07.03.2014 Hundert Jahre deutscher Weltkrieg und die Mauer in Berlin Deutsche Geschichte soll umgeschrieben werden / Von Ludwig Elm Der
Jenaer Historiker und Politikwissenschaftler Prof. Ludwig Elm hat uns
einen Text zur Verfügung gestellt, den er für die
Marxistischen Blätter schrieb. Die Mauer von Berlin soll zum
Symbol für die Ursachen aller Irrwege gemacht werden, die seit
hundert Jahren gegangen wurden, analysiert Ludwig Elm. Er kommt zu dem
Schlu?: "Die herrschende Geschichtsideologie ist ein
hauptsächliches Feld, nach innen wie nach außen
fortschritts- und friedensfeindliche Traditionen und Geisteshaltungen
zu inspirieren sowie damit weiterhin die Herrschafts- und
Gestaltungsansprüche von Großkapital, verbürgerlichter
Aristokratie und modernem Militarismus zu sichern helfen."
Wortlaut: 1914 und die Mauer Die deutsche Rechte will die Geschichte des 20. Jahrhunderts umschreiben Ludwig Elm Die
Bundesstiftung zur „Aufarbeitung der SED-Diktatur“
offeriert seit September 2013 bundesweit, preisgünstig und
massenhaft, die Ausstellung „Diktatur und Demokratie im Zeitalter
der Extreme. Streiflichter auf die Geschichte Europas im 20.
Jahrhundert“. Sie wurde vom Institut für Zeitgeschichte
München ausgearbeitet. Es gehe darum, angesichts gleichzeitiger
runder Jahrestage (1914, 1939, 1989 und 2004 – Osterweiterung EU)
„die Geschichte der kommunistischen Diktaturen in SBZ/DDR und
Mittel- und Osteuropa sowie der deutschen und europäischen Teilung
in der Geschichte Europas des 20. Jahrhunderts“ zu verorten.
(Mail der Stiftung vom 5. September 2013) Von 26 Plakaten der
Ausstellung zeigt das Startplakat mit Werbefunktion die Berliner Mauer
und drängt dem Betrachter plump die ideologische Leitidee auf. Ein
einziges Poster ist dem Ersten Weltkrieg gewidmet. Im Januar 2014
eröffnete Bundestagspräsident Norbert Lammert die Ausstellung
im Paul-Löbe-Haus des Parlaments und erteilte ihr damit eine
höhere Weihe. Sie soll auch im Ausland gezeigt werden: Das
wirtschaftlich stärkste Land Europas beansprucht längst
maßgeblichen Einfluss auf eine militant antikommunistische
Massenbeeinflussung der Öffentlichkeit des Kontinents. Die
Federführung kommt nicht wissenschaftlich kompetenten und
zumindest tendenziell pluralistischen Instituten, sondern einer
staatlich dirigierten und großzügig finanzierten
Bundesstiftung zu, die seit ihrer Gründung 1998
politisch-ideologische und geistig-kulturelle Prozesse nach den
Vorgaben konservativer Führungskreise zu kontrollieren und zu
steuern hat. Die Mauer als Leitmotiv Die Mauer soll als
tragisches, angeblich nur vom Kommunismus verursachtes und
herausragendes Symbol der Irrwege des 20. Jahrhunderts stilisiert
werden. Sie hat im Geschichtsbild nachwachsender Generationen den
Ersten Weltkrieg, den damaligen Nachkriegsterror, Weltwirtschaftskrise
und die Mitverantwortlichen für den 30. Januar 1933, den 1.
September 1939 und den europaweiten Vernichtungskrieg, aber auch die
Erinnerung an die Revolution vom 9. November 1918 sowie vor allem an
den Befreiungstag 8. Mai 1945 zurück zu drängen.
Unerwähnt bleibt wiederum, dass die staatliche Spaltung 1948/49,
die langjährige Nichtanerkennung und grundsätzliche
Anfeindung des anderen deutschen Staates sowie der Beitritt eines
deutschen Teilstaates im Jahre 1955 zur 1949 gegründeten NATO
jeweils von westlicher Seite ausging und lange vor 1961 die Teilung
Deutschlands zementiert hatte. Wer daran erinnert wird
überhört oder diffamiert; ihm schlägt inszenierte
Empörung entgegen. Wer der DDR feindselig gegenüber stand
oder aus anderen Gründen mit ihr Probleme hatte, erhält einen
ungleich höheren Rang und breiteren Raum in der Erinnerung als die
Vielzahl jener Frauen und Männer der Arbeiterbewegung, als die
Mehrzahl der Gegner von Militarismus und Faschismus, die im Ersten
Weltkrieg, in der Weimarer Republik sowie in den Jahren der
faschistischen Diktatur und des Zweiten Weltkrieges verfolgt,
entrechtet, in Emigration oder KZ getrieben und ermordet wurden. Diesem
Geschichtskonzept entspricht, dass mit Beginn dieses Jahres politisch
und medial die Kampagne zur Vorbereitung des 25. Jahrestages des
Mauerfalls eröffnet wurde. Das geschieht in der Tradition jener
restaurativ-antikommunistischen Kräfte, die im Sommer 1953 unter
Mithilfe der SPD eilig einen Feiertag 17. Juni ausriefen, aber
über ein halbes Jahrhundert einen Gedenktag für die Opfer des
Faschismus verhinderten. Ihre Nachfolger sind jene, die bis heute dem
8. Mai 1945 ignorant bis feindselig begegnen und bei seiner
gelegentlich unvermeidbaren Erwähnung keinesfalls den Faschismus
(oder auch nur Nationalsozialismus) erwähnt sehen möchten. Es
sind die geistigen Erben und politischen Nachkommen der Kreise, die
weit über vierzig Jahre keinerlei Anlass für eine
Gedenkstättenkonzeption der Bundesrepublik gesehen hatten. Sie
unternahmen dazu erst Schritte, als sie diese nach 1990 mit der
gleichzeitigen Einbeziehung der DDR-Geschichte hinsichtlich der
NS-Diktatur und des Zweiten Weltkrieges relativieren sowie
antikommunistisch instrumentalisieren konnten. Unionsparteien
und FDP hatten nach dem Ende der faschistischen Diktaturen in Portugal
und Spanien, von autoritären Militärregimes in der
Türkei, Griechenland und anderswo keinen Anlass gesehen, sich
für die Aufarbeitung massenhafter und teilweise jahrzehntelanger
Verbrechen zu engagieren. Von Ausnahmen abgesehen, spielen solche
– beispielsweise unter der Franco-Diktatur oder in Indonesien
1965 – verübten Morde und Massaker bis heute in der
offiziellen Erinnerungskultur der Bundesrepublik keine nennenswerte
Rolle. Schließlich sind es in jenen Ländern die der
deutschen Rechten ideell und politisch verbundenen Schichten und
Parteien, die meist bis heute Klärungsprozesse bezüglich
ihrer kriminellen Vergangenheiten ver- oder behindern. Andererseits
überschlagen sich die rechten Kräfte in der Bundesrepublik
seit den neunziger Jahren im Bemühen, das fortschrittsfeindliche
Erbe und Potential baltischer sowie ost- und
südosteuropäischer Länder – militär- und
profaschistische Traditionen eingeschlossen - zu mobilisieren. In
diesem Sinne gibt es längst Anstrengungen, das primär
antikommunistische Konzept gesamteuropäisch durchzusetzen. Es wird
sichtbar in dem Versuch, den 28. August – 1939 der Tag der
Unterzeichnung des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspaktes mit
geheimen Zusatzabkommen - als europäischen Gedenktag zu stiften.
Zunehmend und meist ohne auffälligen Widerspruch wird die
Sowjetunion neben Nazideutschland als annähernd
gleichermaßen mitverantwortlich für den Ausbruch des Zweiten
Weltkrieges genannt. Aktuell äußert sich die Grundtendenz im
Beschluss des Europäischen Parlaments „Europa für
Bürgerinnen und Bürger“ vom 19. November 2013,
Initiativen zu fördern, die „die Ursachen der
totalitären Regime in der modernen europäischen Geschichte
(insbesondere, aber nicht ausschließlich des Nationalsozialismus,
der zum Holocaust führte, des Faschismus, Stalinismus und der
totalitären kommunistischen Regime) und das Gedenken an die Opfer
ihrer Verbrechen“ reflektieren. Das
Diktatur-Demokratie-Schema der offiziellen Geschichtsideologie ist
untauglich, die tatsächlichen sozialen, politischen und
geistig-kulturellen Kämpfe, Widersprüche und Fronten im
Verlauf des vergangenen Jahrhunderts zu erfassen und angemessen zu
bewerten. Es soll deren Ereignisse, Akteure, Verläufe und
Resultate in seit Jahren vorgefertigte und etikettierte Schablonen
zwängen, die geschichtliche Objektivität, ernstzunehmende
Kontroversen und fundierte alternative Sichtweisen ausschließen.
Waren die Vorreiter von Demokratie und Menschenrechten etwa die
bürgerlich-aristokratischen Oberschichten, ihre Parteien,
Verbände und Köpfe, die sich – wie Friedrich Naumann -
um 1900 mit dem autoritären Regime Wilhelm II. und der
Hochrüstung ausgesöhnt hatten, die Verbrechen in Kolonien
tolerierten und sich hinter die Militärdiktatur der Jahre 1914 bis
1918, ihre massenmörderische Kriegspolitik und das repressive
innere Regime stellten; die bis weit in den Krieg das
feudal-ständische und besitzbürgerliche Dreiklassenwahlrecht
in Preussen bewahrten und bis Herbst 1918 weder die
bürgerlich-parlamentarische Republik noch die
staatsbürgerliche Gleichberechtigung der Frau erstrebten; waren es
jene, die nach den Leiden und Opfern des Krieges nicht etwa eine
friedliche Revolution zuließen, sondern zur Wahrung ihrer
Besitztümer und Privilegien gemeinsam mit der äußersten
Reaktion in Berlin, München und anderswo mörderisch das
Aufbegehren niederschlugen, um die Kontrolle zugunsten einer
restaurativen Entwicklung zu erlangen? Waren schließlich jene die
Demokraten, die die Lasten der großen Krise ab 1929 vorrangig auf
Millionen der Ärmsten abwälzten, deren Parteien die
Notverordnungsdiktatur ab 1930 stützten sowie 1932/33 das
Zusammengehen mit den Nazis suchten und Beihilfe zur Errichtung der
faschistischen Diktatur leisteten? Wessen Freiheit und welche
Demokratie war es, unter denen ab September 1949 die
Schlussstrichpolitik zur Verdrängung einer barbarischen
Vergangenheit eingeleitet sowie Täter und Mitläufer des
Verbrecherstaates weitgehend freigesprochen, ihnen Karrieren neu
eröffnet und die Kritiker dieser Entwicklung jahrzehntelang
diskriminiert wurden? Deutsche Rechte als Haupttäter benennen Hier
wird für den Schlüsselbegriff der deutschen Rechten
plädiert, um dominante ideologische Prozesse in Gesellschaft und
politischem System der Bundesrepublik, ihre Triebkräfte, Inhalte
und Feindbilder zutreffend verorten zu können. Das
Verständnis entspricht im wesentlichen dem von Peter Glotz in
seiner gleichnamigen Schrift von 1989: „Die Hauptfigur dieser
Schrift heißt Helmut Kohl. Er ist, seinen vielen Verächtern
zum Trotz, seit 1973 die Zentralfigur in der rechten Hälfte des
politischen Spektrums.“ [Peter Glotz: Die deutsche Rechte. Eine
Streitschrift, Stuttgart 1989, S. 13] Die „größte
Partei der Rechten in der Bundesrepublik, die CDU“ sei bisher von
K. Adenauer und H. Kohl geprägt worden. Glotz betonte den
analytischen Wert seines Verständnisses von der Rechten, denn
seine Schrift sei „gerade ein Plädoyer fürs genaue
Hinschauen, also die Unterscheidung zwischen rechtsliberalen,
liberal-konservativen, national-konservativen, rechtspopulistischen,
rechtsradikalen, rechtsextremistischen und rechtsterroristischen
Gruppen und Splittern.“ [Ebenda, S. 14] Das ist heute hilfreich
für eine Klarstellung, die der Strömung statt des
vernebelnden Vokabulars von christlich, neo- oder marktliberal,
wertkonservativ, europäisch, sozial usw. ihren tatsächlichen
Platz zuweist. 2014 ist in der Nachfolge von Adenauer, Erhard,
Kiesinger, Strauß und Kohl die CDU-Vorsitzende und Kanzlerin
Angela Merkel die „Hauptfigur“ der deutschen Rechten.
Bezüglich der Bezeichnung der US-amerikanischen,
französischen oder britischen Rechten sind die semantischen
Hemmungen geringer. Allerdings ruft auch in keinem dieser Länder
der Begriff vergleichbare Assoziationen zur Erbschaft schwerster und
massenhafter Verbrechen gegen die Menschlichkeit hervor. Die Tatorte
reichen von China 1900 und Südwestafrika 1904-1907, über
Belgien, Frankreich, Russland und andere Länder 1914 bis 1918 bis
zu denen des Faschismus und im Zweiten Weltkrieg. Die bevorstehende
Wiederkehr der 100. und 75. Jahrestage jener Ereignisse alarmiert
konservative, militant antikommunistische Kräfte und veranlasst
sie, mit geschichtspolitischen Initiativen die Hegemonie in der Deutung
des vergangenen Jahrhunderts zu behalten. Sie wollen ihren heutigen und
absehbaren gesellschaftspolitischen Ambitionen auch daraus
Plausibilität und Massenwirksamkeit verleihen. Das
Dilemma für Unionspolitiker und Rechtsintellektuelle setzt sich in
Deutschland auch mit dem belasteten Begriff des Konservatismus fort,
der nach 1918 wie nach 1945 jeweils aufs Äußerste
diskreditiert war. Die Umbenennung der Nachfolgeparteien verriet die
eigene Wahrnehmung dieses Dilemmas. Das von ihr verdrängte und im
nun beginnenden Erinnerungszyklus zu benennende historisch-politische
Tatsachenmaterial weist die deutsche Rechte in der ersten Hälfte
des letzten Jahrhunderts als europa- und weltgeschichtlichen
Haupttäter von Verbrechen gegen die Menschheit aus. Daraus ergeben
sich im rechten Spektrum – insbesondere der CDU/CSU und ihrem
Umfeld - Verschleierungsversuche sowie Kontroversen um die eigene
Identität, die stets auch einer geschichtlichen Legitimierung
bedarf. Die Linken und die gesamte demokratische Opposition können
für die Einschätzung der Kräfteverhältnisse und
Grundtendenzen in der Bundesrepublik nicht darauf verzichten, die
vorherrschenden Trends in ihren Herkünften, ihrem Wesen und ihrer
inneren Differenziertheit möglichst zutreffend zu
charakterisieren. Die konservative Grundströmung ist die
Hauptachse der Rechten, vorrangig angeführt und repräsentiert
von den Unionsparteien, den eigentlichen Staatsparteien der
Bundesrepublik, stets orientiert und korrumpiert durch die
wirtschaftlich Mächtigen sowie mit Rückhalt in
bürokratischen, juristischen, militärischen, klerikalen und
rechtsintellektuellen Hierarchien. Sie werden heute flankiert von FDP,
AfD und zahlreichen Institutionen, Verbänden und weiteren
Organisationen. Der militante Antikommunismus ist der eigentliche
ideologische Lebensnerv und Impuls, der unter wechselnden
Herrschaftsformen des letzten Jahrhunderts, in Krieg und Frieden, in
Restauration, Wachstumsperioden und Krisen seine
Anpassungsfähigkeit, Flexibilität und negative
Kreativität nachgewiesen hat. Wie eh und je ist er
ideell-politisches Bindeglied innerhalb der heterogenen Rechten,
durchdringt ihre Grauzonen bis zu äußersten,
rassistisch-terroristischen Richtungen und erweist sich selbst
als radikalisierungsfähig. Er leistet die vom unverändert
beworbenen pronazistischen und antisemitischen Vordenker Carl Schmitt
für den politischen Raum als unverzichtbar geforderte, eindeutige
Feindbestimmung und mobilisiert Kampfbereitschaft. Elitarismus und
Geschichtspessimismus eines Friedrich Nietzsche haben heute Konjunktur
wie vor hundert Jahren. Antikommunismus fälscht Geschichte Begrifflich
weisen Antisozialismus und Antikommunismus darauf hin, dass seit
1848/49, 1871, 1919 und 1949 die kämpferische Arbeiterbewegung,
der Marxismus und sozialistische Leitideen die Hauptgegner sind. Diese
Feindbilder begründen zugleich die antidemokratischen,
antiliberalen und vielfach menschenfeindlichen Wesenszüge und
Komponenten der bürgerlichen Herrschaftsideologie. Sie richten
sich gegen soziale, demokratische und antimilitaristische Bewegungen
und Forderungen sowie gegen die geistigen Quellen des Strebens nach
Frieden, sozialer Gerechtigkeit und wirklicher Gleichheit der Chancen
für alle. Das Feindbild umfasst somit auch radikale Demokraten,
engagierte Nazigegner und Pazifisten. Antikommunistische Verhetzung
stand Pate beim gegenrevolutionären Terror in der Nachkriegskrise
von 1919 bis 1923 und trug dazu bei, die Spaltung der Arbeiterbewegung
aufrecht zu erhalten und zu vertiefen. Sie wurde entscheidend bei der
nazistischen Mobilisierung sowie der allgemeinen Rechtsradikalisierung
der bürgerlichen Gesellschaft und Politik, sie schürte
zugleich Aggressivität nach außen und verschmolz mit dem
Rassismus , insbesondere Antisemitismus, zu globalen
Verschwörungs- und Bedrohungsideologien und ihren
massenmörderischen Konsequenzen. Der Antibolschewismus
gehörte zum ideologischen Kern nazistischer Vernichtungs- und
Durchhalteorgien. Die Schlüsselrolle des Antikommunismus
wurde mit dem Bedeutungsverlust des Nationalismus nach 1945
verstärkt, neben dem sich seine antisozialistischen Vorstufen seit
Bismarck als Gegnerschaft zu Arbeiterbewegung und Marxismus bereits zu
einer ideologisch-politischen Grundkomponente entwickelt hatten.
„Die Frage nach der nationalen Identität der
Deutschen“, schrieb Günter Gaus vor mehr als dreißig
Jahren, „wurde in Westdeutschland verengt auf die
Auseinandersetzung mit dem Kommunismus.“ Den restaurativen
Kräften erschien „diese Reduzierung des nationalen
Selbstverständnisses, eine Reduzierung, die keine andere
europäische Nation kennt, als äußerst opportun.
Antikommunismus als der geistige Gehalt, als der Zweck einer Nation:
Das Schnittmuster dieses Mantels stammte zwar aus keiner demokratischen
Werkstatt, der Zuschnitt erinnerte an jüngst Vergangenes. Aber wer
wollte sich daran stören, da unter diesem Mantel soviel geborgen
und verborgen werden konnte?“ [Günter Gaus: Wo Deutschland
liegt. Eine Ortsbestimmung, Hamburg 1983, S. 32f.] Die
politisch-ideologischen Prozesse seit den Umbrüchen von 1989/90
haben die Analyse von Gaus drastisch bestätigt. Sie dauern - eher
noch verschärft – an und die Geschichtspolitik bildet ein
Hauptfeld ihrer mit hohem Aufwand politisch und medial unablässig
verstärkten Wirksamkeit. Aus dem Sumpf der
Eigentums-Vergötzung und dem Primat der Kapitalverwertung, der
Privilegien von Oberschichten und extrem wachsender Ungleichheit, aus
der Konkurrenz und chronisch krisenhaften Entwicklungen in der
bürgerlichen Gesellschaft, aus dem Antisozialismus sowie
aufklärungsfeindlichen, antiegalitären Konzeptionen erwachsen
gegenwärtig wiederum in diesem Land sowie europa- und weltweit
Rassismus, menschenverachtender Fundamentalismus und Rechtsterrorismus
als angebliche Alternativen zu Krise, sozialem Abstieg und Armut. Die
Hemmschwellen für äußere Droh-, Einmischungs- und
Interventionspolitik sind in bestürzendem Tempo abgebaut worden.
Es wurde sichtbar, dass sie vor allem äußeren Faktoren der
Nachkriegsperiode geschuldet waren und auch auf diesem Gebiet eine
innere, geistig-moralisch und politisch an die Wurzeln reichende Umkehr
nie stattgefunden hat. Bezeichnend genug, dass im hundertsten Jahr nach
1914 in diesem Land die Rufe nach größerer
Gewaltbereitschaft in der internationalen Arena lauter werden. Begründete
Besorgnis rufen Motive, Methoden und Funktionen der offiziösen
Geschichtspolitik und -ideologie hervor. Sie befinden sich bis heute in
weithin unaufgearbeiteten Traditionen und Erbschaften von 1914-1919,
1932/33 und nach 1948/49. Das bestätigte sich in jüngster
Zeit in den andauernden oder noch zunehmenden groben
Geschichtsfälschungen bezüglich der Ursachen des Scheiterns
der Weimarer Republik. Sie wäre entscheidend durch die Extreme von
rechts und links bekämpft und geschwächt worden, die
schließlich ihren Untergang herbeiführten. In
Schulbüchern, Medien und Publikationen zur historisch-politischen
Bildung wurden vielfach mit und neben den Nazis die Kommunisten als
hauptverantwortlich für diese Entwicklung bezeichnet. Die
rechtsgerichteten Versionen des Totalitarismuskonzepts und darauf
gründendes Extremismusverständnis versuchen, die
ursprüngliche und konstitutive Unvereinbarkeit und historisch
erwiesene Gegensätzlichkeit von Faschismus und Antifaschismus zu
verdunkeln und zu relativieren, teilweise sogar aufzuheben. Diese
Lügen sind die wirksamste Konstruktion zur Ächtung der Linken
und zugleich für das Anliegen, die bürgerlichen –
deutschnationalen, antisemitischen und militaristischen - Quellen,
Verbündete und Nutznießer nazistischer Ideologie und
gewalttätiger Politik vergessen zu machen. Die Würdigung der
Kriegsgegner der Jahre 1914 bis 1918 sowie des Antifaschismus von 1920
bis 1945 wird ein entscheidendes Indiz der bevorstehenden
Geschichtsdebatten sein. Bisherige Defizite sind nicht nur in
sozioökonomischen, personellen und ideologischen
Kontinuitäten über die Brüche von 1918/19, 1933, 1945
und 1989/90 hinweg nachweisbar, sondern auch in denen von Strukturen,
Organisationen, Idolen und Begriffen. Seit den neunziger Jahren sind
zugleich neue Momente im kritischen Umgang mit NS-Diktatur und Zweitem
Weltkrieg sowie ihren Hinterlassenschaften nicht zu übersehen.
Veränderungen wie andauernde Halbheiten und Zwiespältigkeit
wurden Ende 2010 bis November 2012 im Bundestag sichtbar, als es in
einer Großen Anfrage der LINKEN, der Antwort der Bundesregierung
und Plenardebatte um den Umgang mit der NS-Vergangenheit in der
frühen Bundesrepublik ging. (s. MB, 1/2013) Inzwischen liegen seit
den neunziger Jahren auch aus dem eigentlichen Wissenschaftsbetrieb
(zuvor fast nur von Linken und anderen NS-Verfolgten und
Außenseitern) bemerkenswerte kritische Untersuchungen zur
bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte vor. Die Umsetzung in der Politik
und den Medien, in Schule und politischer Bildung, hinkt nicht
zufällig hinterher. Geistige Krise und fehlende Perspektiven Die
Öffnung gegenüber jahrzehntelang in Politik, Medien, Bildung
und Forschung geleugneten oder gemiedenen historisch-politischen
Sachverhalten verrät den Zwang, geschichtsideologischen Ballast
abzuwerfen. Die Gebote der Restauration – verdrängen,
rechtfertigen, lügen – waren der eigenen geistigen Krise wie
der großen, wahlentscheidenden Anhängerschaft der Bonner
Koalitionsparteien aus Mitläufern und Tätern der NS-Diktatur,
aber auch den Erwartungen der ebenfalls vorbelasteten Wirtschaft,
geschuldet. Jener Vorrang des inneren Friedens zugunsten des
Wirtschaftswunders, der Westbindung und politischen Stabilität
hatte sich mit den neunziger Jahren durch Generationswechsel weitgehend
erübrigt. Das Wissen um Faschismus und Zweiten Weltkrieg sowie die
in vielen Ländern über Generationen nachwirkenden Verluste,
Leiden und Traumata legen einen veränderten Umgang nahe. Er
führte - ungeachtet vieler Halbheiten und andauernden Verzerrungen
- zu Darstellungen sowie einer Erinnerungs- und
Gedenkstättenpolitik, die in der von Nazitätern in
Führungspositionen aller gesellschaftlichen Bereiche durchsetzten
Bundesrepublik jahrzehntelang nicht gewollt und nicht durchsetzbar war.
Eine Kompensation für nunmehr unumgängliche
Offenlegungen zu Gesellschaft und Geschichte der Bundesrepublik wird
offensichtlich in der weiter verschärften Denunziation und
Delegitimierung der DDR gesucht und gefunden. Jüngste Beispiele
unablässiger Kampagnen: Die Arbeit in Haftanstalten der DDR wird
als Zwangsarbeit bezeichnet, um Analogien zur tatsächlichen
Zwangsarbeit in der NS-Diktatur zu suggerieren. Die Forderung nach
Verbot von DDR-Symbolen wird in Teilen von Medien und Politik nicht als
rechte Scharfmacherei, sondern als diskussionswürdige Wortmeldung
aufgenommen. Die unablässige, aggressive sowie von den
Ursprüngen und Grundlagen her fälschende Beschreibung und
Herabsetzung des vergangenen zweiten deutschen Staates wurden ein
Hauptfeld indirekt verklärter Selbstdarstellung bundesdeutscher
Gesellschaft und Geschichte. Überhaupt gehört das Bestreben,
von eigenen kritikwürigen Herkünften vor und nach 1945
abzulenken und sich historisch zu entlasten, nicht zu den letzten
Antrieben des eifernden zeitgenössischen Geschichtsrevisionismus
und schier endlos fortgeschriebenen Gaucklertums. Die
bürgerlich-aristokratischen Oberschichten speisten ihre
Herrschaftsideologie im Kaiserreich wesentlich aus den
militärischen Erfolgen von 1813, 1864, 1866 und besonders 1870/71
gegen Frankreich, aus kolonialen Eroberungen, Hochrüstung sowie
Anfangs- und Teilerfolgen im Ersten Weltkrieg. Ab 1919 füllten
Bismarck- und Hindenburgkult, Dolchstoßlegende, Monarchismus,
Gegnerschaft zu Versailles und Antibolschewismus die
Geschichtsbücher, die Rechtspresse sowie die akademischen Festakte
und die Trivialliteratur. Nicht erst, aber vor allem seit 1990 dienen
Mauerfall und Ende der DDR, das Scheitern des osteuropäischen
Staatssozialismus und die globale Dominanz des Kapitalismus dazu, der
fortbestehenden bürgerlichen Gesellschaft und ihrem politischem
System den ansonsten unzulänglichen Glanz geschichtlicher
Überlegenheit und historischer Siege zu verleihen. Offensichtlich
erscheinen unter Bedingungen chronischer Krisenprozesse, extremer
Ungleichheit sowie fehlender Zukunftsgewissheit Dax-Werte,
Export-Quoten und immerwährende Krimi-, Sex- und
Dschungelberieselung als wesentlich, aber ideell und ethisch
unzureichend. Ein großzügig finanziertes und
regierungsamtlich protegiertes Netz staatlicher Institutionen und
Instrumentarien steht längst dafür zur Verfügung. Es
offenbart die Realitäten des bundesdeutschen Verständnisses
von Zivilgesellschaft und Pluralismus, Wissenschafts- und
Meinungsfreiheit, Rechtsstaatlichkeit sowie Achtung der
Menschenwürde aller. Systematisch wird ausgegrenzt und
geächtet oder privilegiert, es grassieren Tabus und enge
Sprachregelungen in Politik, Medien und Bildung. Zu den traditionellen
Zentralen und Stiftungen zur politischen Bildung kamen seit den
neunziger Jahren die Stasi-Unterlagenbehörde mit Filialen in
Bundesländern sowie Funktionen bei der Aktenöffnung sowie zur
ideologischen Steuerung und Mobilisierung, die Stiftung zur
Aufarbeitung der SED-Diktatur, neugeschaffene zeitgeschichtliche
Forschungs- und Propagandainstitute in Leipzig, Dresden, Weimar und
Potsdam und der Forschungsverbund SED-Staat in Berlin. An
Universitäten und Hochschulen wetteiferten Professoren mit dem
Nachweis des eigenen beflissenen Konformismus um einschlägige
Fördermittel. Die zentralen Verfassungsorgane der Bundesrepublik,
die langjährig keinerlei Zuständigkeit für
Gedenkstätten und Museen erkennen konnten, überbieten sich
inzischen auf diesen Gebieten, nachdem sie die darin liegenden
Möglichkeiten dauerhafter antikommunistischer Ideologisierung des
öffentlichen Lebens begriffen hatten. Der herrschende
geschichtsideologische Staatsdirigismus widerlegt alle Phrasen von der
vermeintlichen Liberalität, Pluralität und
aufklärerischen Leitmotiven. Die Geschichtsideologie und
-politik der deutschen Rechten wird dominiert vom antikommunistischen,
konservativen, teils latent deutschnationalem Ideengut der CDU, CSU,
FDP, AfD u. a. Verbände, Institutionen, Gruppen. Sie wird
massenmedial flankiert und multipliziert von BILD, WELT, FAZ, teils
ZEIT und anderen Medien einschließlich Funk, TV, Film,
Online-Diensten etc. sowie fortgesetzt und vervielfacht in
Schulbüchern und Angeboten der Stiftungen für politische
Bildung. Die konservative Rechte erhält Beihilfe und wird im
Nachtrab und an den Flügeln unterstützt von der Mehrheit der
Führung und von Funktionsträgern der SPD, der wiederum ein
beträchtlicher Teil zumindest des Führungspersonals der
Gewerkschaften mehr oder weniger folgt. Ähnliches gilt in
zunehmenden Maße von Gruppierungen der Grünen. Auf
geschichtspolitischem Gebiet erweist sich spätestens seit den
neunziger Jahren die Große Koalition als Haupttrend. Das
äußerte sich – der Logik des Antikommunismus folgend
– im weitgehenden Zusammenwirken von CDU, CSU, SPD und Teilen der
Grünen in den Enquete-Kommissionen des Bundestages zur DDR, in der
daraus hervorgegangenen Stiftung zur „Aufarbeitung der
SED-Diktatur“ und der seit 1999 unter wechselnden Koalitionen
verfolgten Gedenkstättenpolitik. Nähere Betrachtung
verrät, dass die Auszehrung alternativen intellektuellen
Potentials in der SPD und ihrem engeren Umfeld diese Entwicklung
beförderte und die unkritische Übernahme der
antikommunistischen Prämissen der Rechtsparteien begünstigte.
Wo gibt es noch unabhängige gesellschaftskritische Köpfe in
der Sozialdemokratie, wie sie immerhin noch mit der Erinnerung an E.
Eppler, G. Gaus, P. Glotz, G. Heinemann, O. Lafontaine, P. von Oertzen,
D. Posser, J. Strasser u. a. verbunden werden können? Zuwachs
für die SPD kam ab 1989/90 vor allem aus dem sozialliberalen
Milieu des ostdeutschen Protestantismus und verstärkte den
kleinbürgerlichen Konformismus. Wolfgang Thierse und Richard
Schröder sind als rechtssozialdemokratische Intellektuelle
ostdeutscher Herkunft bemüht, die Geschichtsbilder der
Rechtsparteien in den eigenen Reihen zu verinnerlichen. Um und nach
2000 verlor die SPD mit der Politik der rot-grünen Koalition vor
allem auch kapitalismuskritische und pazifistische, gegen die
Rechtskräfte und auf gesellschaftspolitische Alternativen
orientierte Mitglieder und Funktionäre. Gesamtgesellschaftlich
wurde dieser Trend verschärft durch das weitgehende Verschwinden
einer liberaldemokratisch, antinazistisch und pazifistisch orientierten
und damit auch eher der SPD zugeneigten Gruppe, als deren namhafte
Vertreter beispielhaft zu nennen sind: G. Grass, J. Habermas, I. und W.
Jens, H. Ridder, bedingt auch R. Augstein. Inzwischen vollzog sich ein
weiterer Tendenz- oder Positionswechsel von Wissenschaftlern,
Schriftstellern, Künstlern und Journalisten sowie Studierenden.
Ihr Konformismus wird eher bestätigt als widerlegt, wenn sie zu
Wortmeldungen und Kampagnen im Gefolge von NATO, CIA und
Bundesregierung aufmarschieren. Das kritische Potential ist weitgehend
geschwächt und entschärft. Es zielt nur gering auf
Schlüsselprobleme der Macht, Politik und Ideologie. An die Wurzeln
der Krisen, Kriege und gesellschaftlichen Fehlentwicklungen greifende
Beiträge und Kontroversen zur gesellschaftskritischen Analyse und
zu strategischen Alternativen finden sich außerhalb linker
Gruppierungen kaum oder sie werden feuilletonistisch ihrer Sprengkraft
und mobilisierender Effekte entledigt. Die aus der
Bundestagswahl 2013 hervorgegangene Große Koalition vereinbarte,
die Abrechnung mit der DDR fortzusetzen sowie einen Gedenktag zur
Erinnerung an Flucht und Vertreibung einzuführen. Mit Letzterem
erfüllt sie Forderungen jener konservativen Kräfte, die sich
jahrzehntelang mit revanschistischen Parolen und Umtrieben Entspannung
und Friedenssicherung in Europa widersetzten. Unter den Fittichen der
Unionsparteien und in Personalunion mit ihnen, jahrzehntelang als
rechtes Wählerpotential politisch und finanziell gehätschelt,
haben die Vertriebenenverbände dreist ihre nazistischen
Erbschaften weit über ein halbes Jahrhundert mitschleppen
können. Die antikommunistische Grundorientierung der
herrschenden Geschichtsideologie ist Symptom und Teil der geistigen
Krise, die ihrerseits in den scharfen sozialen Widersprüchen der
heutigen kapitalistischen Weltgesellschaft wurzelt und diese –
teils enthüllend, teils verzerrt und verschleiernd -
widerspiegelt. Das Fehlen von gesamtgesellschaftlichen Leitideen und
Perspektiven begleitet fortdauernde Massenarbeitslosigkeit sowie die
weiter wachsende Kluft zwischen irrational anmutender Anhäufung
von Superreichtum und zunehmender, sich verfestigender Armut. Die
verheerenden Ziffern fehlender Ausbildungs- und Arbeitsplätze
für die junge Generation in Ländern des EURO-Raumes und
darüber hinaus, sind alarmierende Symptome der Gesellschaftskrise.
Beunruhigend sind der Unwille und die Unfähigkeit zum dauerhaft
friedlichen Zusammenleben aller Völker und Staaten. Sie belegen
auch ein Jahrhundert nach 1914 die konstitutiv expansiven und
imperialen Tendenzen des Kapitalismus. Die herrschende
Geschichtsideologie ist ein hauptsächliches Feld, nach innen wie
nach außen fortschritts- und friedensfeindliche Traditionen und
Geisteshaltungen zu inspirieren sowie damit weiterhin die Herrschafts-
und Gestaltungsansprüche von Großkapital,
verbürgerlichter Aristokratie und modernem Militarismus zu sichern
helfen. |