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Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes
Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten

Landesvereinigung NRW

 

04.12.2013

Über "Neoliberalismus und Faschismus" diskutiert

Landesausschuss der VVN-BdA beriet über Vorbereitung der Landesdelegiertenkonferenz

Die Landesaussschußtagung der nordrhein-westfälischen VVN-BdA am 23. November 2013 in der Alten Synagoge Wuppertal hat sich mit der weiteren Vorbereitung der Landesdelegiertenkonferenz am 8. Februar 2014 befasst. Zur inhaltlichen Vorbereitung gehört auch das Referat zum Thema "Neoliberalismus und Faschismus" von Prof. Herbert Schui. Hier der Text im Wortlaut, der die Gedanken seines Referats wiedergibt:

Die neue Bürgerlichkeit: Halbbildung und elitär motivierte Menschenfeindlichkeit

Die soziale Lage in den entwickelten Industrieländern ist absurd: Die Produktivität der Arbeit ist wegen der überaus entwickelten Produktionstechnik sehr hoch und nimmt weiter zu. Bei vernünftiger Organisation von Gesellschaft und Wirtschaft ist dies die wirtschaftliche Grundlage für einen höheren Lebensstandard, für mehr privaten Konsum, für bessere öffentliche Dienste und für Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich. Genutzt aber werden diese Möglichkeiten nicht. Vielmehr setzt seit vor rund 40 Jahren – Vollbeschäftigung wird 1972 erreicht – eine Periode zunehmender Arbeitslosigkeit und Armut ein. Eigentlich müsste diese Absurdität Unruhe auslösen, auch wenn für den Anfang nur intellektuelle Unruhe – so wenigstens an den Universitäten. Das Gegenteil aber ist der Fall. Was steht dem entgegen? 

Rohe Bürgerlichkeit

Statt Unruhe breitet sich, wie Wilhelm Heitmeyer dies nennt, rohe Bürgerlichkeit aus. Er fasst die Ergebnisse der Gruppe, die mit ihm forscht, in dieser Weise brillant zusammen: „Rohe Bürgerlichkeit zeichnet sich – befeuert von politischen Entscheidungen – durch Tendenzen eines Rückzugs aus der Solidargemeinschaft aus. Die Entkultivierung des Bürgertums offenbart sich im Auftreten seiner Angehörigen und in der Art und Weise, wie sie versuchen, eigene Ziele mit rabiaten Mitteln durchzusetzen. Das zeigt sich nicht zuletzt in der Abwertung schwacher Gruppen. Zivilisierte, tolerante, differenzierte  Einstellungen, die in höheren Einkommensgruppen einmal anzutreffen waren, scheinen sich in unzivilisierte, intolerante – ja: verrohte – zu verwandeln.“

„Die geballte Wucht, mit der die Eliten einen rabiaten Klassenkampf von Oben inszenieren, und die Transmission der sozialen Kälte durch eine rohe Bürgerlichkeit, die sich selbst in der Opferrolle wähnt und deshalb schwache Gruppen ostentativ abwertet, zeigen, dass eine gewaltförmige Desintegration auch in dieser Gesellschaft nicht unwahrscheinlich ist.“ [Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.), Deutsche Zustände. Folge 10, Frankfurt 2012, S.35]

In Frage steht also die Integrationsfähigkeit der Gesellschaft. Auf einem abstrakten Niveau verhandelt Hayek dies im Rahmen seines Neoliberalismus. Er nennt seine Vorstellung einer „großen", „offenen" Gesellschaft Katallaxie. Damit soll, so Hayek, deutlich werden, dass Handel treiben das Wesen der Gesellschaft ist, eben weil das griechische Verb katallaktein mit seinen beiden Bedeutungen „Handel treiben" und „in die Gesellschaft aufnehmen" dies angemessen auf den Begriff bringe. [Friedrich August von Hayek, Grundsätze einer liberalen Gesellschaftsordnung, in: Hayek, Freiburger Studien. Gesammelte Aufsätze von F.A. von Hayek, Tübingen 1969, S. 121] Wer demnach nichts zu verkaufen hat, Langzeitarbeitslose beispielsweise bieten offenbar eine Ware (Arbeitskraft) an, die niemand kaufen will, der ist nicht in die Gesellschaft, die Gemeinschaft aufgenommen. Wer am Handel nicht teilnehmen kann, ließe sich als gemeinschaftsfremd bezeichnen. Wer dagegen erfolgreich Handel betreibt, der kann sich legitimiert sehen, den Misserfolg und die Erfolglosen zu verachten. Konfliktfrei ist diese Gesellschaft dann, wenn alle die Voraussetzung des Handel-Treibens zur Aufnahme in die Gesellschaft bejahen, die Erfolgreichen ebenso wie die Verlierer. (Für die Verlierer, etwa nach einem sogenannten Burn-out, heißt das, sich selbst zu verachten – und möglicherweise zur eigenen Entlastung jemand, dessen gesellschaftliche Stellung sie als noch niedriger einschätzen.)

In dieser Welt ist alle menschliche Tätigkeit, alles Verhalten unternehmerisch. Sich einordnen in die Gesellschaft, ihre Werte übernehmen heißt demnach, sich anpassen im Markt und für den Markt. [Viele abstruse Beispiele hierfür finden sich im Chicagoer Journal of Political Economy. Sehr aufschlussreich ist ein Aufsatz von Demsetz im North Carolina Law Review. Demsetz empfiehlt Leuten, die am Arbeitsmarkt diskriminiert werden, auf Lohn zu verzichten. Damit entstünden dem Unternehmer wegen seiner Diskriminierung Kosten und damit für ihn ein Grund, sein Verhalten zu ändern. Harold Demsetz, Minorities in the Market Place, in: "North Carolina Law Review", Vol. 43, 1964/65, S. 270ff.] Kurz und gut: Wir sollen unser Dasein unternehmerisch verstehen, unserer persönlichen Lebensweise unternehmerische Formen geben. (Die Ich-AG ist die Auforderung der Politik, dies zu tun. Die Ratgeberliteratur informiert über Einzelheiten, so beispielsweise, wie man sich gut verkauft.) Der freie, ungehinderte Marktprozess siebt also das Unbrauchbare heraus und trägt so bestmöglich zu dem bei, was Hayek „kulturellen Evolution“ nennt. Das Heraussieben schafft nicht aus allen, wohl aber aus den in die Gesellschaft aufgenommenen eine homogene Einheit. Diese Homogenisierung der Mehrheit wiederum kann als Instrumentarium dienen für die „Integration verschiedener sozialer Erwartungen und Rechtfertigungen, zugleich aber für Ausgrenzung, Denunziation, Verfolgung und Gewalt“. [Hans-Ulrich Thamer im Zusammenhang mit der Ausstellung zum sozialen Zusammenhalt 1933-1944 im Deutschen historischen Museum in Berlin, zitiert nach S.F. Kellerhoff, Welt online vom 14.10.]

Auslese als Bindeglied zwischen Faschismus und entkultiviertem Bürgertum

Die Attraktivität dieser Ideologie besteht offenbar in der Überzeugung, dass der Markt zu Recht die Unnützen herausgesiebt hat. Schließlich gehört das uneingeschränkte Bekenntnis zu Markt und Wettbewerb zu den – wenngleich nicht kodifizierten – Normen dieser Gesellschaft. Die rohe Bürgerlichkeit beweist eine Einstellung, auf der auch der deutsche Faschismus aufbauen konnte. „Asoziale“ war im Verständnis der faschistischen Ideologie eine Sammelbezeichnung für als „minderwertig“ eingestufte Menschen aus den sozialen Unterschichten. Sie galten als „Ballastexistenzen“, die im offiziellen Verständnis sozialen Randgruppen zugehörten oder schwere Leistungs- und Anpassungsdefizite hätten. Sie waren „unnütze Esser“, „Volksschädlinge“. Für diese musste die „gutwillige“ und „fleißige“ Mehrheit der „Volksgemeinschaft“ zu ihrem Nachteil aufkommen. Insofern war es nur folgerichtig, dass der Begriff „asozial“ schließlich vom Begriff „gemeinschaftsfremd“ abgelöst wurde. Vorbereitet wurde ein „Gemeinschaftsfremden-Gesetz“, das aber nicht mehr zustande kam [Wikipedia, Eintrag „gemeinschaftsfremd“ http://de.wikipedia.org/wiki/Asoziale_(Nationalsozialismus) heruntergeladen am 16.5.2013]. Ein psychischer Habitus, der all dies als im Grunde zutreffend gelten ließ, ist auch geeignet, nun der Vorstellung des „Leistungsträgers“ anzuhängen, der immerhin (dennoch zivilisierter als im Faschismus) verlangen kann, dass Erwerbslose „gefordert“ werden, jede Arbeit zu jedem Preis und an jedem Ort anzunehmen. Denn allemal muss ja ihr Sozialeinkommen von den fleißigen Leistungsträgern erarbeitet werden.

Um die Ähnlichkeiten zwischen dem, was Heitmeyer rohes Bürgertum nennt, und den Parteigängern des Faschismus zu erfassen, muss das Verständnis des Faschismus über seine moralische Verwerflichkeit hinausgehen. Denn Faschismus ist nicht einfach nur Schreckensherrschaft. Wichtig ist, seine Ideologie zu begreifen, eine Ideologie, deren sozialpsychische Voraussetzungen ja vorhanden waren und denen er einen klaren Ausdruck gegeben hat. Welcher Persönlichkeit kam er entgegen, wessen Interesse hat er verfolgt? War es die Mittelschicht mit ihren typischen Attitüden? Ist sie identisch mit den Kleinbürgern? In welchem Umfang? Eine zweite, triviale Frage schließt sich an: Welches Interesse hatten die führenden Kapitalisten am Faschismus? Die Antworten beschreiben, dass der Faschismus die Widersprüche des Kapitalismus nicht aufgelöst, sondern eine Massenbasis zusammengebracht hat, auf die sich das Interesse der tonangebenden Kapitalisten stützten konnte.

Ein wesentliches Moment der Ideologie dieser Massenbasis ist Wettbewerb und Auslese. Unternehmerisches Verhalten ist bestimmt von Kosten- und Nutzenerwägungen. Die Kosten sind zu minimieren, was nichts einbringt, ist nutzlos und wird ausgesondert. Wer nichts Nützliches anzubieten hat, kann nicht in die Gesellschaft aufgenommen sein. Damit ist festgelegt, nach welchen Grundsätzen der totale Markt – er ist dann total, wenn unsere ganze Lebensweise unternehmerische Formen angenommen hat – seine Auslese trifft.

Dieser Rigorismus des totalen Marktes kommt der Verachtung des Schwachen, wie wir dies vom Faschismus kennen, recht nahe. Die faschistische Sprache bedient sich in diesem Kontext der Begriffe der liberalistischen Ideologie [Vgl. Lutz Winkler, Studie zur gesellschaftlichen Funktion faschistischer Sprache, Frankfurt 1970, S. 91], auch wenn sich der Faschismus grundsätzlich zum Erzfeind des Liberalismus erklärt hat. Bei Hitler lassen sich eine Reihe von Belegen finden, die ebenso gut in ein marktradikales Lehrbuch der Ökonomie passen: „Planmäßige Leitung“ so Hitler, sei ein „gefährliches Unternehmen (...), weil jeder Planwirtschaft nur zu leicht die Verbürokratisierung und damit die Erstickung der ewig schöpferischen privaten Einzelinitiative folgt. (…) Diese Gefahr wird noch erhöht durch die Tatsache, daß jede Planwirtschaft nur zu leicht die harten Gesetze der wirtschaftlichen Auslese der Besseren und der Vernichtung der Schwächeren aufhebt oder zumindest einschränkt zugunsten einer Garantierung der Erhaltung auch des minderwertigen Durchschnitts (...).“ [Rede von Adolf Hitler am 21. Mai 1935 im Deutschen Reichstag, in: Paul Meier-Benneckenstein (Hrsg.): Dokumente der deutschen Politik, Band 3, Berlin 1937, S. 71f.] Ähnliche Nachweise hat Lutz Winckler zusammengestellt. „Soweit sich die Mechanismen der liberalen Konkurrenz und des Aufstiegs, die Widersprüche im Kapitalismus nicht ungewollt in der Wendung vom „natürliche(n) Ausleseprozeß (676), vom „freie(n) Spiel der Kräfte“ (422), vom „aristokratische(n) Prinzip der Natur“ (69) und im „Persönlichkeitsprinzip“ (48/9) durchsetzen, werden sie bzw. ihre klassischen ideologischen Korrelate ganz bewusst umfunktioniert: Humanität wird zur „Humanität der Natur (...), die die Schwäche vernichtet, um der Stärke den Platz zu schenken“(145).“ Oder mit anderen Worten: Lohn und Strafe durch die Auslese des Wettbewerbs, freie Bahn dem Tüchtigen gehört ohnehin zur Ideologie der Massenbasis des Faschismus. Hier muss Liberalismus nicht umgedeutet werden. Anders beim Humanismus als einer anderen Facette des Liberalismus.

Wenn es um rigorose Auslese geht, ist auch Hayek nicht zurückhaltend: Für ihn ist sie Bestandteil seiner Evolutionstheorie. In einem Interview sagt er: „Gegen die Überbevölkerung gibt es nur die eine Bremse, nämlich daß sich nur die Völker erhalten und vermehren, die sich auch selbst ernähren können." Das sei, so Hayek, kein Sozialdarwinismus, sondern „bei mir geht es um einen gesellschaftlichen Evolutionsprozeß". [Friedrich August von Hayek: Ungleichheit ist nötig, Interview mit Stefan Baron, in: Wirtschaftswoche Nr. 11, 1981. Dieses Interview wurde nach Hayeks Tod erneut in der Wirtschaftswoche publiziert (Nr.3 vom 11. Januar 1996). Die hier zitierte Passage ist dort allerdings nicht mehr wiedergegeben.]

Damit ist nun – das muss erneut betont werden – nicht behauptet, dass es sich beim Neoliberalismus um Faschismus handelte. Beides sind Formen bürgerlicher Herrschaft. Hayek sympathisierte nicht mit Hitler. Plebejische SA-Leute sagten ihm nicht zu. (Anders dagegen wahrscheinlich SA-Mitglieder, die der Mittelschicht angehörten, so Notare, Hochschullehrer oder spätere Bundespräsidenten.) Auch kennt der totale Markt keinen Führer und keine anhaltende „Volksbewegung“, so wie sie in ständigen Kampagnen von faschistischen Regimes inszeniert wird. Denn die neoliberale Gemeinschaft ist nicht Volksgemeinschaft, sondern die Gemeinschaft derer, die in den Markt aufgenommen sind. Und in der neoliberalen Theorie ist es nicht ein Führer oder seine Partei, die alles steuern würden, sondern die individuellen Nutzenerwägungen der Individuen. Aber die Idee rigoroser Auslese im Wettbewerb, und damit im „Evolutionsprozess“ allgemein, verdeutlicht doch eine – worauf Winckler hinweist – „ungewollte“ Verwandtschaft. Beachtung verdient auch, dass rechtsradikale Parteien wie die österreichische FPÖ oder die Französische Front National Friedman oder Hayek sehr ausgiebig und zustimmend zitieren.

Ein Anklang von Rückgriff auf völkische Traditionen ist auch, wenn Kanzlerin Merkel in ihrer Regierungserklärung am 30. November 2005 sagt: „Wir sind uns bewusst, dass ein Volk mehr ist als eine lose Ansammlung von Individuen, und wir wissen, dass ein Volk auch immer eine Schicksalsgemeinschaft ist.“ [Regierungserklärung von Bundeskanzlerin Angela Merkel vom 30. 11. 2005, Protokollarische Mitschrift des Deutschen Bundestages] Eine Überlebensgemeinschaft also in der kulturellen Evolution. Ähnliche Beschwörungen von Homogenität finden sich schon bei Ludwig Erhard. 1965 lanciert er seine Idee der „formierten Gesellschaft“. Sie muss „eine sinnvoll gegliederten Gesellschaft [sein]..., die dem Einzelnen und der Gemeinschaft ein Gefühl der Geborgenheit geben ...“ [Erhards, Rede auf dem 13. Bundesparteitag der CDU am 31.3.1965 in Düsseldorf, Presse- und Informationsamt, S. 11] Die Voraussetzungen für eine „neue kulturelle und zivilisatorische Höhe unseres Staates und unseres Volkes“ sind zu bereiten. „Wir müssen vielmehr wieder dazu kommen, mehr auf das Ganze zu schauen..., nicht nur auf das individuelle Sein, sondern auf das Volk, auf die Nation, auf die umfassenden Formen der Gemeinschaft und der Gesellung im Leben (...)“ [Erhard, Rede vor der Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft am 11.5.1965 in Bad Godesberg, Presse- und Informationsamt, S. 21]

Trotz all dieser Übereinstimmungen und Ähnlichkeiten lässt sich schwerlich behaupten, die Forschungsergebnisse der Gruppe um Heitmeyer berechtigten etwa zu der Voraussage, dass der historische Faschismus eine neue Chance hätte. Entscheidend ist vielmehr, dass der Rigorismus des Bürgertums dabei ist, sich sein passendes politisches Regime zu schaffen. Dieses Regime müsste auf eine Beseitigung der Demokratie, der parlamentarischen Institutionen aus sein, wenn die Gefahr bestünde, dass sich das Parlament dem Rigorismus des Bürgertums ernsthaft widersetze.

Wenn aber eine große Mehrheit ihr Dasein unternehmerisch versteht, ein entkultiviertes Bürgertum die Meinungsführerschaft übernommen hat und bei der Kultur als Gestaltung des realen Lebens den Ton angibt, dann sind Parlamentsmehrheiten der beste Sachwalter des allgemeinen Rigorismus. Dann muss die Bourgeoisie nicht Demokratie und Parlamentarismus – ihr bedeutendster politischer Erfolg gegenüber dem Feudalismus – beseitigen, um sich gegen ihren gesellschaftlichen Feind zu verteidigen. [In der Tat, für den historischen Faschismus gilt die schwerwiegende Tatsache, „daß das Bürgertum insgesamt bereitwillig mit dem Faschismus paktiert oder ihm zumindest hilflos gegenübergestanden hat. Dennoch hat es dessen Sturz nicht als den eigenen erlebt; der Ost-West-Konflikt und die gesellschaftliche Restauration in Westdeutschland konservierte politische Verhaltensweisen und Vorurteile des Bürgertums aus der Zeit des Faschismus bis weit in die Nachkriegszeit hinein.“ Lutz Winckler, a.a.O., S. 12] Vielmehr haben sich die traditionellen politischen Parteien so sehr einander angeglichen, dass sie bei jeder Mehrheit das dem Rigorismus angemessene politische Regime garantieren. (Die Grünen sind ein passendes Beispiel dafür, wie neue politische Bewegungen sozialisiert, „in die Gesellschaft aufgenommen“ werden. Dies zeigt auch, wie langwierig es für Die Linke sein muss, zu Mehrheiten zu kommen, wenn sie diese Angleichung verweigert.)

Die Halbbildung des entkultivierten Bürgertums

Bildung als Merkmal des Bürgertums – jedenfalls sagen sich die „Leistungsträger“, besonders die obere Statusgruppe, umso mehr „Bildungsnähe“ nach, je höher ihr Einkommen ist – wird im 18. Jahrhundert begründet. „Die Qualitäten, die dann nachträglich den Namen Bildung empfingen, befähigten die aufsteigende Klasse zu ihren Aufgaben in Wirtschaft und Verwaltung. Bildung war nicht nur Zeichen der Emanzipation des Bürgertums, nicht nur das Privileg, das die Bürger vor den geringen Leuten, den Bauern, voraushatten. Ohne Bildung hätte der Bürger, als Unternehme, als Mittelsmann, als Beamter und wo auch immer kaum reüssiert.“ [Theodor Adorno, Theorie der Halbbildung, Frankfurt 2006, S. 17, Vortrag von Adorno im Mai 1959 auf den Deutschen Soziologentag] Von Beginn seiner historischen Karriere an ist der Bürger sicherlich durch Bildung seiner Emanzipation als Klasse verpflichtet, aber indem er im Kapitalismus zur Funktionselite wird, er seine Emanzipation als vollendet versteht, verliert die Aura des Bildungsbürgers ihren Glanz: Halbbildung – konzentriert auf das Fortkommen im Beruf – ist das Ergebnis. Damit ist, sehr grundsätzlich, die Frage angesprochen, wie es denn mit „der Moderne“ weitergehen soll. Kann sie „vollendet“ werden, wie Habermas fragt, damit sich Condorcets Erwartung erfüllt, Künste und Wissenschaften könnten nicht nur die Kontrolle der Naturkräfte befördern, sondern auch die Welt- und Selbstdeutung, den moralischen Fortschritt, die Gerechtigkeit der gesellschaftlichen Institutionen, sogar das Glück der Menschen? Oder ist das Projekt der Moderne verloren zu geben, indem „die kognitiven Potentiale, soweit sie nicht in technischen Fortschritt, ökonomisches Wachstum und rationale Verwaltung einfließen, so eingedämmt (...) (werden), daß eine auf erblindete Traditionen verwiesene Lebenspraxis nur ja unberührt bleibt.“ [Jürgen Habermas, Die Moderne - ein unvollendetes Projekt, in: derselbe, Die Moderne - ein unvollendetes Projekt. Philosophisch-politische Aufsätze 1977 - 1992, Leipzig 1992, S. 42 Ursprünglich: Rede aus Anlass der Verleihung des Adorno-Preises der Stadt Frankfurt am 11.9.1980] Abgesehen von der Frage, ob die Lebenspraxis tatsächlich auf „erblindete Traditionen“ verwiesen ist, oder ob darunter, deutlicher ausgedrückt, die Verwertung von Humankapital, von Menschenmaterial, zu verstehen ist: Entscheidend bleibt die Verbindung der bildungsnahen Schichten, der Leistungsträger – wie sie sich selbst nennen – mit ihrer in der empirischen Sozialforschung nachgewiesenen elitär motivierten Menschenfeindlichkeit. (Adorno verweist auf Karl Korn: „die Sprache des Angebers ist geradezu die Ontologie von Halbbildung [Adorno, a. a. O., S. 48]. Hierher gehört auch, wie stolz die Leistungsträger ihre „Vielbeschäftigtkeit und Überlastung“ zur Schau tragen [ebenda, S.50] – oder die Wendung von der „hart arbeitenden Mittelklasse“. Deren Überheblichkeit mag auch ihre Stütze haben in nebelhaften Resten der Prädestinationstheorie: Der wirtschaftlich Erfolgreiche ist von Gott auserwählt.  Abwertende Begriffe wie „Wutbürger“ oder „Gutmenschen“ können die Menschenfeindlichkeit weiter illustrieren. Wenn nun Bildung nichts weiter ist als ökonomisch verwertbares Wissen in der vorherrschenden unternehmerischen Lebenspraxis, dann betreibt der Halbgebildete Selbsterhaltung ohne Selbst. [ebenda, S. 49] Was Bildung an Erfahrung, Begriff und Urteil ermöglichen könnte, „wird ersetzt durch die punktuelle, unverbundene, auswechselbare und ephemerische Informiertheit, der schon anzumerken ist, dass sie im nächsten Augenblick durch andere Informationen weggewischt wird.“ [ebenda, S. 50f.] Fraglos ist es der Zweck der „Entrümpelung“ der Lehrpläne, der komprimierten Bachelor und Master-Studiengänge, der Modularisierung des Studiums, der Verkürzung der Schulzeit an den höheren Schulen, diese Entwicklung zu fördern. Urteil (im Sinne Adornos) stützt sich dann nicht auf umfassende Information: Es ist vielmehr sogleich moralisch und unreflektiert – oft gestützt auf nicht identifizierte Rudimente christlicher Normen, vom Hörensagen oder aus der Grundschule.

Was sind die Aussichten?

Die Gesellschaft muss verrohen, wenn sie weiter von einer unternehmerischen Lebens- und Verhaltensweise bestimmt ist. Heitmeyer spricht von einer „strikte(n) Trennung zwischen Gewinnern und Verlierern“, einer „Dichotomie von Leistungsträgern und Überflüssigen.“ [Eva Groß, Julia Gundlach, Wilhelm Heitmeyer, Die Ökonomisierung der Gesellschaft. Ein Nährboden für Menschenfeindlichkeit in oberen Status- und Einkommensgruppen. In: Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.) Deutsche Zustände. Folge 9, Frankfurt 2010, S. 140f.] Hierbei wertet die obere Statusgruppe die schwachen Gruppen am stärksten ab. [Ebenda, S. 149] (Hierzu mag die Tradition der Trennung von geistiger und körperlicher Arbeit beitragen.) Die ökonomisierte Gesellschaft ist der Nährboden für elitär motivierte Menschenfeindlichkeit. [Ebenda, S. 152] Es ist nun nicht mehr die Herrenrasse des Faschismus, die Menschen aussondert, sondern das entkultivierte, rabiate Bürgertum.

Unterstützt wird dies von der (vorherrschenden) neoklassischen Wirtschaftstheorie. Sie behauptet, dass Arbeitslosigkeit die Folge zu hoher Löhne ist: Wer keinen übertriebenen Lohn fordert, wer tatsächlich arbeiten will, findet eine Beschäftigung. (Kurt Beck, damals Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz und Parteivorsitzender der SPD, hat das im Jahr 2006 so auf den Punkt gebracht: „Wenn Sie sich waschen und rasieren, dann finden Sie auch einen Job.“ Endlich brauchen wir keine Wirtschaftstheorie mehr. Seife und Rasierzeug reichen aus.) In dieser Welt sind die Arbeitslosen selbst für Ihre Lage verantwortlich. Das Fördern, besonders aber das Fordern der Hartz-IV-Gesetzte, soll ihnen dies deutlich machen.

Keynesianische Theorie sieht das anders: Zu Arbeitslosigkeit kommt es, weil die gesamtwirtschaftliche Nachfrage zu gering ist. Es wird weniger Arbeit benötigt, um die nachgefragten Waren herzustellen. Folglich sind die Arbeitslosen nicht für ihre Lage verantwortlich, denn schließlich können sie die Gesamtnachfrage nicht vergrößern. Von Eigenverantwortung für Arbeitslosigkeit kann hier nicht die Rede sein. Wer nun wird von der Arbeitslosigkeit mit der höheren Wahrscheinlichkeit erwischt? Wenn mehr Arbeitsstunden angeboten werden, als die Unternehmen nachfragen, sieben die Unternehmen all die heraus, die die vergleichsweise geringere Produktivität haben und folglich – wenn die Höhe des Lohnes festgelegt ist – für das Unternehmen weniger Gewinn abwerfen. Die deswegen heraus Gesiebten werden arm. Vom Unternehmensinteresse her ist es rational, die Belegschaft so zu auszumustern. Und eine Gesellschaft, die in jeder Facette nach unternehmerischen Kosten-Nutzen-Erwägungen handelt, ist bereit, die so nutzlos Gewordenen zu verachten.

Sozialpolitik in bescheidenem Umfang für die in einem unternehmerischen Sinn nutzlos gewordenen ist dennoch trotz aller elitär motivierten Menschenfeindlichkeit vorgesehen. Dies belegt nicht nur die Harz IV-Gesetzgebung. Selbst Milton Friedman will Sozialpolitik nicht völlig abschaffen. [Milton Friedman, Kapitalismus und Freiheit, München 1976, Kapitel 11, Sozial- und Wohlfahrtsmaßnahmen] Er ist hier weniger rigoros als Hayek gegenüber Völkerschaften, die „sich nicht selbst ernähren können“. In diesen Zusammenhang gehört auch das bedingungslose Grundeinkommen, so wie es etwa von Straubhaar begründet wird: Er befürwortet ein bedingungsloses Grundeinkommen, weil dies allen, die nicht einer geregelten Erwerbsarbeit nachgingen, ein bescheidenes Auskommen ermögliche, so dass es keinen Grund zum Aufbegehren gebe. Es diene dazu, „dass der Gutverdienende und der Kapitalist in Ruhe seine Arbeit machen kann.“ [Thomas Straubhaar, Wir haben keine andere Wahl. Interview mit Prof. Thomas Straubhaar, Direktor des Hamburger Welt-Wirtschafts-Instituts HWWI. brand eins. Heft 7, 2005] Diese Variante des Umgangs mit denjenigen, die in Hayeks Sinn nicht in die Gesellschaft aufgenommen sind, macht einen humanistischen Eindruck. Und da überrascht es nicht, wenn selbst aufgeklärte Zeitgenossen dem Projekt etwas abgewinnen können – das Ganze dann ideologisch versüßt mit grundsätzlicher Kritik an der Erwerbsarbeit als Fetisch, als Integration in eine unternehmerisch verformte Gesellschaft – oder versüßt durch den subkutanen Wunsch, auch ohne Erwerbsarbeit existieren zu können, wenngleich bescheidener als der vermögende Bourgeois etwa des 19. Jahrhunderts, der von den Erträgnissen seines Vermögen leben konnte.

Dass eine zweigeteilte Gegenwartgesellschaft stabil sein kann, zeigen die USA. Kann es dennoch eine grundlegende Veränderung geben? Was sind die Voraussetzungen? Die große Mehrheit, die von Arbeit lebt, nach Erwerbsarbeit sucht, wegen geringem Lohn zu wenig Altersrente hat, noch in der Ausbildung ist, all diese haben ein gemeinsames Interesse: Ein Einkommen, das sich an der Produktivität der Arbeit orientiert, ein funktionierender Sozialstaat, Zugang zu Bildung und beruflicher Ausbildung. Es kommt nun darauf an, dass sie sich Klarheit verschaffen über ihr gemeinsames Interesse und darüber, dass sie die Mehrheit sind. Wenn sie sich dann noch auf eine zutreffende Erklärung der wirtschaftlichen Zustände verständigen können, ist der Anfang für eine Veränderung gemacht. Bewerbungstraining für Stellen, die es nicht gibt, hilft dagegen nichts Und ebenfalls nicht Resignation oder Selbstbezichtigung der Art, dass die eigene Armut und Arbeitslosigkeit der eigene Fehler gewesen sei. Die Aufgabe besteht darin, vom verachteten Objekt zum handelnden Subjekt zu werden, sich selbst kollektiv um die öffentlichen Angelegenheiten zu kümmern. Raum dafür gibt es: Initiativen, Gewerkschaften, eine politische Partei.

Herbert Schui war bis zur Pensionierung 2005 Professor für Volkswirtschaftslehre an der Hamburger Universität für Wirtschaft und Politik (HWP) und von 2005 bis 2010 Mitglied des Deutschen Bundestages, Fraktion Die Linke.

Zuerst erschienen in Hintergrund 3/2013 (http://www.hintergrund.de)