ entstehe auch gegenwärtig in immer stärkerem Ausmaß.

Die Statistiken belegten, dass mittlerweile jede/r fünfte Jugendliche als arm zu bezeichnen sei, dass die Armutsquote bei 18- bis 24-Jährigen 21 Prozent betrüge und dass es knapp 800.000 Hartz IV-BezieherInnen im Alter von 15 bis 25 Jahren gebe. Die „Armutsrisikoquote“ sei von 1998 bis 2008 belegbar um zehn Prozent gestiegen und gleichermaßen könne eine gestiegene Erwartung der bundesdeutschen Gesellschaft an die Jugendlichen verzeichnet werden, die einen enormen Druck auf die Persönlichkeitsentwicklung bedeute. Hierzu zählten etwa erhöhte Anforderungen an die Flexibilität, an die Mobilität und an die Anpassungsfähigkeit – bei gleichzeitigem Fehlen von sozialen Wertevorgaben, von Unterstützung seitens der Gesellschaft und von einer grundlegenden Sicherheit bei der Entwicklung einer individuellen Persönlichkeit.

In diesem Kontext stellt die Referentin Liza Mikosch die Bedürfnispyramide nach Abraham Harold Maslow (1908 – 1970) vor: Zu den menschlichen Grundbedürfnissen zählen Essen, Trinken und Schlafen. Sind diese gewährleistet, so treten Sicherheitsbedürfnisse wie Wohnen und Arbeit auf. Nachdem auch diese gesichert sind, wird nach Erfüllung der sozialen Bedürfnisse wie Freundschaft, Liebe und Gruppenzugehörigkeit gefragt. Wenn auch diese berücksichtigt wurden, entstehen ICH-Bedürfnisse nach Anerkennung und Geltung. Dann erst, nach Sicherung aller dieser Bedürfnisse, kann es zur eigentlichen Selbstverwirklichung kommen. Nun sind aber sowohl das Verwirklichen der Sicherheitsbedürfnisse, als auch dasjenige der sozialen Bedürfnisse und ebenfalls das der ICH-Bedürfnisse in der gegenwärtigen gesellschaftlichen Entwicklung zumindest mit einem großen Fragezeichen versehen. Stattdessen bedeutet die neoliberale Ausrichtung der Gesellschaft mit sinkenden Chancen auf dem Arbeitsmarkt für die Jugendlichen Unsicherheit, Überforderung, Ängste und Orientierungslosigkeit. Und an dieser Stelle greifen neofaschistische Organisationen ein, indem sie scheinbare Identifikationsmöglichkeiten und simuliertes Gruppengefühl anbieten. Die mangelnde Sicherheit für viele Jugendliche, Ängste, fehlende Zukunftsperspektiven und die Unmöglichkeit zur Selbstverwirklichung werden ursächlich für fremdenfeindliche Einstellungen. Während die „Fremden“ anscheinend das nehmen, was man noch hat – wie es auch in vielen Medien suggeriert wird -, bieten die Neonazis eine scheinbare Orientierungsmöglichkeit und ein dargestelltes Identifikationspotential.

Der fehlenden Selbstverwirklichung, verursacht durch den Entzug der hierzu notwendigen gesellschaftlichen Möglichkeiten sowie der finanziellen Mittel, stellt die Referentin als Gegenmodell quasi eine Selbstemanzipation entgegen, die sich gerade aus dem Widerstand gegen das gesellschaftliche Entziehen der eigentlich selbstverständlichen und notwendigen Bedürfniserfüllungen ergibt – sie plädiert für die Teilnahme an Demos und sie beschreibt Demos als ästhetische Erlebnisse. Diese Auffassung wird von quasi allen Anwesenden geteilt. Hier sind wir wieder beim Titel des Referats „Ästhetische Bildung gegen Fremdenfeindlichkeit“ und beim eigentlichen „Knackpunkt“: Ästhetik wird hier nicht nur als sinnliche Wahrnehmung von „Schönheit“ verstanden, sondern auch als Offenheit und Faszination für kulturelle Vielfalt, als Verständnis für verschiedene kulturelle Traditionen und nicht zuletzt als Manifestation einer selbständigen eigenen Identität durch Selbst- und Fremdwahrnehmung. Ästhetik bestehe nicht nur aus der Rezeption durch die Sinne, sondern auch aus der intellektuellen Verarbeitung des Wahrgenommenen, nicht nur aus Teilhabe am Geschehen und dem kommunikativen Austausch, sondern auch und gerade aus der eigenen Reflexion. Letzteres sei dann auch das genaue Gegenteil zu den scheinbaren Identifikationsangeboten der Neonazis und die angemessene Grundlage für den Widerstand gegen den Entzug von Raum, Zeit, (finanziellen) Mitteln und jeglicher Unterstützung für die Jugendlichen durch die neoliberale Gegenwartsgesellschaft.

So schließt das Referat dann auch mit einem Aufruf zum Bilden von Bündnissen, zur Beteiligung an Demos und zur aktiven Mitgestaltung einer wirklichen Gesellschaft – zur ästhetischen Verinnerlichung äußerer Einflüsse und zur Veräußerlichung innerer Gefühle und Gedanken. Das führe letztendlich zu einer Identitätsbildung, deren Vielfältigkeit durch einseitige Parolen nicht mehr zu beeinflussen ist. Auch das Referat selbst zeichnete sich durch verschiedene Perspektiven auf das Thema „Fremdenfeindlichkeit“ aus, deren Verknüpfungen so interessant waren, dass man noch lange weiter über die verschiedenen Aspekte und deren Kontext nachdachte.

Es gab in Wuppertal auch zahlreiche kleinere Beiträge zu verschiedenen Themen, für deren komplette Darstellung hier aber der Platz nicht ausreicht. Daher nur noch die kurzen Hinweise, dass am Gründonnerstag am Mahnmal Bittermark in Dortmund eine größere Veranstaltung der VVN geplant ist und dass im April durch die Kreisvereinigung Duisburg eine umfangreichere Aktion gegen das Kriegerdenkmal am Kaiserberg stattfinden soll. Als Resumée zur Wuppertaler erweiterten Landesausschuss-Sitzung unter dem Titel „Kunst im antifaschistischen Kampf“ kann man nur feststellen, dass es sich um eine Veranstaltung auf sehr hohem Niveau handelte, dass man aber bei zukünftigen ähnlichen – und sehr wünschenswerten – Veranstaltungen eventuell etwas weniger zögerlich in einem viel größeren Umfeld einladen sollte. Es handelte sich mit Sicherheit um eine der inhaltlich anspruchsvollsten Veranstaltungen, die ich in den letzten Jahren besucht habe. Und die musikalische Begleitung durch die Gruppe „Die Taubenvergifter“ war auch genial – sehr beeindruckend, in wie vielen Dialekten Helmut Manz singen kann!

Andreas Marquardt / Mit Unterstützung eines Artikels der VVN-BdA Münster über Bodo Treichler und der PowerPoint-Präsentation „Ästhetische Bildung gegen Fremdenfeindlichkeit“ von Liza Mikosch