08.09.2014 Afghanistan, Gaza, Irak, Jemen, Libyen, Mali, Nigeria, Pakistan, Somalia, Sudan, Südsudan, Syrien, Ukraine, Zentralafrika Lühr Henken, Berlin, Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag: Rede bei „Blumen für Stukenbrock“, 6.9.2014 Vielen
Dank für die Einladung. Ich wurde gebeten, etwas zu den aktuellen
Konflikten und Kriegen und der deutschen Beteiligung daran zu sagen.
Ich muss sagen, dabei bin ich an die Grenze zur Überforderung
gekommen, denn die Dramatik der Kriege hat sich in den letzten Monaten,
was sowohl die Quantität also auch die negative Qualität
anbetrifft, in unvergleichlichem Maße ausgedehnt. Ich liste
einmal nur die vernehmbarsten Kriege in alphabetischer Reihenfolge auf: Afghanistan, Gaza, Irak, Jemen, Libyen, Mali, Nigeria, Pakistan, Somalia, Sudan, Südsudan, Syrien, Ukraine, Zentralafrika. Da
musste ich mich beschränken. Ich wende mich zunächst den
Kriegen zu, die von USA und NATO im so genannten Krieg gegen den Terror
zu den größten Zerstörungen führten. Studien im
Auftrag der IPPNW zeigen, dass im Irakkrieg seit 2003 mindestens eine
Million Menschen direkt getötet wurden, für Afghanistan liegt
die Schätzung für alle Kriegstoten bei 180.000 bis 240.000
und für Pakistan, dessen Bürgerkrieg und der Drohnenkrieg der
USA direkte Folgen des Angriffs auf Afghanistan sind, bei 80.000. Der
NATO-Krieg in Libyen forderte etwa 50.000 Tote. Diese westlichen Kriege
haben die Lage in den betroffenen Ländern massiv verschlechtert.
Sie zerstörten die Infrastruktur, die Lebensgrundlagen und
zerrütteten die Gesellschaften. Nach dem Rückzug nahm die
Gewalt zu. Trotzdem setzt die NATO, inklusive die Bundesregierungen
seit 20 Jahren darauf, ihre Armeen fit für den weltweiten
Militärinterventionismus zu machen. Ich finde diesen Weg
grundfalsch. Ich lehne Auslandseinsätze der Bundeswehr strikt ab. Der
Hilferuf von UNICEF, dem Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen, ist
Ausdruck der außerordentlich prekären Lage. UNICEF steht in
seiner Geschichte vor einem Novum. Noch nie musste es vier
Nothilfe-Einsätze der höchsten Dringlichkeitsstufe
gleichzeitig bewältigen. Besonders dramatisch sei die Lage im
Irak, Südsudan, Syrien und Zentralafrika. Dabei ist noch nicht
einmal die extreme Situation der Kinder in Gaza berücksichtigt.
Ich möchte da nur eine Zahl nennen. Die UNO geht davon aus, dass
in Gaza jedes Kind nach dem 50-Tage-Krieg eine psychologische
Unterstützung braucht. Das sind über 400.000 Kinder! Ein
Psychologe zählt die Symptome der Kinder auf: „Unruhe,
Bettnässen, Albträume, Konzentrationsverlust,
Aggressivität, asoziales Verhalten und massives
Unsicherheitsgefühl.“ Das seien keine posttraumatischen
Belastungsstörungen. Das „Post“ gebe es nicht, denn
die Traumata des letzten Krieges in Gaza seien noch nicht verheilt,
wenn es wieder losgehe. Hier wird deutlich, dass der Krieg zwischen
Israel und den Palästinensern keine Probleme löst, sondern
sie von Krieg zu Krieg vergrößert. Die Gewalt ist irrsinnig.
Sie gebiert neuen, verzweifelten Hass und schafft neue Gewalt.
Radikalität und Kompromissunfähigkeit nehmen zu. Es ist
höchste Zeit endlich aus der Gewaltspirale auszusteigen! Bleibt es
nur bei einem Waffenstillstand und einer kontrollierten Aufhebung der
Blockade, ist der nächste Krieg programmiert. Denn nach diesem
Krieg herrscht dieselbe Situation, die zu diesem Krieg geführt
hat. Es ist Zeit für eine umfassende Nah-Ost-Friedenslösung,
die man nicht den USA allein überlassen kann. Alle
ungeklärten Fragen müssen unter dem Dach der UNO mit den
Beteiligten und ihren Schutzmächten in der Region und
außerhalb verhandelt werden. Im Rahmen einer solchen Konferenz
müssen auch die Massenvernichtungswaffen in der Region
thematisiert werden. Die Lippenbekenntnisse der Bundesregierung
für eine Zwei-Staatenlösung sind unzureichend. Sie muss hier
endlich diplomatische Verantwortung übernehmen und handeln. Im Folgenden will ich mich auf nur zwei Konfliktfelder beschränken: den Nord-Irak und die Ukraine. Deutschland
ist der größte Waffenexporteur der EU und der
drittgrößte weltweit im Zeitraum 2009 bis 2013. Insbesondere
der Waffenexport in Länder außerhalb von EU und NATO
trägt zu dieser traurigen Spitzenstellung bei, denn er hat sich in
den letzten 10 Jahren unter Merkel verdreifacht. Dies im Widerspruch zu
den Richtlinien, wonach in diese Ländergruppe nur
„restriktiv“ exportiert werden soll.
Rüstungsgüter gehen in 136 Länder, Spannungsgebiete
eingeschlossen. Am vergangenen Wochenende beschloss die Regierung
erstmals, in einem akuten Krieg Waffen an eine Konfliktpartei zu
liefern – als Nothilfe für die kurdischen Peschmerga
deklariert, damit diese sich gegen Angriffe des grausam vorgehenden
„Islamischen Staat“ (IS) verteidigen können. Ein
Tabubruch! Diese deutschen Waffenlieferungen, ihr Wert beträgt 70
Millionen Euro, sind kein Pappenstiel. Mit 24.000 Sturmgewehren
und Pistolen sowie acht Millionen Schuss Munition und 4.000
Anti-Panzer-Raketen sollen vier kurdische Großverbände von
jeweils 4.000 Mann ausgerüstet werden. Damit wird die mit Abstand
größte Armee der Kurden weiter aufgerüstet. Dabei hatte
das 100.000 Mann-Heer der Peschmerga die flüchtenden Jesiden und
Christen gar nicht verteidigt, sondern im Stich gelassen. Und das nicht
etwa, weil sie nicht über geeignete Waffen verfügten, denn
sie haben sogar Kampfpanzer. Das wirft gravierende Fragen auf. Werden
die Waffen tatsächlich nur zur Verteidigung eingesetzt, wie
angeblich verabredet, oder dienen sie in Kombination mit schweren
Waffen dazu, den Kurden des Nord-Irak die angestrebte staatliche
Unabhängigkeit zu sichern? Das wäre allerdings katastrophal.
Zum einen wäre es völkerrechtswidrig und zum anderen
würde es den Irak in drei Teile teilen: In einen kurdischen
Norden, einen schiitischen Süden und eine sunnitische Mitte. In
dieser Mitte würde Bagdad mit seiner schiitischen Mehrheit liegen.
Die Gewalt würde sich noch verstärken. Eine weitere
Frage: Was ist mit dem Endverbleib der Waffen? Wo Waffen letztlich
bleiben, kann kaum kontrolliert werden, schon gar nicht im Waffenbasar
Nahost. Erinnern wir uns daran, dass im Irak seit sieben Jahren 110.000
Gewehre und 80.000 Pistolen vermisst werden, die von den USA geliefert
wurden. Eine Mehrheit der deutschen Bevölkerung lehnt
Waffenexporte ab. Auch diese in den Nord-Irak. Ich frage: Wann nehmen
Regierung und Bundestag endlich wahr, dass sie dem Volk zu dienen haben? Wäre
es nicht viel wichtiger, dafür zu sorgen, dass der immense
grenzüberschreitende Warenhandel der IS insbesondere mit der
Türkei unterbunden wird? Und dass der Zulauf von Dschihadisten zum
IS aus der Türkei verhindert wird? Wie kann es angehen, dass die
Sponsoren der IS in Saudi-Arabien, Kuwait und Katar weiter mit
gewaltigen Waffenexporten aus Deutschland rechnen können? Der
Konflikt im Irak kann nicht mit Waffengewalt gelöst werden,
sondern nur durch Verhandlungen. Hier muss der Tatsache Rechnung
getragen werden, dass die Kurden und Schiiten es schlicht und
ergreifend mit einem Aufstand der Sunniten im Irak zu tun haben. 2003
wurde als Folge des völkerrechtswidrigen Krieges der USA und
seiner Koalition der Kriegswilligen die herrschende Baath-Partei mit
ihrer gesamten Armee aufgelöst und von der politischen Teilnahme
ausgeschlossen. Die USA unterstützten die Herrschaft des Schiiten
al-Maliki, die die Marginalisierung der Sunniten brutal fortsetzte. Nun
hat sich ein sunnitisches Bündnis von sich barbarisch
gebärdenden Islamisten, ehemaligen Offizieren Husseins und
sunnitischen Stämmen erhoben. In diesem Bündnis im Irak
stellt der IS eine zahlenmäßige Minderheit. Weniger als 20
Prozent der etwa 60.000 Kämpfer zählen zum IS. Das
sunnitische Bündnis ist instabil, denn säkulare Sunniten
haben kein Interesse an einem totalitären Kalifat. Ich denke, es
kommt politisch darauf an, Stämme und Baathisten gleichberechtigt
in den politischen Prozess des Irak einzubeziehen. Damit wäre das
sunnitische Bündnis gesprengt und der IS isoliert. Waffen an
kurdische Separatisten zu liefern ist in jedem Fall der falsche Weg.
Ich fordere die Regierung auf, die Entscheidung rückgängig zu
machen. Stoppt den Waffenexport! Der Krieg in der Ostukraine ist
eskaliert. Er hat bereits 3.000 Tote gefordert und eine Million
Menschen in die Flucht getrieben. Wenngleich seit Freitagnachmittag
eine Waffenruhe herrscht, überwiegt Skepsis, ob sie hält. Der
Konflikt ist seit Ende des Kalten Krieges der gefährlichste in
Europa. Mit Russland und den USA treffen atomare Großmächte
aufeinander. Eine militärische Lösung kann und darf es nicht
geben. Dieser Konflikt muss politisch gelöst werden. Wenn nicht,
möchte ich mir die Konsequenzen nicht ausmalen. Lösen,
aber wie? Die Kontroverse beginnt bei der Ursachenanalyse.
Holzschnittartig herrscht im Westen folgende Lesart vor: Putin ist
schuld. Er will die Revision der Niederlage im Kalten Krieg.
Also, zurück zur Stärke der Sowjetunion. Die Krim war
der erste Streich, die Ukraine soll der zweite sein. Balten und Polen
leben in Furcht vor dem russischen Bären. Wo ist Schluss mit der
russischen Aggression? Wenn diese Analyse stimmt, dann ist folgerichtig
gedacht, muss der Westen den unterstellten russischen Vormarsch zum
Stoppen bringt. Sein Rezept: Sanktionen, NATO-Truppen an die russischen
Grenzen verlegen, Militärmanöver durchführen,
Rüstungshaushalte hochfahren, Beistandsversprechen festigen,
superschnelle Eingreiftruppe aufbauen, Hauptquartier in Polen ausbauen,
ukrainische Armee umfassend stärken. Die Frage ist: Befördert
dieser Konfrontationskurs russisches Einlenken? Eher nicht. Russland
ist mit dieser Art der Konfliktlösung nicht einverstanden. Es
droht Gegenmaßnahmen an. Man liest, eine Änderung der
Militärdoktrin soll den Ersteinsatz taktischer Nuklearwaffen
ermöglichen. Damit finden wir uns alle in der sattsam bekannten
Situation des Wettrüstens wieder. Was ist gut daran? Wo wird das
enden? Ich teile die im Westen vorherrschende Analyse nicht. Ich
sehe Russland in der Defensive. Das hat 1945 damit begonnen, dass die
USA eine atomare Aufrüstung begann, die das Ziel Sowjetunion
hatte. Diese Aufrüstung bedrohte die Sowjetunion 45 Jahre lang in
seiner Existenz und den ganzen Planeten gleich mit. Nach dem Sieg der
NATO im Kalten Krieg wurde die angedachte Partnerschaft mit Russland
durch die Osterweiterungen zuerst der NATO, dann der EU, konterkariert.
Die USA kündigten das Abkommen über Raketenabwehr mit
Russland und wollen Raketen in die Nähe der russischen Grenze
aufstellen. Russland fühlt sich nach den jahrzehntelangen
schlechten Erfahrungen mit der NATO bedroht und lehnt diese westlichen
Maßnahmen ab. Eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine verletzt die
strategischen Kerninteressen Russlands. Russland baut dagegen
Widerstand auf. Die Einnahme der Krim und der Aufstand im Donbass sind
keine Elemente einer strategisch angelegten russischen
Großmachtpolitik, sondern lediglich eine Reaktion auf den Putsch
prowestlicher Neoliberaler und einer faschistisch durchwirkten
Regierung in Kiew, die eine Westintegration in EU und NATO anstrebt.
Käme das durch, würde die Ukraine ihre Funktion als Puffer
zwischen Russland und NATO verlieren. Wenn diese Analyse richtig
ist, muss die Konfliktlösung darin bestehen, der souveränen
Ukraine dauerhaft einen neutralen Status zu geben. Folglich
verschärfen aktuelle Bestrebungen, die Blockfreiheit des Landes
wieder aus der Verfassung zu streichen, den Konflikt. Deutschland und
Frankreich haben 2008 maßgeblich verhindert, dass die Ukraine in
die NATO aufgenommen wird. Ich fordere die Bundesregierung auf, sich
für die Festschreibung der ukrainischen Neutralität
einzusetzen. Darüber hinaus bedarf es politischer
Vereinbarungen, damit die Beziehungen in Europa nachhaltig stabil
werden. Die NATO-Russland-Akte ist unzureichend. Im konventionellen
Bereich herrscht ein vertragsloser Zustand. Da der KSE-Vertrag
gekündigt ist, sind nationale Obergrenzen für Soldaten,
Panzer, Artillerie, Kampfflugzeuge und Kampfhelikopter zwischen dem
Atlantik und dem Ural aufgehoben. Ich plädiere dafür,
unverzüglich mit Rüstungskontroll- und
Abrüstungsverhandlungen zu beginnen, die an den guten Erfahrungen
mit dem KSE-Abrüstungsvertrag anknüpfen. Das heißt:
niedrige Obergrenzen bei schweren Waffen des Heeres und der Luftwaffe
sowie Raketen und Marinen. Flankenregelungen, die Obergrenzen in
grenznahen Regionen festlegen, tragen zusätzlich zur
Stabilität bei. Ich frage: Ist es nicht endlich an der Zeit, 25
Jahre nach Ende des Kalten Krieges, damit zu beginnen, das
„gemeinsame Haus Europa“ mit Leben zu erfüllen,
wegzukommen von der Konfrontation hin zur Gestaltung der Gemeinsamen
Sicherheit? Bietet die Krise nicht eine Chance, um die
Atomwaffenarsenale aus Europa fortzuschaffen, die Raketenabwehr und die
Osterweiterungsabsichten der NATO aufzugeben? Wenn nicht jetzt, wann
dann? Liebe Freundinnen und Freunde, Bundespräsident
und Regierung schicken sich an, die Zustimmung der Bevölkerung
für weltweite Bundeswehreinsätze zu gewinnen. Noch in dieser
Legislaturperiode kommt das vor 20 Jahren begonnene
Aufrüstungsprogramm, das 100 Milliarden Euro verschlang, und die
Bundeswehr weltweit angriffsfähig machen soll, zum Abschluss. In
zwei bis drei Jahren wird es erstmals möglich sein, mit einer
Flotte von 40 Military-Airbussen 11.000 High-Tech-Infanteristen, samt
neuen Schützenpanzern, Kampf- und Transporthubschraubern in jede
Kampfzone der Welt zu befördern. Mit Korvetten und Fregatten wird
Landbeschuss aus Hunderten Kilometern Entfernung möglich und 600
Marschflugkörper können, von Eurofightern gestartet, noch
nach 500 km Flug vier Meter Beton durchschlagen. Optimiert werden
sollen die Auslandseinsätze erstmals durch Kampfdrohnen. Als
Begründung dafür wird der unmittelbar notwendige Schutz von
Soldaten angegeben. Aber das ist nur eine Teilwahrheit. Darüber
hinaus sind schon jetzt Einsatzszenarien mit Kampfdrohnen angedacht zur
Durchsetzung von Flugverbotszonen, Sicherung von erobertem Territorium
sowie von Gefechtsfeldeinsätzen in der Stadt und auf See.
Kampfdrohnen revolutionieren die Kriegführung. Sie sollen
Kampfflugzeuge und Kampfhelikopter ersetzen. Die Forschungsabteilung
des US-Pentagons empfiehlt, jedes Kriegsschiff der USA mit Kampfdrohnen
auszustatten, die 900 Meilen weit fliegen. Warum 900 Meilen? Weil man
herausgefunden hat, dass 98 Prozent aller Menschen 900 Meilen entfernt
von einer Küste leben und somit von Kampfdrohnen bekämpfbar
wären. Davon abgesehen warnen Experten vor der Einführung von
Kampfdrohnen, weil damit der Weg in die Autonomisierung beschritten
wird, der den Menschen schrittweise aus dem Prozess heraus drängt.
Am Ende der Entwicklung fällt die Killerdrohne selbständig
die Entscheidung zum Waffeneinsatz. Eine Pentagon-Langzeitstudie strebt
genau diese Autonomisierung der Kampfdrohnen an. Je eher dieser
Irrweg verlassen wird, desto besser. Deshalb zum Abschluss, noch einmal
die Bitte: Unterstützt die bundesweite Unterschriftensammlung
„Kampfdrohnen ächten“ und nutzt den Global Action Day
gegen Kampf-und Überwachungsdrohnen am 4. Oktober für eine
Aktion vor Ort. Vielen Dank. |