18.09.2014 Tag der Mahnung und Erinnerung am 14.09.2014 in Berlin Rede von Cornelia Kerth am Mahnmal für die ermordeten Sinti und Roma Europas „Mehr Geld für die Oma statt für Sinti und Roma“ – warum gab es da gegen keinen Aufschrei? Die Bundesvorsitzende der VVN-BdA führte aus: Hinter
uns steht eine viel größere Bühne, auf der die
Bundeskanzlerin heute Nachmittag zum Thema „Nie wieder Judenhass
in Deutschland“ sprechen wird. Der Grund dafür sind
antisemitische Äußerungen, die man in den vergangenen
Wochen auf deutschen Straßen hören und lesen konnte
und Anschläge auf jüdische Einrichtungen. Dass es deshalb
einen Aufschrei gibt, ist richtig und wichtig. Allerdings frage
ich mich, wo dieser Aufschrei blieb, als im vergangen Jahr in ganz
Deutschland, in jedem Winkel, die Plakate hingen, von denen Petra
Rosenberg vorhin gesprochen hat. (Sie sprach über NPD-Plakate mit
dem Slogan „Gas geben“.) Wo blieb die Intervention der
Politik, als sämtliche Anzeigen wegen Volksverhetzung, die von den
verschiedenen Vertretungen der Sinti und Roma flächendeckend
erstattet worden sind, von deutschen Gerichten zurückgewiesen
wurden, weil z. B. der Text „Mehr Geld für die Oma statt
für Sinti und Roma“ auch ein „Meinungsbeitrag“
zur Verteilung knapper öffentlicher Mittel sein könnte? Da gab es keinen Aufschrei und kein Wort von der Kanzlerin. Das ist ein Skandal! Als
das Mahnmal vor nun fast 2 Jahren eingeweiht wurde, dankte die
Bundeskanzlerin Romani Rose für seinen 20 Jahre währenden
Kampf um dieses Mahnmal. Das war schon eine besondere Qualität,
die langjährige Verweigerung und den hinhaltenden Widerstand
mehrerer Bundesregierungen schön zu reden. In den ersten
Jahren wurde darüber diskutiert, dass es keine verlässliche
Zahl für die Opfer dieses Völkermords gäbe.
Gewissermaßen wurden so die Überlebenden und Nachkommen
dafür verantwortlich gemacht, dass der Holocaust an den Sinti und
Roma bis heute nur mangelhaft erforscht wurde. Die letzten 5 Jahre
wurde eine Debatte darum geführt, ob nicht doch der Begriff
„Zigeuner“ auf den Tafeln des Mahnmals verwendet werden
sollte. Ich bin häufig bei Veranstaltungen und
Gesprächsrunden mit Sinti und Roma anwesend und es bleibt nie aus,
dass irgendein Bekloppter die Frage stellen muss, warum man denn nicht
mehr „Zigeuner“ sagen darf. Wenn dann die Antwort lautet,
dass Menschen, die dieses Wort nur als Schimpfwort kennen, es nicht
mehr hören wollen, kann es passieren, dass jemand seine Sorge
äußert, dass das Verschwinden dieses Wortes zur
„Verarmung der deutschen Sprache“ führe, er selbst
habe so viele romantische Kindheitserinnerungen, die damit verbunden
seien. In diesem Sinne stellt das Mahnmal auf keinen Fall
einen Endpunkt dar, sondern muss als Bezugspunkt für die weitere
Auseinandersetzung mit dem allgegenwärtigen Antiziganismus
begriffen werden. An dem Tag, an dem das Denkmal eingeweiht
wurde, hatte dort eine Gruppe junger Sinti und Roma Jutetaschen
umgehängt, auf denen geschrieben stand: „67 Jahre zu
spät“. (…) An den Verhältnissen, die die Deportation möglich gemacht hatten, hatte sich nichts geändert: - Die
1899 in München gegründete „Zigeunerzentrale“,
die 1939 nach Berlin verlegt und dort dem Reichssicherheitshauptamt
(RSHA) eingegliedert worden war, wurde 1946 nach der Zerschlagung der
faschistischen Institution wieder als „Zigeunerstelle“ nach
München zurück verlagert.
Bis 1970 wurden dort alle Sinti und Roma kriminaltechnisch erfasst. - Bereits
1948 wurde in Baden-Württemberg wieder ein „Leitfaden zur
Bekämpfung des Zigeuner-Unwesens“ erlassen.
- Noch
1956 urteilte der Bundesgerichtshof, die Verfolgung der Sinti und Roma
sei nicht rassistische begründet gewesen, sondern als
„kriminalpräventive Maßnahme“ zu betrachten.
Erst
1982 – nach einem Hungerstreik junger Sinti und Roma in Dachau
– erkannte der damalige Bundekanzler Helmut Schmidt an, dass es
einen Völkermord an den Sinti und Roma gegeben hatte. Da waren viele der Überlebenden schon gestorben. Wer
heute in Entschädigungsakten von Sinti und Roma recherchiert und
nicht völlig verroht ist, dem treten Tränen der Trauer und
der Scham in die Augen. Was Gutachter, Ämter und Gerichte in der
Bundesrepublik Deutschland den Überlebenden entgegenhielten, macht
fassungslos. Das geht weit über die Leugnung, Verdrängung und
Rechtfertigung hinaus, die die Verfolgten des Naziregimes ja auch aus
allen anderen Zusammenhängen kennen und ist der personellen
Kontinuität der dort Tätigen geschuldet: Wie der Leiter
der „Rassehygienischen Forschungsstelle“, Robert Ritter,
wurden viele ehemalige Mitarbeiter_innen des RSHA ebenso wie diejenigen
der Münchner „Zigeunerstelle“ als
“Experten“ für die
„Wiedergutmachungs“-Anträge von Sinti und Roma
tätig. Der über Jahrhunderte entwickelte und tradierte
Antiziganismus, der den Sinti und Roma an allen Ecken
entgegenschlägt, ist heute nicht weniger grausam als in den 1920er
oder 1950er Jahren. Statt ihm entgegenzutreten, statt Menschen, deren
unvorstellbarem Leid hier ein Denkmal gesetzt wurde, Schutz zu
gewähren, statt die Verantwortung wahrzunehmen, von der Frau
Merkel bei seiner Einweihung sprach, schüren deutsche Politiker
das Ressentiment des Stammtischs und - auch das muss gesagt werden: der
Salons – in Worten und Taten. An dem Tag, an dem das
Mahnmal eingeweiht wurde und die Bundeskanzlerin von Verantwortung
sprach, sprach der Innenminister Friedrich in die Mikrophone der
Bundespressekonferenz, dass Deutschland vor der Zuwanderung von
„Armutsflüchtlingen“ in seine Sozialsysteme
geschützt werden müsse. Er wolle dafür Sorge tragen,
dass die EU die Freizügigkeit für Menschen aus Bulgarien und
Rumänien wieder aufhebe. Man muss nicht „Roma“
sagen, damit alle wissen, dass Roma gemeint sind, vor denen der
deutsche Sozialstaat geschützt werden müsse. In den
Tagen, als hier das Mahnmal für die ermordeten Sinti und Roma
Europas eingeweiht wurde, wurden hunderte ihrer Nachkommen aus
Deutschland abgeschoben. Deutsche Politiker hatten von Anfang an
die Zerstörung der Bundesrepublik Jugoslawien und die Anerkennung
ihrer ethnisch konstruierten Nachfolgestaaten gefördert. Mit einem
unglaublich zynischen „Nie wieder Auschwitz“ haben deutsche
Bomben und deutsche „Schutztruppen“ dazu beigetragen sie zu
stabilisieren. Die ersten Opfer der neuen Staaten waren die Roma, die
überall vertrieben wurden. Kriegsflüchtlinge, die nach
Deutschland kamen, mussten z. T. länger als 20 Jahre mit einer
„Duldung“ leben, die je nach politischer Situation für
Tage, Wochen oder Monate, maximal für ein halbes Jahr
verlängert wurde. Ihr Aufenthalt war auf einen Ort
beschränkt, sie hatten nur eingeschränkt Zugang zu Bildung
und medizinischer Versorgung und nahezu keinen Zugang zu Arbeit und
Ausbildung. Und als Auswärtiges Amt und Innenministerium der
Meinung waren, nun sei in den ex-jugoslawischen Staaten
„Normalität“ eingekehrt, sollten sie in ihre
„Heimatländer“ zurückkehren, die es gar nicht
gab. Ihre Heimat war die Bundesrepublik Jugoslawien gewesen. Die
Situation, die die aus Deutschland Abgeschobenen in Serbien, Kroatien,
Montenegro erwartet, ist bekannt und vielfach dokumentiert. Als
an dem Tag, an dem das Mahnmal eingeweiht wurde und die Kanzlerin von
Verantwortung sprach, eine Gruppe junger Roma mit Schildern und Rufen
an die Abgeschobenen erinnerte, wurden sie vom Zeremonienmeister
zurechtgewiesen: das sei an diesem Tag kein Thema! Die Aufnahme
Serbiens, Bosniens und Mazedoniens in die Liste „sicherer
Herkunftsländer“ erlaubt nun ihre Abschiebung ohne
Prüfung ihres Falls – trotz bekannter Diskriminierung,
Ausgrenzung und ständiger Bedrohung. Das ist ein unerhörter Skandal! Verantwortung
wahrzunehmen, hieße im Fall der Flüchtlinge, sie so
aufzunehmen, wie man in den 1990er Jahren jüdische Nachkommen der
Holocaust-Opfer aus der zerfallenen Sowjetunion aufgenommen hat.
Dafür werden wir uns weiter einsetzen. Wir werden uns auch
weiter dafür einsetzen, dass endlich Schluss gemacht wird mit der
Diskriminierung und Stigmatisierung der Sinti und Roma in Deutschland; Wir
unterstützen Initiativen zur Anerkennung ihrer Kultur, ihrer
Sprache und ihrer Forderung nach gleichberechtigter Teilhabe an dieser
Gesellschaft, die eben auch ihre Gesellschaft ist. Und wir
unterstützen die Initiativen, die darauf zielen, dass
Volksverhetzung auch Volksverhetzung genannt wird, dass sie unterbunden
und die Partei, von der sie ausgeht, endlich verboten wird! |