08.04.2014 Eine ganze Zeitungsseite über die Kinder des Widerstandes Das späte Bekenntnis zum roten Großvater "Neues Deutschland" veröffentlichte am Samstag 04.04.2014 eine
ganze Seite über den Konflikt von Kindern und Enkeln von
Kommunisten in Westdeutschland, die sich erst spät mit dem
Schicksal ihrer widerständigen Vorfahren befassten und deren
Ansehen nun in einer Umwelt verteidigen, die den Kalten Krieg nicht
überwunden hat. Barbara Simoleit bemerkt: "Gerade in den letzten
Wochen, in denen deutsche Politiker 'Härte gegen Russland'
fordern, wünsche sie sich hierzulande mehr
Geschichtsbewußtsein. Für Senioren gibt es bei uns in
Wuppertal nicht gerade wenig Angebote - Sport, Ausflüge,
Kaffeetrinken. Ich fände es gut, wenn sich ältere Leute auch
noch mit anderem beschäftigen würden. Politische Angebote
sucht man vergebens." Großvater war Kommunist Was die Wuppertalerin Barbara Simoleit lange Zeit nicht jedem erzählte Von Christina Matte Barbara Simoleit mit einem Foto ihrer Mutter Hildegard und ihrem Großvater Albert Lange. Foto: Ulli Winkler Wie
gehen Kinder und Enkel von Nazigrößen mit der Schuld ihrer
Eltern oder Großeltern um? Sie sind in den vergangenen Jahren
gern dazu befragt worden oder haben sich selbst zu Wort gemeldet. Vom
Hass auf die Erzeuger über das Leugnen von Schuld bis zur
Beschwörung «lieber» Väter waren jede
Geisteshaltung und psychische Gestimmtheit vertreten. Interessanter ist
freilich die Frage, wie die bundesdeutsche Gesellschaft mit jenen
Offenbarungen umgeht. Erstaunlich leidenschaftslos, wenn man vom
Phänomen «Hitler sells» und dem ihm innewohnenden
Voyeurismus absieht. Weit weniger interessiert zeigt sich die
republikanische Öffentlichkeit an den Kindern und Enkeln von
Kommunisten. Wie gehen die mit dem Schicksal ihrer Eltern und
Großeltern um? Und wie ist das gesellschaftliche Feedback?
Barbara Simoleit sagt: «Dass meine Eltern und Großeltern
Kommunisten waren, wissen nur Freunde, Verwandte und enge Bekannte. Ich
erzähle es nicht jedem.» Barbara Simoleit hat dafür
Gründe. Dass sie es nun via «nd» dennoch quasi jedem
erzählt, liegt daran, dass sie vor gut zwei Jahren auf die
Arbeitsgruppe «Kinder des Widerstands» der VVN-BdA in
Nordrhein-Westfalen stieß, sich dort mit ihrer Geschichte gut
aufgehoben fühlt und helfen will, die Gruppe bekannter zu machen.
Gegründet wurde jene Gruppe im Jahr 2011 von vier Frauen, allesamt
Töchter von Widerstandskämpfern und -kämpferinnen: Alice
Czyborra, geborene Gingold; Traute Sander, geborene Burmester; Inge
Trambowsky, geborene Kutz; und Klara Tuchscherer, geborene Schabrod.
Ihr Anliegen ist es nach eigenen Worten, dem antifaschistischen Kampf
ein Gesicht zu geben, zu zeigen, was Widerstand, Verfolgung,
Inhaftierung, Folter und Terror für den Einzelnen und dessen
Familien bedeuten. Vor und nach 1945. Was ist die Geschichte der
Barbara Simoleit? Seit dem Tod ihrer Mutter Hildegard 2010 fängt
sie an, es genauer herauszufinden. Denn im Nachlass befanden sich
Briefe von und an ihren Großvater Albert Lange, den sie, die 1956
Geborene, selbst nicht mehr kennenlernen durfte. Für diese Briefe
trug sie nun plötzlich die Verantwortung, sie begann, sich zu
vertiefen - und wurde zunehmend neugieriger. Was wusste sie eigentlich
über den Großvater? Ja, Erzählungen über ihn, die
hatte sie oft gehört, die machten in der Familie die Runde. Zum
Beispiel, wie er mit seinem Schwager von einer Motorradtour heimgekehrt
und kühn durch die Einfahrt gebrettert war - «Albert»
sei schon auf dem Hof gewesen, als der Beiwagen noch vor dem Tor stand.
Ein Haudegen? «Er war eine Respektsperson in der Familie»,
erinnert sich Barbara Simoleit. «Alle sprachen gut von
ihm.» Aber warum? Barbara Simoleit versucht, Ordnung in
ihre Erinnerungen zu bringen. Da ist ein 1952 mit der Schreibmaschine
getippter Lebenslauf ihres Großvaters, zumindest Daten kann ihm
Barbara Simoleit entnehmen: Jahrgang 1901, Besuch der Volksschule.
Schon nach der Entlassung aus der Schule Eintritt in die sozialistische
Arbeiterbewegung. Zunächst Hilfs-, dann Bergarbeiter. 1917
USPD-Mitglied und Mitbegründer der Sozialistischen
Proletarierjugend. Während des Kapp-Putsches 1920 in den Reihen
der kämpfenden Ruhrarbeiter. KPD-Mitglied seit der Verschmelzung
von USPD und KPD. In Wuppertal Lokalredakteur der «Roten
Tribüne». Berufung zum Agitprop-Sekretär ins
Sekretariat der KPD-Bezirksleitung. Berlin-Brandenburg. Politischer
Redakteur der «Roten Fahne, dem KPD-Zentralorgan. Festnahme im
Oktober 1933, Vernehmungen in der Gestapo-Zentrale in der Berliner
Prinz-Albrecht-Straße, 1934 Verurteilung zu zweieinhalb Jahren.
Haft im Zuchthaus Brandenburg-Görden. Anfang 1943 Strafbataillon
999, bis zum Kriegsende stationiert auf der Insel Rhodos. 1945
Kriegsgefangenschaft und Verschickung nach Ägypten, weiterhin
antifaschistische Arbeit. Im September desselben Jahres
Überführung nach Großbritannien, Absolvierung eines
Lehrgangs an der Kriegsgefangenenschule »Wilton Park«, Ende
1946 Entlassung nach Deutschland. Strafbataillon 999? Barbara
Simoleit sammelt Material. Im Strafbataillon 999 mussten seit 1942
sogenannte Wehrunwürdige dienen, Menschen also, die zu einer
Zuchthausstrafe oder militärgerichtlich verurteilt worden waren.
Die Mehrzahl von ihnen sind politisch Oppositionelle gewesen -
Kommunisten, Sozialdemokraten, Geistliche und Zeugen Jehovas.
Prisoners-University »Wilton Park?« Das britische
Umerziehungslager war auf Initiative von Winston Churchill in
Buckinghamshire bei Beaconsfield gegründet worden. Nach
wissenschaftlich anspruchsvollen Kursen sollten die Absolventen als
überzeugte Demokraten in ihre Heimat zurückkehren, um dort
als Multiplikatoren zu wirken. Dort also hatte ihr Großvater
akademische Bildung erwerben dürfen. Seit 1947 hatten auch
Deutsche aus der britischen Besatzungszone, darunter Ralf Dahrendorf
und Wolfgang Abendroth, an den Lehrgängen teilgenommen, die in
Deutschland als Referenz gelten sollten. Und wohl auch galten.
Auch dies eine Szene, die das Familiengedächtnis bewahrt: Nach dem
Krieg, 1946, wollte ihn ein Herr mit einem Präsentkorb als
Journalist für die Zeitung »Die Welt« werben.
Dienstfahrzeug und -wohnung wurden in Aussicht gestellt, ihre Mutter
sah sich bereits in einer schicken Villa wohnen. Der Großvater
hat abgelehnt - »er hatte Prinzipien und stand zu ihnen«.
Die Präsente habe der Herr daraufhin wieder mitgenommen. Albert
Lange sei es wichtiger gewesen, wieder als politischer Redakteur beim
KPD-Zen- tralorgan, das nun »Freies Volk« hieß, zu
arbeiten. Bescheinigung
für Albert Lange über die Teilnahme an den Vorlesungen der
Verwaltungsschule des Kriegsgefangenenlagers 306 in Ägypten. Foto: privat Es
war die Zeit der halbherzigen Entnazifizierung. In der Bundesrepublik
kamen Altnazis als Richter, Staatsanwälte oder Minister schnell
wieder zu Amt und Würden. Albert Lange hat noch erleben
müssen, wie Verfolgte des Naziregimes, die Widerstand geleistet
hatten, erneut Diffamierungen und Repression ausgesetzt waren - so war
VVN-Mitgliedern ab dem 19. September 1950 die Beschäftigung im
Öffentlichen Dienst untersagt. Das KPD-Verbot hat er nicht mehr
mitbekommen, denn schon 1954, während eines Urlaubs in Marseille,
ist er nach einem Schlaganfall 53-jährig gestorben. Die Enkelin
hat einen Nachruf gefunden, illustriert mit einem Foto, das zeigt, wie
französische Genossen dem Sarg das Geleit zum Zug gaben, der ihn
nach Deutschland überführte. Warum waren es so viele? Welche
Verbindungen hatte Großvater »Albert« nach
Frankreich? Ein Rätsel, das sie noch lösen möchte. Auch
ein Beschluss des Amtsgerichts Wuppertal vom 27. Januar 1965 liegt
Barbara Simoleit vor. Er betrifft ihre zu diesem Zeitpunkt bereits
verwitwete Großmutter Else Lange. Folgendes ist dem Beschluss zu
entnehmen: Als am Morgen des 11. August 1964 das Zimmer ihres
Schwiegersohns Gerd Simoleit, das er bei ihr bewohnte, »wegen
Verdachts der Staatsgefährdung« durchsucht werden sollte und
die Kriminal-Obermeister Schmitz und Urmarsbach die Durchsuchung
vornehmen wollten, sagte Oma Else zu ihnen: »Mein Schwiegersohn
ist nicht da, hier kommen sie nicht rein.« Als sie die Tür
zuschlagen wollte, stellte Schmitz seinen Fuß hinein, worauf die
Großmutter das Haus zusammenschrie: »Hilfe, Hilfe,
Einbrecher!« Während der Durchsuchung schimpfte sie:
»Das sind die gleichen Methoden wie damals bei der Gestapo, das
kennen wir ja.« Und an ihre sechsjährige Enkelin, Barbara
Simoleit, gewandt: »Das sind die bösen Männer, von
denen ich dir erzählt habe.« Oma Else war wegen Widerstands
gegen die Staatsgewalt und Beamtenbeleidigung zu einer
Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Wochen auf Bewährung und einer
Geldstrafe von 120 D-Mark verurteilt worden. Wie nun sollte Oma
Elses Schwiegersohn und Barbara Simoleits Vater Gerd die Bundesrepublik
Deutschland gefährdet haben? Gerd Simoleit war Funktionär der
Freien Deutschen Jugend in Westdeutschland, die in Nordrhein-Westfalen
bereits im April 1951 als »verfassungsfeindliche
Organisation« verboten worden war. Am 3. August 1954 waren er und
einige seiner Genossen angeklagt worden, »die Bestrebungen einer
Vereinigung - der Freien Deutschen Jugend - ... als
Rädelsführer gefördert zu haben«. Das Urteil war
am 12. März 1957 gesprochen worden, in der DDR berichtete das
Zentralorgan des Zentralkomitees der SED »Neues
Deutschland« am Tag darauf: »Zu insgesamt 33 Monaten
Gefängnis wurden am Dienstagmittag fünf junge Wuppertaler
Arbeiter in einem Gesinnungsprozeß vor der Politischen
Strafkammer des Düsseldorfer Landgerichts verurteilt. Die
Sonderkammer sprach die fünf Angeklagten Rolf Krane, Robert
Merten, Gerd Simoleit, Wilfried Maluchnik und Erich Herkenrath der
›Staatsgefährdung, Rädelsführerschaft in einer
verfassungsfeindlichen Organisation, der Geheimbündelei und der
Verbreitung illegaler Schriften‹ mit antimilitaristischem
Charakter schuldig, weil sie den Kampf der FDJ gegen den Kriegskurs der
Adenauer-Regierung unterstützt hatten. Im einzelnen wurden Rolf
Krane zu acht Monaten Gefängnis, Robert Merten zu sieben Monaten
Gefängnis und die drei übrigen jungen Patrioten zu jeweils
sechs Monaten Gefängnis verurteilt. Im Verlauf des
Gesinnungsprozesses bekannten sich die fünf jungen Arbeiter mutig
zu ihrem Kampf gegen den Militarismus. Sie erklärten, daß
sie die politischen Auffassungen, die zu ihrer Mitarbeit in der FDJ
führten, heute für richtiger denn je halten.« Kalter
Krieg, Kampf der Systeme. Aus heutiger Sicht erscheint der Gedanke
geradezu absurd, FDJ und KPD hätten die Bundesrepublik
gefährden können - eine gesellschaftliche Mehrheit im
Wirtschaftswunderland hätten sie kaum gefunden. Während die
alten, diktaturgestählten Eliten nicht als Gefahr empfunden
wurden, hat Barbara Simoleit in ihrer Jugend eine tiefverwurzelte
Angst, ja Abwehr alles Kommunistischen erlebt. »Es hieß
immer, wir Kinder und Enkel von antifaschistischen
Widerstandskämpfern seien indoktriniert worden. Das unterstellte
ideologische Verbohrtheit. So war es nicht«, sagt Barbara
Simoleit, die die Ideale und Werte ihrer Großeltern und Eltern
teilt. »Sie wollten ein friedliches Deutschland und soziale
Gerechtigkeit. Diese Werte haben sie vorgelebt, sind offen und nicht
dogmatisch gewesen. Als Kind war ich mit meinen Eltern in Helsinki bei
den Weltfestspielen der Jugend. Das ist wunderschön gewesen.« Ordnung
in ihre Erinnerungen bringen - zu diesem Zwecke suchen die Mitglieder
der Gruppe »Kinder des Widerstands« nach ihnen noch
unbekannten Spuren in Archiven, sammeln Dokumente, schreiben
Lebensläufe. Viele von ihnen gehen zu Schulklassen, um dort
über ihre Großeltern oder Eltern und deren Widerstand in der
NS-Zeit zu berichten. Über die Nazizeit überhaupt, denn was
Terror bedeutet, können sich junge Menschen heute nicht mehr
vorstellen. Barbara Simoleit hat noch nicht vor Schulklassen
gesprochen; sie ist ja noch berufstätig und aktiv in der
Gewerkschaft. Doch sie erzählt ihre Geschichte jetzt hier, weil
sie helfen möchte, die Gruppe bekannter zu machen. Es wäre
schön, sagt sie, wenn noch viel mehr Kinder, Enkel, Nichten,
Neffen von Widerstandskämpfern den Weg zur Gruppe fänden.
Eigentlich möchte sie jeden ermutigen, sich mit seiner
persönlichen Herkunft, seiner Geschichte zu beschäftigen -
egal, ob die Vorfahren nun im Widerstand, Mitläufer oder Nazis
gewesen sind. Gerade in den letzten Wochen, in denen deutsche Politiker
»Härte gegen Russland« fordern, wünschte sie sich
hierzulande mehr Geschichtsbewusstsein. »Für
Senioren«, sagt Barbara Simoleit, »gibt es bei uns in
Wuppertal nicht gerade wenig Angebote - Sport, Ausflüge,
Kaffeetrinken. Ich fände es gut, wenn sich ältere Leute auch
noch mit anderem beschäftigen würden. Politische Angebote
sucht man vergebens.« Mit freundlicher Genehmigung des Neues Deutschland vom 05.04.2014. |