04.12.2013 Über "Neoliberalismus und Faschismus" diskutiert Landesausschuss der VVN-BdA beriet über Vorbereitung der Landesdelegiertenkonferenz Die
Landesaussschußtagung der nordrhein-westfälischen VVN-BdA am
23. November 2013 in der Alten Synagoge Wuppertal hat sich mit der
weiteren Vorbereitung der Landesdelegiertenkonferenz am 8. Februar 2014
befasst. Zur inhaltlichen Vorbereitung gehört auch das Referat zum
Thema "Neoliberalismus und Faschismus" von Prof. Herbert Schui. Hier
der Text im Wortlaut, der die Gedanken seines Referats wiedergibt: Die neue Bürgerlichkeit: Halbbildung und elitär motivierte Menschenfeindlichkeit Die soziale Lage in den entwickelten
Industrieländern ist absurd: Die Produktivität der
Arbeit ist wegen der überaus entwickelten Produktionstechnik
sehr hoch und nimmt weiter zu. Bei vernünftiger Organisation
von Gesellschaft und Wirtschaft ist dies die wirtschaftliche Grundlage
für einen höheren Lebensstandard, für mehr
privaten Konsum, für bessere öffentliche Dienste und
für Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich.
Genutzt aber werden diese Möglichkeiten nicht. Vielmehr setzt
seit vor rund 40 Jahren – Vollbeschäftigung wird
1972 erreicht – eine Periode zunehmender Arbeitslosigkeit und
Armut ein. Eigentlich müsste diese Absurdität Unruhe
auslösen, auch wenn für den Anfang nur intellektuelle
Unruhe – so wenigstens an den Universitäten. Das
Gegenteil aber ist der Fall. Was steht dem entgegen? Rohe
Bürgerlichkeit Statt Unruhe breitet sich,
wie Wilhelm Heitmeyer dies nennt, rohe Bürgerlichkeit aus. Er
fasst die Ergebnisse der Gruppe, die mit ihm forscht, in dieser Weise
brillant zusammen: „Rohe Bürgerlichkeit zeichnet
sich – befeuert von politischen Entscheidungen –
durch Tendenzen eines Rückzugs aus der Solidargemeinschaft
aus. Die Entkultivierung des Bürgertums offenbart sich im
Auftreten seiner Angehörigen und in der Art und Weise, wie sie
versuchen, eigene Ziele mit rabiaten Mitteln durchzusetzen. Das zeigt
sich nicht zuletzt in der Abwertung schwacher Gruppen. Zivilisierte,
tolerante, differenzierte Einstellungen, die in
höheren Einkommensgruppen einmal anzutreffen waren, scheinen
sich in unzivilisierte, intolerante – ja: verrohte
– zu verwandeln.“ „Die
geballte Wucht, mit der die Eliten einen rabiaten Klassenkampf von Oben
inszenieren, und die Transmission der sozialen Kälte durch
eine rohe Bürgerlichkeit, die sich selbst in der Opferrolle
wähnt und deshalb schwache Gruppen ostentativ abwertet,
zeigen, dass eine gewaltförmige Desintegration auch in dieser
Gesellschaft nicht unwahrscheinlich ist.“ [Wilhelm Heitmeyer
(Hrsg.), Deutsche Zustände. Folge 10, Frankfurt 2012, S.35] In
Frage steht also die Integrationsfähigkeit der Gesellschaft.
Auf einem abstrakten Niveau verhandelt Hayek dies im Rahmen seines
Neoliberalismus. Er nennt seine Vorstellung einer
„großen", „offenen" Gesellschaft
Katallaxie. Damit soll, so Hayek, deutlich werden, dass Handel treiben
das Wesen der Gesellschaft ist, eben weil das griechische Verb
katallaktein mit seinen beiden Bedeutungen „Handel treiben"
und „in die Gesellschaft aufnehmen" dies angemessen auf den
Begriff bringe. [Friedrich August von Hayek, Grundsätze einer
liberalen Gesellschaftsordnung, in: Hayek, Freiburger Studien.
Gesammelte Aufsätze von F.A. von Hayek, Tübingen
1969, S. 121] Wer demnach nichts zu verkaufen hat, Langzeitarbeitslose
beispielsweise bieten offenbar eine Ware (Arbeitskraft) an, die niemand
kaufen will, der ist nicht in die Gesellschaft, die Gemeinschaft
aufgenommen. Wer am Handel nicht teilnehmen kann, ließe sich
als gemeinschaftsfremd bezeichnen. Wer dagegen erfolgreich Handel
betreibt, der kann sich legitimiert sehen, den Misserfolg und die
Erfolglosen zu verachten. Konfliktfrei ist diese Gesellschaft dann,
wenn alle die Voraussetzung des Handel-Treibens zur Aufnahme in die
Gesellschaft bejahen, die Erfolgreichen ebenso wie die Verlierer.
(Für die Verlierer, etwa nach einem sogenannten Burn-out,
heißt das, sich selbst zu verachten – und
möglicherweise zur eigenen Entlastung jemand, dessen
gesellschaftliche Stellung sie als noch niedriger einschätzen.) In
dieser Welt ist alle menschliche Tätigkeit, alles Verhalten
unternehmerisch. Sich einordnen in die Gesellschaft, ihre Werte
übernehmen heißt demnach, sich anpassen im Markt und
für den Markt. [Viele abstruse Beispiele hierfür
finden sich im Chicagoer Journal of Political Economy. Sehr
aufschlussreich ist ein Aufsatz von Demsetz im North Carolina Law
Review. Demsetz empfiehlt Leuten, die am Arbeitsmarkt diskriminiert
werden, auf Lohn zu verzichten. Damit entstünden dem
Unternehmer wegen seiner Diskriminierung Kosten und damit für
ihn ein Grund, sein Verhalten zu ändern. Harold Demsetz,
Minorities in the Market Place, in: "North Carolina Law Review", Vol.
43, 1964/65, S. 270ff.] Kurz und gut: Wir sollen unser Dasein
unternehmerisch verstehen, unserer persönlichen Lebensweise
unternehmerische Formen geben. (Die Ich-AG ist die Auforderung der
Politik, dies zu tun. Die Ratgeberliteratur informiert über
Einzelheiten, so beispielsweise, wie man sich gut verkauft.) Der freie,
ungehinderte Marktprozess siebt also das Unbrauchbare heraus und
trägt so bestmöglich zu dem bei, was Hayek
„kulturellen Evolution“ nennt. Das Heraussieben
schafft nicht aus allen, wohl aber aus den in die Gesellschaft
aufgenommenen eine homogene Einheit. Diese Homogenisierung der Mehrheit
wiederum kann als Instrumentarium dienen für die
„Integration verschiedener sozialer Erwartungen und
Rechtfertigungen, zugleich aber für Ausgrenzung, Denunziation,
Verfolgung und Gewalt“. [Hans-Ulrich Thamer im Zusammenhang
mit der Ausstellung zum sozialen Zusammenhalt 1933-1944 im Deutschen
historischen Museum in Berlin, zitiert nach S.F. Kellerhoff, Welt
online vom 14.10.] Auslese
als Bindeglied zwischen Faschismus und entkultiviertem
Bürgertum Die Attraktivität dieser
Ideologie besteht offenbar in der Überzeugung, dass der Markt
zu Recht die Unnützen herausgesiebt hat. Schließlich
gehört das uneingeschränkte Bekenntnis zu Markt und
Wettbewerb zu den – wenngleich nicht kodifizierten
– Normen dieser Gesellschaft. Die rohe
Bürgerlichkeit beweist eine Einstellung, auf der auch der
deutsche Faschismus aufbauen konnte. „Asoziale“ war
im Verständnis der faschistischen Ideologie eine
Sammelbezeichnung für als „minderwertig“
eingestufte Menschen aus den sozialen Unterschichten. Sie galten als
„Ballastexistenzen“, die im offiziellen
Verständnis sozialen Randgruppen zugehörten oder
schwere Leistungs- und Anpassungsdefizite hätten. Sie waren
„unnütze Esser“,
„Volksschädlinge“. Für diese
musste die „gutwillige“ und
„fleißige“ Mehrheit der
„Volksgemeinschaft“ zu ihrem Nachteil aufkommen.
Insofern war es nur folgerichtig, dass der Begriff
„asozial“ schließlich vom Begriff
„gemeinschaftsfremd“ abgelöst wurde.
Vorbereitet wurde ein
„Gemeinschaftsfremden-Gesetz“, das aber nicht mehr
zustande kam [Wikipedia, Eintrag
„gemeinschaftsfremd“
http://de.wikipedia.org/wiki/Asoziale_(Nationalsozialismus)
heruntergeladen am 16.5.2013]. Ein psychischer Habitus, der all dies
als im Grunde zutreffend gelten ließ, ist auch geeignet, nun
der Vorstellung des „Leistungsträgers“
anzuhängen, der immerhin (dennoch zivilisierter als im
Faschismus) verlangen kann, dass Erwerbslose
„gefordert“ werden, jede Arbeit zu jedem Preis und
an jedem Ort anzunehmen. Denn allemal muss ja ihr Sozialeinkommen von
den fleißigen Leistungsträgern erarbeitet werden. Um
die Ähnlichkeiten zwischen dem, was Heitmeyer rohes
Bürgertum nennt, und den Parteigängern des Faschismus
zu erfassen, muss das Verständnis des Faschismus über
seine moralische Verwerflichkeit hinausgehen. Denn Faschismus ist nicht
einfach nur Schreckensherrschaft. Wichtig ist, seine Ideologie zu
begreifen, eine Ideologie, deren sozialpsychische Voraussetzungen ja
vorhanden waren und denen er einen klaren Ausdruck gegeben hat. Welcher
Persönlichkeit kam er entgegen, wessen Interesse hat er
verfolgt? War es die Mittelschicht mit ihren typischen
Attitüden? Ist sie identisch mit den Kleinbürgern? In
welchem Umfang? Eine zweite, triviale Frage schließt sich an:
Welches Interesse hatten die führenden Kapitalisten am
Faschismus? Die Antworten beschreiben, dass der Faschismus die
Widersprüche des Kapitalismus nicht aufgelöst,
sondern eine Massenbasis zusammengebracht hat, auf die sich das
Interesse der tonangebenden Kapitalisten stützten konnte. Ein
wesentliches Moment der Ideologie dieser Massenbasis ist Wettbewerb und
Auslese. Unternehmerisches Verhalten ist bestimmt von Kosten- und
Nutzenerwägungen. Die Kosten sind zu minimieren, was nichts
einbringt, ist nutzlos und wird ausgesondert. Wer nichts
Nützliches anzubieten hat, kann nicht in die Gesellschaft
aufgenommen sein. Damit ist festgelegt, nach welchen
Grundsätzen der totale Markt – er ist dann total,
wenn unsere ganze Lebensweise unternehmerische Formen angenommen hat
– seine Auslese trifft. Dieser Rigorismus
des totalen Marktes kommt der Verachtung des Schwachen, wie wir dies
vom Faschismus kennen, recht nahe. Die faschistische Sprache bedient
sich in diesem Kontext der Begriffe der liberalistischen Ideologie
[Vgl. Lutz Winkler, Studie zur gesellschaftlichen Funktion
faschistischer Sprache, Frankfurt 1970, S. 91], auch wenn sich der
Faschismus grundsätzlich zum Erzfeind des Liberalismus
erklärt hat. Bei Hitler lassen sich eine Reihe von Belegen
finden, die ebenso gut in ein marktradikales Lehrbuch der
Ökonomie passen: „Planmäßige
Leitung“ so Hitler, sei ein „gefährliches
Unternehmen (...), weil jeder Planwirtschaft nur zu leicht die
Verbürokratisierung und damit die Erstickung der ewig
schöpferischen privaten Einzelinitiative folgt. (…)
Diese Gefahr wird noch erhöht durch die Tatsache,
daß jede Planwirtschaft nur zu leicht die harten Gesetze der
wirtschaftlichen Auslese der Besseren und der Vernichtung der
Schwächeren aufhebt oder zumindest einschränkt
zugunsten einer Garantierung der Erhaltung auch des minderwertigen
Durchschnitts (...).“ [Rede von Adolf Hitler am 21. Mai 1935
im Deutschen Reichstag, in: Paul Meier-Benneckenstein (Hrsg.):
Dokumente der deutschen Politik, Band 3, Berlin 1937, S. 71f.]
Ähnliche Nachweise hat Lutz Winckler zusammengestellt.
„Soweit sich die Mechanismen der liberalen Konkurrenz und des
Aufstiegs, die Widersprüche im Kapitalismus nicht ungewollt in
der Wendung vom „natürliche(n)
Ausleseprozeß (676), vom „freie(n) Spiel der
Kräfte“ (422), vom „aristokratische(n)
Prinzip der Natur“ (69) und im
„Persönlichkeitsprinzip“ (48/9)
durchsetzen, werden sie bzw. ihre klassischen ideologischen Korrelate
ganz bewusst umfunktioniert: Humanität wird zur
„Humanität der Natur (...), die die
Schwäche vernichtet, um der Stärke den Platz zu
schenken“(145).“ Oder mit anderen Worten: Lohn und
Strafe durch die Auslese des Wettbewerbs, freie Bahn dem
Tüchtigen gehört ohnehin zur Ideologie der
Massenbasis des Faschismus. Hier muss Liberalismus nicht umgedeutet
werden. Anders beim Humanismus als einer anderen Facette des
Liberalismus. Wenn es um rigorose Auslese geht, ist
auch Hayek nicht zurückhaltend: Für ihn ist sie
Bestandteil seiner Evolutionstheorie. In einem Interview sagt er:
„Gegen die Überbevölkerung gibt es nur die
eine Bremse, nämlich daß sich nur die
Völker erhalten und vermehren, die sich auch selbst
ernähren können." Das sei, so Hayek, kein
Sozialdarwinismus, sondern „bei mir geht es um einen
gesellschaftlichen Evolutionsprozeß". [Friedrich August von
Hayek: Ungleichheit ist nötig, Interview mit Stefan Baron, in:
Wirtschaftswoche Nr. 11, 1981. Dieses Interview wurde nach Hayeks Tod
erneut in der Wirtschaftswoche publiziert (Nr.3 vom 11. Januar 1996).
Die hier zitierte Passage ist dort allerdings nicht mehr wiedergegeben.] Damit
ist nun – das muss erneut betont werden – nicht
behauptet, dass es sich beim Neoliberalismus um Faschismus handelte.
Beides sind Formen bürgerlicher Herrschaft. Hayek
sympathisierte nicht mit Hitler. Plebejische SA-Leute sagten ihm nicht
zu. (Anders dagegen wahrscheinlich SA-Mitglieder, die der Mittelschicht
angehörten, so Notare, Hochschullehrer oder spätere
Bundespräsidenten.) Auch kennt der totale Markt keinen
Führer und keine anhaltende
„Volksbewegung“, so wie sie in ständigen
Kampagnen von faschistischen Regimes inszeniert wird. Denn die
neoliberale Gemeinschaft ist nicht Volksgemeinschaft, sondern die
Gemeinschaft derer, die in den Markt aufgenommen sind. Und in der
neoliberalen Theorie ist es nicht ein Führer oder seine
Partei, die alles steuern würden, sondern die individuellen
Nutzenerwägungen der Individuen. Aber die Idee rigoroser
Auslese im Wettbewerb, und damit im
„Evolutionsprozess“ allgemein, verdeutlicht doch
eine – worauf Winckler hinweist –
„ungewollte“ Verwandtschaft. Beachtung verdient
auch, dass rechtsradikale Parteien wie die österreichische
FPÖ oder die Französische Front National Friedman
oder Hayek sehr ausgiebig und zustimmend zitieren. Ein
Anklang von Rückgriff auf völkische Traditionen ist
auch, wenn Kanzlerin Merkel in ihrer Regierungserklärung am
30. November 2005 sagt: „Wir sind uns bewusst, dass ein Volk
mehr ist als eine lose Ansammlung von Individuen, und wir wissen, dass
ein Volk auch immer eine Schicksalsgemeinschaft ist.“
[Regierungserklärung von Bundeskanzlerin Angela Merkel vom 30.
11. 2005, Protokollarische Mitschrift des Deutschen Bundestages] Eine
Überlebensgemeinschaft also in der kulturellen Evolution.
Ähnliche Beschwörungen von Homogenität
finden sich schon bei Ludwig Erhard. 1965 lanciert er seine Idee der
„formierten Gesellschaft“. Sie muss „eine
sinnvoll gegliederten Gesellschaft [sein]..., die dem Einzelnen und der
Gemeinschaft ein Gefühl der Geborgenheit geben ...“
[Erhards, Rede auf dem 13. Bundesparteitag der CDU am 31.3.1965 in
Düsseldorf, Presse- und Informationsamt, S. 11] Die
Voraussetzungen für eine „neue kulturelle und
zivilisatorische Höhe unseres Staates und unseres
Volkes“ sind zu bereiten. „Wir müssen
vielmehr wieder dazu kommen, mehr auf das Ganze zu schauen..., nicht
nur auf das individuelle Sein, sondern auf das Volk, auf die Nation,
auf die umfassenden Formen der Gemeinschaft und der Gesellung im Leben
(...)“ [Erhard, Rede vor der Aktionsgemeinschaft Soziale
Marktwirtschaft am 11.5.1965 in Bad Godesberg, Presse- und
Informationsamt, S. 21] Trotz all dieser
Übereinstimmungen und Ähnlichkeiten lässt
sich schwerlich behaupten, die Forschungsergebnisse der Gruppe um
Heitmeyer berechtigten etwa zu der Voraussage, dass der historische
Faschismus eine neue Chance hätte. Entscheidend ist vielmehr,
dass der Rigorismus des Bürgertums dabei ist, sich sein
passendes politisches Regime zu schaffen. Dieses Regime müsste
auf eine Beseitigung der Demokratie, der parlamentarischen
Institutionen aus sein, wenn die Gefahr bestünde, dass sich
das Parlament dem Rigorismus des Bürgertums ernsthaft
widersetze. Wenn aber eine große Mehrheit
ihr Dasein unternehmerisch versteht, ein entkultiviertes
Bürgertum die Meinungsführerschaft
übernommen hat und bei der Kultur als Gestaltung des realen
Lebens den Ton angibt, dann sind Parlamentsmehrheiten der beste
Sachwalter des allgemeinen Rigorismus. Dann muss die Bourgeoisie nicht
Demokratie und Parlamentarismus – ihr bedeutendster
politischer Erfolg gegenüber dem Feudalismus –
beseitigen, um sich gegen ihren gesellschaftlichen Feind zu
verteidigen. [In der Tat, für den historischen Faschismus gilt
die schwerwiegende Tatsache, „daß das
Bürgertum insgesamt bereitwillig mit dem Faschismus paktiert
oder ihm zumindest hilflos gegenübergestanden hat. Dennoch hat
es dessen Sturz nicht als den eigenen erlebt; der Ost-West-Konflikt und
die gesellschaftliche Restauration in Westdeutschland konservierte
politische Verhaltensweisen und Vorurteile des Bürgertums aus
der Zeit des Faschismus bis weit in die Nachkriegszeit
hinein.“ Lutz Winckler, a.a.O., S. 12] Vielmehr haben sich
die traditionellen politischen Parteien so sehr einander angeglichen,
dass sie bei jeder Mehrheit das dem Rigorismus angemessene politische
Regime garantieren. (Die Grünen sind ein passendes Beispiel
dafür, wie neue politische Bewegungen sozialisiert,
„in die Gesellschaft aufgenommen“ werden. Dies
zeigt auch, wie langwierig es für Die Linke sein muss, zu
Mehrheiten zu kommen, wenn sie diese Angleichung verweigert.) Die Halbbildung des
entkultivierten Bürgertums Bildung als
Merkmal des Bürgertums – jedenfalls sagen sich die
„Leistungsträger“, besonders die obere
Statusgruppe, umso mehr „Bildungsnähe“
nach, je höher ihr Einkommen ist – wird im 18.
Jahrhundert begründet. „Die Qualitäten, die
dann nachträglich den Namen Bildung empfingen,
befähigten die aufsteigende Klasse zu ihren Aufgaben in
Wirtschaft und Verwaltung. Bildung war nicht nur Zeichen der
Emanzipation des Bürgertums, nicht nur das Privileg, das die
Bürger vor den geringen Leuten, den Bauern, voraushatten. Ohne
Bildung hätte der Bürger, als Unternehme, als
Mittelsmann, als Beamter und wo auch immer kaum
reüssiert.“ [Theodor Adorno, Theorie der
Halbbildung, Frankfurt 2006, S. 17, Vortrag von Adorno im Mai 1959 auf
den Deutschen Soziologentag] Von Beginn seiner historischen Karriere an
ist der Bürger sicherlich durch Bildung seiner Emanzipation
als Klasse verpflichtet, aber indem er im Kapitalismus zur
Funktionselite wird, er seine Emanzipation als vollendet versteht,
verliert die Aura des Bildungsbürgers ihren Glanz: Halbbildung
– konzentriert auf das Fortkommen im Beruf – ist
das Ergebnis. Damit ist, sehr grundsätzlich, die Frage
angesprochen, wie es denn mit „der Moderne“
weitergehen soll. Kann sie „vollendet“ werden, wie
Habermas fragt, damit sich Condorcets Erwartung erfüllt,
Künste und Wissenschaften könnten nicht nur die
Kontrolle der Naturkräfte befördern, sondern auch die
Welt- und Selbstdeutung, den moralischen Fortschritt, die Gerechtigkeit
der gesellschaftlichen Institutionen, sogar das Glück der
Menschen? Oder ist das Projekt der Moderne verloren zu geben, indem
„die kognitiven Potentiale, soweit sie nicht in technischen
Fortschritt, ökonomisches Wachstum und rationale Verwaltung
einfließen, so eingedämmt (...) (werden),
daß eine auf erblindete Traditionen verwiesene Lebenspraxis
nur ja unberührt bleibt.“ [Jürgen Habermas,
Die Moderne - ein unvollendetes Projekt, in: derselbe, Die Moderne -
ein unvollendetes Projekt. Philosophisch-politische Aufsätze
1977 - 1992, Leipzig 1992, S. 42 Ursprünglich: Rede aus Anlass
der Verleihung des Adorno-Preises der Stadt Frankfurt am 11.9.1980]
Abgesehen von der Frage, ob die Lebenspraxis tatsächlich auf
„erblindete Traditionen“ verwiesen ist, oder ob
darunter, deutlicher ausgedrückt, die Verwertung von
Humankapital, von Menschenmaterial, zu verstehen ist: Entscheidend
bleibt die Verbindung der bildungsnahen Schichten, der
Leistungsträger – wie sie sich selbst nennen
– mit ihrer in der empirischen Sozialforschung nachgewiesenen
elitär motivierten Menschenfeindlichkeit. (Adorno verweist auf
Karl Korn: „die Sprache des Angebers ist geradezu die
Ontologie von Halbbildung [Adorno, a. a. O., S. 48]. Hierher
gehört auch, wie stolz die Leistungsträger ihre
„Vielbeschäftigtkeit und
Überlastung“ zur Schau tragen [ebenda, S.50]
– oder die Wendung von der „hart arbeitenden
Mittelklasse“. Deren Überheblichkeit mag auch ihre
Stütze haben in nebelhaften Resten der
Prädestinationstheorie: Der wirtschaftlich Erfolgreiche ist
von Gott auserwählt. Abwertende Begriffe wie
„Wutbürger“ oder
„Gutmenschen“ können die
Menschenfeindlichkeit weiter illustrieren. Wenn nun Bildung nichts
weiter ist als ökonomisch verwertbares Wissen in der
vorherrschenden unternehmerischen Lebenspraxis, dann betreibt der
Halbgebildete Selbsterhaltung ohne Selbst. [ebenda, S. 49] Was Bildung
an Erfahrung, Begriff und Urteil ermöglichen könnte,
„wird ersetzt durch die punktuelle, unverbundene,
auswechselbare und ephemerische Informiertheit, der schon anzumerken
ist, dass sie im nächsten Augenblick durch andere
Informationen weggewischt wird.“ [ebenda, S. 50f.] Fraglos
ist es der Zweck der „Entrümpelung“ der
Lehrpläne, der komprimierten Bachelor und
Master-Studiengänge, der Modularisierung des Studiums, der
Verkürzung der Schulzeit an den höheren Schulen,
diese Entwicklung zu fördern. Urteil (im Sinne Adornos)
stützt sich dann nicht auf umfassende Information: Es ist
vielmehr sogleich moralisch und unreflektiert – oft
gestützt auf nicht identifizierte Rudimente christlicher
Normen, vom Hörensagen oder aus der Grundschule. Was sind die Aussichten? Die
Gesellschaft muss verrohen, wenn sie weiter von einer unternehmerischen
Lebens- und Verhaltensweise bestimmt ist. Heitmeyer spricht von einer
„strikte(n) Trennung zwischen Gewinnern und
Verlierern“, einer „Dichotomie von
Leistungsträgern und
Überflüssigen.“ [Eva Groß, Julia
Gundlach, Wilhelm Heitmeyer, Die Ökonomisierung der
Gesellschaft. Ein Nährboden für Menschenfeindlichkeit
in oberen Status- und Einkommensgruppen. In: Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.)
Deutsche Zustände. Folge 9, Frankfurt 2010, S. 140f.] Hierbei
wertet die obere Statusgruppe die schwachen Gruppen am
stärksten ab. [Ebenda, S. 149] (Hierzu mag die Tradition der
Trennung von geistiger und körperlicher Arbeit beitragen.) Die
ökonomisierte Gesellschaft ist der Nährboden
für elitär motivierte Menschenfeindlichkeit. [Ebenda,
S. 152] Es ist nun nicht mehr die Herrenrasse des Faschismus, die
Menschen aussondert, sondern das entkultivierte, rabiate
Bürgertum. Unterstützt wird dies
von der (vorherrschenden) neoklassischen Wirtschaftstheorie. Sie
behauptet, dass Arbeitslosigkeit die Folge zu hoher Löhne ist:
Wer keinen übertriebenen Lohn fordert, wer
tatsächlich arbeiten will, findet eine Beschäftigung.
(Kurt Beck, damals Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz und
Parteivorsitzender der SPD, hat das im Jahr 2006 so auf den Punkt
gebracht: „Wenn Sie sich waschen und rasieren, dann finden
Sie auch einen Job.“ Endlich brauchen wir keine
Wirtschaftstheorie mehr. Seife und Rasierzeug reichen aus.) In dieser
Welt sind die Arbeitslosen selbst für Ihre Lage
verantwortlich. Das Fördern, besonders aber das Fordern der
Hartz-IV-Gesetzte, soll ihnen dies deutlich machen. Keynesianische
Theorie sieht das anders: Zu Arbeitslosigkeit kommt es, weil die
gesamtwirtschaftliche Nachfrage zu gering ist. Es wird weniger Arbeit
benötigt, um die nachgefragten Waren herzustellen. Folglich
sind die Arbeitslosen nicht für ihre Lage verantwortlich, denn
schließlich können sie die Gesamtnachfrage nicht
vergrößern. Von Eigenverantwortung für
Arbeitslosigkeit kann hier nicht die Rede sein. Wer nun wird von der
Arbeitslosigkeit mit der höheren Wahrscheinlichkeit erwischt?
Wenn mehr Arbeitsstunden angeboten werden, als die Unternehmen
nachfragen, sieben die Unternehmen all die heraus, die die
vergleichsweise geringere Produktivität haben und folglich
– wenn die Höhe des Lohnes festgelegt ist
– für das Unternehmen weniger Gewinn abwerfen. Die
deswegen heraus Gesiebten werden arm. Vom Unternehmensinteresse her ist
es rational, die Belegschaft so zu auszumustern. Und eine Gesellschaft,
die in jeder Facette nach unternehmerischen
Kosten-Nutzen-Erwägungen handelt, ist bereit, die so nutzlos
Gewordenen zu verachten. Sozialpolitik in
bescheidenem Umfang für die in einem unternehmerischen Sinn
nutzlos gewordenen ist dennoch trotz aller elitär motivierten
Menschenfeindlichkeit vorgesehen. Dies belegt nicht nur die Harz
IV-Gesetzgebung. Selbst Milton Friedman will Sozialpolitik nicht
völlig abschaffen. [Milton Friedman, Kapitalismus und
Freiheit, München 1976, Kapitel 11, Sozial- und
Wohlfahrtsmaßnahmen] Er ist hier weniger rigoros als Hayek
gegenüber Völkerschaften, die „sich nicht
selbst ernähren können“. In diesen
Zusammenhang gehört auch das bedingungslose Grundeinkommen, so
wie es etwa von Straubhaar begründet wird: Er
befürwortet ein bedingungsloses Grundeinkommen, weil dies
allen, die nicht einer geregelten Erwerbsarbeit nachgingen, ein
bescheidenes Auskommen ermögliche, so dass es keinen Grund zum
Aufbegehren gebe. Es diene dazu, „dass der Gutverdienende und
der Kapitalist in Ruhe seine Arbeit machen kann.“ [Thomas
Straubhaar, Wir haben keine andere Wahl. Interview mit Prof. Thomas
Straubhaar, Direktor des Hamburger Welt-Wirtschafts-Instituts HWWI.
brand eins. Heft 7, 2005] Diese Variante des Umgangs mit denjenigen,
die in Hayeks Sinn nicht in die Gesellschaft aufgenommen sind, macht
einen humanistischen Eindruck. Und da überrascht es nicht,
wenn selbst aufgeklärte Zeitgenossen dem Projekt etwas
abgewinnen können – das Ganze dann ideologisch
versüßt mit grundsätzlicher Kritik an der
Erwerbsarbeit als Fetisch, als Integration in eine unternehmerisch
verformte Gesellschaft – oder versüßt
durch den subkutanen Wunsch, auch ohne Erwerbsarbeit existieren zu
können, wenngleich bescheidener als der vermögende
Bourgeois etwa des 19. Jahrhunderts, der von den Erträgnissen
seines Vermögen leben konnte. Dass eine
zweigeteilte Gegenwartgesellschaft stabil sein kann, zeigen die USA.
Kann es dennoch eine grundlegende Veränderung geben? Was sind
die Voraussetzungen? Die große Mehrheit, die von Arbeit lebt,
nach Erwerbsarbeit sucht, wegen geringem Lohn zu wenig Altersrente hat,
noch in der Ausbildung ist, all diese haben ein gemeinsames Interesse:
Ein Einkommen, das sich an der Produktivität der Arbeit
orientiert, ein funktionierender Sozialstaat, Zugang zu Bildung und
beruflicher Ausbildung. Es kommt nun darauf an, dass sie sich Klarheit
verschaffen über ihr gemeinsames Interesse und
darüber, dass sie die Mehrheit sind. Wenn sie sich dann noch
auf eine zutreffende Erklärung der wirtschaftlichen
Zustände verständigen können, ist der Anfang
für eine Veränderung gemacht. Bewerbungstraining
für Stellen, die es nicht gibt, hilft dagegen nichts Und
ebenfalls nicht Resignation oder Selbstbezichtigung der Art, dass die
eigene Armut und Arbeitslosigkeit der eigene Fehler gewesen sei. Die
Aufgabe besteht darin, vom verachteten Objekt zum handelnden Subjekt zu
werden, sich selbst kollektiv um die öffentlichen
Angelegenheiten zu kümmern. Raum dafür gibt es:
Initiativen, Gewerkschaften, eine politische Partei. Herbert
Schui war bis zur Pensionierung 2005 Professor für
Volkswirtschaftslehre an der Hamburger Universität für
Wirtschaft und Politik (HWP) und von 2005 bis 2010 Mitglied des
Deutschen Bundestages, Fraktion Die Linke. Zuerst erschienen in Hintergrund 3/2013 (http://www.hintergrund.de) |