13.11.2014 November 1918, November 1923, November 1938, November 1989 Rede
bei der 7. Gevelsberger Aktionswoche "Für Zivilcourage - gegen
rechte Gewalt" am 9. November am Mahnmal auf dem Rathausvorplatz.
Eingeladen hatten die örtliche IG Metall und die VVN-BdA. Redner
war Ulrich Sander (VVN-BdA Bundessprecher) Verehrte Anwesende, liebe Freundinnen und Freunde, Ich
hatte einen älteren Freund, der einer jungen Widerstandsgruppe
angehörte und der dafür 1942 ins KZ kam. Er berichtete mir in
einem Interview über den Impuls für seinen Widerstand:
„Als der 9. November 1938 war und ich zur Arbeit ging und ich
diese Trümmerhaufen sah vor den Schaufenstern jüdischer
Läden, die herausgeworfene Kleidung – ich war entsetzt. Ich
konnte einfach nicht glauben, was ich sah. Es sah so aus, als ob ein
Krieg angefangenen hätte. Und da wir nun bei vielen jüdischen
Bürgern zu der Zeit zu arbeiten hatten, ich als Malerlehrling,
kann ich nur sagen, das waren alles ehrenwerte Menschen. Ich konnte das
einfach nicht fassen. Da wurde mir klar, mit der Regierung kann es
nicht gut gehen. Es ist unmöglich, daß Menschen andere
Menschen so behandeln.“ Dabei hatte Karl-Heinz Schnibbe noch gar
nicht das ganze Verbrechen auch nur ansatzweise erkannt. Nicht die
Ermordeten gesehen und die Tausenden ins KZ abgeführten. Ich
danke für die Gelegenheit, hier bei der traditionellen
Gedenkveranstaltung sprechen zu dürfen. Und ich gratuliere zu der
hiesigen Aufklärungswoche über Krieg und Faschismus. So
etwas hat es in meiner Jugend nicht gegeben. An Tagen wie diesen
erinnere ich mich auch immer an einen Tag vor 67 Jahren. Am 1. April
1947 kam ich zur Schule. Es war die Schule am Bullenhuser Damm in
Hamburg. Es wurde gemunkelt, hier im Keller hätten die Nazis kurz
vor Kriegsende 20 jüdische Kinder ermordet. Es dauerte 30 Jahre,
bis die Lehrer diese Tatsache nicht mehr leugneten. Der Arnold
Strippel, der Kommandeur der Mordaktion, wurde nie dafür bestraft.
Er wurde er freigesprochen und bekam für die Untersuchungshaft
noch Entschädigung. Leider haben auch viele weitere unzählige
Schuldige ihre verdiente Strafe nicht erhalten. Wir erinnern an
die Reichspogromnacht vor genau 76 Jahren. Gestatten Sie mir, auch an
die anderen Jahrestage zum 9. November aus dem vorigen Jahrhundert zu
erinnern. So an den 9. November 1918 und die Proklamation der
deutschen Republik. Erkämpft wurde sie von revolutionären
Arbeiterinnen und Arbeitern sowie Soldaten. Regierungschef wurde
Friedrich Ebert, der sich schon bald danach mit den monarchistischen
Generälen verbünden sollte. Erinnern wir an den 9.
November 1923, an dem Naziführer Hitler und Generalfeldmarschall
Ludendorff gegen die demokratische Republik putschten. Hitler hatte
sich der Unterstützung der reaktionären Monarchisten,
Militärs und Industriellen versichert. Sein Putsch schlug fehl,
aber er leitete die Konterrevolution ein, die vor 81 Jahren am 30.
Januar 1933 mit der Machtübertragung an die Nazis durch die
republikfeindlichen Kräfte endete. Auf dem Weg in den Krieg
und den Holocaust ist dann der 9. November 1938 ein besonders
grauenvolles Ereignis. Die antijüdische Politik und Praxis der
Jahre seit 1933 bis 1938 gipfelte zunächst în den
Nürnberger Rassengesetzen, die u.a. vom Ministerialbeamten und
späteren bundesdeutschen Kanzleramtschef Hans Globke mit
verfaßt wurden. Es kam zum Novemberpogrom, höhnend und
verniedlichend „Reichskristallnacht“ genannt. SA- und
SS-Trupps, zivil getarnt, sowie andere Nazis zerstörten am 9. und
10. November 1938 Tausende jüdische Geschäfte, Wohnungen und
Synagogen. Sie ermordeten Hunderte und kerkerten 30.000 jüdische
Menschen ein. Die Nazis drängten sie zur Auswanderung und Aufgabe
ihres Besitzes. Die Schäden des Pogroms wurden von der
„Reichsgruppe Versicherungen“ auf 50 Millionen Reichsmark
beziffert. Im Auftrag des Naziführers Hermann Görings wurde
den Juden zum „Schadensersatz“ eine Kontribution auferlegt,
die schließlich 1,2 Milliarden RM betrug. Dieses Geld wurde
in die Rüstung gesteckt. Der 9. November 1938 leitete ein Jahr
später über in den Krieg, der sich zum Vernichtungskrieg
steigern sollte. Sechs Millionen ermordete Juden, eine halbe Million
ermordete Sinti und Roma, 25 Millionen tote Sowjetbürger und viele
weitere Opfer sind zu beklagen. Der Novemberpogrom 1938 war also der Auftakt zum Krieg. Diesen
Krieg, diese – wie er es nannte - „große
Abrechnung mit den Juden“ kündigte auch Adolf Hitler ein
Vierteljahr später an. In seiner Reichstagsrede zum zehnten
Jahrestag seiner „Machtergreifung“ am 30. Januar 1939
drohte er mit der „Vernichtung“ der Juden in Europa, wenn
„sie“ den Krieg gegen Deutschland heraufbeschwören
würden. Heute erinnern viele Menschen auch an den 9.
November 1989. An diesem Tag fiel in Berlin die Mauer. Die Grenze, die
Europa teilte, sie fiel. Das wird zu recht heute gefeiert. Diese 9.
November 1989 brachte dann die Schaffung des neuen einheitlichen
Deutschlands. Was haben wir mit der Chance, die sich daraus ergab,
gemacht? Leider wurde auch Krieg und Rechtsentwicklung mit
deutscher Beteiligung seitdem wieder möglich, obwohl damals nur
noch Frieden versprochen wurde. Die Menschen riefen beim Mauerfall:
Wahnsinn, und sie meinten das als Ausruf des Glückes. Doch
jetzt sehen wir: Mit der Wende begann wirklicher Wahnsinn. Kriege mit
deutscher Mitwirkung wurden wieder möglich. Diese Tatsache kam in
unseren schlimmsten Alpträumen damals nicht vor. Besonders seit
dem letzten 9. November hat sich leider vieles zum Schlechten
verändert: Die Rechten und Nazis vieler Länder haben bei der
EU-Wahl große Stimmenzuwächse gehabt. Und mit Hilfe des
Westens kamen im Februar sogar Nazis in die Regierung der
Ukraine. An der Ukraine-Krise haben unsere deutschen Regierenden
mittels EU- und NATO-Aufrüstung und Einsetzung einer Kiewer
Regierung mit faschistischen Regierungsmitgliedern ihren
skandalösen Anteil. Um uns herum ist die Welt voller
Kriegsschauplätze. Und neue trennende Mauern werden errichtet. So
gegenüber Palästina, zwischen den USA und Mexiko, zwischen
Nordafrika und der Küste gegenüber Europa und nun auch wieder
eine Mauer zur Trennung Europas in der Ukraine. Anstelle der Berliner
Mauer haben wird nun die Frontex-Mauer, die das EU-Gebiet
umschließt und besonders im Mittelmeer zu tödlichen
Ausgrenzungen von Flüchtlingen führt. Leider ist unser
Land daran mit schuldig. Daran erinnerte gestern Michael Gorbatschow,
der die in Europa in den letzten 25 Jahren entstandene Lage als
Vorstufe zu einem neuen Kalten Krieg einordnete. Die Reden des
Bundespräsidenten, des Außenministers und der
Verteidigungsministerin, die es für
„verantwortungsvoll“ halten, wenn Deutschland immer mehr
Präsenz auf den Kriegsschauplätzen zeigt, sind alarmierend.
Wir wollen keinen neuen Krieg, keinen kalten und keinen heißen. Im
Innern unseres Landes ist ebenfalls vieles alarmierend. Wieder gibt es
in unserem Lande viele Opfer von rechtem Terror – aber auch von
behördlichem Handeln gegen Flüchtlinge. Wir gedenken daher
auch der vielen namenlosen Opfer – darunter der Sinti und Roma
– die bis heute oft der Abschiebung unterliegen, ferner der
Menschen, die in Lampedusa und spanischen wie griechischen Küsten
stranden. Neonazis schaffen es, gegen diese Menschen sogenannten
Volkszorn zu organisieren. Das ist zutiefst beschämend. Beschämend
auch das, was Nordrhein-Westfalen passierte. Obwohl hier ebenfalls die
Nazimörder des NSU Untaten begangen haben, wurden noch keine
Lehren etwa aus dem Mord von 2006 in Dortmund gezogen.
Nordrheinwestfälische Behörden verdächtigten die Familie
Kubasik, des Opfers, in rassistischer Manier. Hinweise auf den Terror
von Rechts wurden nicht beachtet. Hinweise auf die Kontakte des
Verfassungsschutzes und seiner V-Leute zu den Mördern wurden nicht
untersucht. Allerdings wurde nun endlich eine Untersuchungskommission
des Landtages wenigstens angekündigt. Bisher hatte man
Polizei, Justiz und Verfassungsschutz von jeder Mitverantwortung
freigesprochen. Ja man behielt sogar das V-Mann-Unwesen bei. Wofür
wir immer stritten, wird nun doch noch wahr: Jetzt werden neue
Verfahren gegen alte Täter auf der Rechten angestrengt. Das
beseitigt das alte Unrecht nicht. Vor allem werden immer noch nicht
jene belangt, die für Strafbefreiung und hohe Pensionen für
Nazis in all den Jahrzehnten sorgten. Sie schulten eine Generation von
Geheimdienstlern und Polizisten, das Ergebnis haben wir beim Umgang mit
dem NSU-Morden gesehen. In diesem Land wurde das Übel in der
Regel nur links gesehen, rechts durften alle Blume blühen. Und
deshalb ist es richtig, die Prozesse gegen Nazitäter auch heute zu
führen. In diesen Tagen werden Aktionswochen gegen den
Antisemitismus durchgeführt. Das ist gerade am heutigen Tag sehr
zu begrüßen. Diese Aktionen sind vielfach mit der
Solidarität mit Israel verbunden; - das versteht sich von selber.
Gestern erinnerte Daniel Barenboim, der jüdische Komponist und
Dirigent daran, daß es auf Dauer nur eine Zukunft für Israel
gibt, wenn seine Regierung zum echten Friedensschluß mit den
Palästinensern bereit ist. Barenboim forderte eine Rückkehr
Israels zur Politik des ermordeten israelischen Präsidenten und
Generals Jitzchak Rabin, der gesagt hatte, daß Israel Sicherheit
braucht, und diese Sicherheit gibt es nur „wenn wir Frieden mit
den Palästinensern schließen.“ (SZ 8.(9.11.14) Der
Schwur der Häftlinge von Buchenwald von 1945 für eine Welt
des Friedens und der Freiheit, für die Ausrottung des Nazismus mit
seiner Wurzel und der Artikel 139 GG über den Fortbestand der
antinazistischen Rechtssprechung von nach 1945, sie gelten weiter.
Lassen wir uns diese Grundgesetzbestimmung nicht rauben! Für
seine Anwendung wie für die des Artikels 26 GG, der Angriffskriege
verbietet, sowie des Asylrechts streiten wir weiter. Dafür
müssen immer neue Mitstreiter nachrücken. „Das sind wir
unseren gemordeten Kameraden und ihren Angehörigen
schuldig“, heißt es im Schwur der befreiten Häftlinge
von Buchenwald. Zu diesen Kameraden gehört auch der
russische jüdische Offizier Sascha Pechersky, der am 10.Oktober
1943 einen Aufstand im Vernichtungslager Sobibor anführte.
Hunderte hatten die Bewacher überwältigt und das Lager
verlassen, und Pechersky rief: „Es gibt keinen Weg zurück.
Ein schrecklicher Krieg zerstört die Welt und jeder
Häftling ist Teil dieses Kampfes, ob tot oder
lebendig.“ Im Gedenken auch an diese Häftlinge rufen
wir. Schluß mit dem Krieg, Nie Wieder! |