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Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes
Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten

Landesvereinigung NRW

 

10.11.2013

Veranstaltung in Bergisch Gladbach zum 9. November

VVN-BdA: Endlich die richtigen Lehren aus NSU-Verbrechen ziehen

Kritik an der Landesregierung von NRW übte Ulrich Sander von der VVN-BdA NRW bei einer Mahnwache in Bergisch Gladbach am 9. November zur Reichspogromnacht . Dass es Neonazis möglich ist, gegen Roma und Flüchtlinge hetzerische Aufmärsche zu organisieren - wie in Duisburg - und dass aus den Lehren des NSU-Skandals keine richtigen Schlüsse gezogen wurden, sei nicht zu entschuldigen. 2006 sind die Hinterbliebenen des NSU-Mordes als Kriminelle verdächtigt worden, obwohl die Familie schon damals auf den möglichen rechten Hintergrund der Täter hinwiesen. Nun werden die Warnungen der Familie wieder mißachtet. Die VVN-BdA fordert: Die Verbindungen des NSU zur Dortmunder Naziszene müssen aufgedeckt werden. Die Landesregierung und der Landtag haben versäumt, einen Untersuchungsausschuss zum NSU-Komplex einzusetzen. Sie haben das V-Leute-Unwesen bestehen lassen und mit einem Verfassungsschutzgesetz den Geheimdienst in unverantwortlicher Weise in seinem Tun bestärkt. Aus der Rede von Ulrich Sander:

Rede bei der Mahnwache anläßlich der Reichspogromnacht vom 9. November 1938, Bergisch Gladbach, 9. 11. 2013

Ich danke für die Gelegenheit, hier bei der traditionellen Mahnwache an der Gedenktafel am ehemaligen Stellawerk in Bergisch Gladbach sprechen zu dürfen. Wir erinnern an die Reichspogromnacht vor genau 75 Jahren. Gestatten Sie mir, auch an die anderen Jahrestage zum 9. November aus dem vorigen Jahrhundert zu erinnern.

So an den 9. November 1918 und die Proklamation der deutschen Republik. Erkämpft wurde sie von revolutionären Arbeiterinnen und Arbeitern sowie Soldaten. Regierungschef wurde Friedrich Ebert, der sich schon bald danach mit den monarchistischen Generälen verbünden sollte.

Erinnern wir an den 9. November 1923, an dem Hitler und Ludendorff gegen die demokratische Republik putschten. Hitler hatte sich der Unterstützung der reaktionären Monarchisten, Militärs und Industriellen versichert. Sein Putsch schlug fehl, aber er leitete die Konterrevolution ein, die vor 80 Jahren am 30. Januar 1933 mit der Machtübertragung an die Nazis durch die republikfeindlichen Kräfte endete.

Auf dem Weg in den Krieg und den Holocaust ist dann der 9. November 1938 ein besonders grauenvolles Ereignis. Die antijüdische Politik und Praxis der Jahre seit 1933 bis 1938 gipfelte zunächst în den Nürnberger Rassengesetzen, die u.a. vom Ministerialbeamten und späteren bundesdeutschen Kanzleramtschef Hans Globke verfaßt wurden. Es kam zum Novemberpogrom, höhnend und verniedlichend „Reichskristallnacht“ genannt. SA- und SS-Trupps, zivil getarnt, sowie andere Nazis zerstörten am 9. und 10. November 1938 Tausende jüdische Geschäfte, Wohnungen und Synagogen. Sie ermordeten Hunderte und kerkerten 30.000 jüdische Menschen ein. Die Nazis drängten sie zur Auswanderung und Aufgabe ihres Besitzes.

Gedenktafel am ehemaligen Stella-Werk in Bergisch-Gladbach. Hier fand am 9.11.13 die Mahnwache statt.Die Schäden des Pogroms wurden von der „Reichsgruppe Versicherungen“ auf 50 Millionen Reichsmark beziffert. Im Auftrag Görings wurde den Juden zum „Schadensersatz“ eine Kontribution auferlegt, die schließlich 1,2 Milliarden RM betrug.  Dieses Geld wurde in die Rüstung gesteckt. Der 9. November 1938 leitete ein Jahr später über in den Krieg, der sich zum Vernichtungskrieg steigern sollte.

Hermann Göring, zweiter Mann nach Hitler, setzte ab 1938 auf den zügigen Abschluß der „Arisierung“ der deutschen Wirtschaft. Er sagte: „Bei der Arisierung der Wirtschaft ist der Grundgedanke folgender: der Jude wird aus der Wirtschaft ausgeschieden und tritt seine Wirtschaftsgüter an den Staat ab.“ Einen Ausblick auf die nächste Zeit gab Göring mit folgenden Ausführungen: „Wenn das Deutsche Reich in irgendeiner absehbaren Zeit in außenpolitischen Konflikt kommt, so ist es selbstverständlich, daß auch wir in Deutschland in aller erster Linie daran denken werden, eine große Abrechnung mit den Juden zu vollziehen.“ Der Novemberpogrom war also der Auftakt zum Krieg und zur Vernichtung der europäischen Juden, aber auch der Roma, und später der Slawen.

Die „große Abrechnung mit den Juden“ kündigte auch Adolf Hitler ein Vierteljahr später an. In seiner Reichstagsrede zum zehnten Jahrestag seiner „Machtergreifung“ am 30. Januar 1939 drohte er mit der „Vernichtung“ der Juden in Europa, wenn „sie“ den Krieg gegen Deutschland heraufbeschwören würden.

Nach dem Pogrom im November 1938 wurde die „Reichszentrale für jüdische Auswanderung“ gebildet; Leiter war der Gestapo-Chef Müller; die tägliche Arbeit organisierte Adolf Eichmann. Die „Auswanderungsarbeit“ unter Eichmanns Führung stand von nun an unter der heimlichen Überschrift „Deportation“ und damit Abtransport in den Tod.

Heute erinnern viele Menschen auch an den 9. November 1989. An diesem Tag fiel in Berlin die Mauer. Es begann ein Prozeß, der in die Vereinigung beider deutschen Staaten einmündete. Immer hat man uns diesen Prozeß der Wiedervereinigung als ‚Einheit in Frieden und Freiheit’ angekündigt. Wie viele Hoffnungen verbanden die Menschen mit diesem Ereignis. Doch jetzt, 24 Jahre später wird immer deutlicher: Nicht Frieden in Freiheit erhielten wir. sondern auch deutsche Kriege infolge der NATO-Mitgliedschaft und weniger Freiheit infolge des wuchernden Überwachungsstaates. Anstelle der Berliner Mauer haben wir nun die Frontex-Mauer, die das EU-Gebiet umschließt und besonders im Mittelmeer zu tödlichen Ausgrenzungen von Flüchtlingen führt.

Wieder gibt es in unserem Lande viele Opfer von rechtem Terror – aber auch von behördlichem Handeln gegen Flüchtlinge. Wir gedenken daher auch der vielen namenlosen Opfer – darunter der Sinti und Roma – die bis heute oft der Abschiebung unterliegen, ferner der Menschen, die in Lampedusa und spanischen wie griechischen Küsten stranden. Neonazis schaffen es, gegen diese Menschen sogenannten Volkszorn zu organisieren. Das ist zutiefst beschämend.

Es ist auch zutiefst beschämend, was in unserem Bundesland Nordrhein-Westfalen passierte. Obwohl hier ebenfalls die Nazimörder des NSU Untaten begangen haben, wurden keine Lehren etwa aus dem Mord von 2006 in Dortmund gezogen. Nordrheinwestfälische Behörden verdächtigten die Familie der Gamze Kubasik, des Opfers in rassistischer Manier. Hinweise auf den Terror von Rechts wurde nicht beachtet. Hinweise auf die Kontakte des Verfassungsschutzes und seiner V-Leute zu den Mördern wurden und werden noch immer nicht untersucht. Der Landtag setzte keinen Untersuchungsausschuß ein, sondern sprach Polizei, Justiz und Verfassungsschutz von jeder Mitverantwortung frei. Ja man behielt sogar das V-Mann-Unwesen bei.

An Tagen wie diesen erinnere ich mich auch immer an einen Tag vor 66 Jahren. Am 1. April 1947 kam ich zur Schule. Es war die Schule am Bullenhuser Damm in Hamburg. Es wurde gemunkelt, hier im Keller hätten die Nazis kurz vor Kriegsende 20 jüdische Kinder ermordet. Die Lehrer stritten es ab, meine Eltern, aktive Antifaschisten, bestätigten es, denn sie hatten davon in der Zeitung gelesen: Die Mörder stünden vor einem englischen Gericht. Einige wurden hingerichtet, andere blieben straffrei. So Arnold Strippel, Kommandeur der Mordaktion. Als genügend Beweise gegen ihn zusammenkamen, wurde erneut ein Prozeß gegen ihn versucht. Aber nun galt die englische Gerichtsbarkeit nicht mehr. Strippel konnte unmittelbar nichts nachgewiesen werden, hatte nicht selbst Hand angelegt. So wurde er freigesprochen und bekam für die Untersuchungshaft noch Entschädigung. Leider haben auch viele weitere unzählige Schuldige ihre verdiente Strafe nicht erhalten.

Wofür wir immer stritten, wird nun doch noch wahr: Jetzt werden neue Verfahren gegen alte Täter auf der Rechten angestrengt. Das beseitigt das alte Unrecht nicht. Vor allem werden immer noch nicht jene belangt, die für Strafbefreiung und hohe Pensionen für Nazis in all den Jahrzehnten sorgten. Sie schulten eine Generation von Geheimdienstlern und Polizisten, die sich nicht vorstellen konnten und wollten, daß es einen terroristischen Nationalsozialistischen Untergrund NSU gibt. Sie sahen das Übel nur links und ließen rechts alle Blumen blühen. Und deshalb ist es richtig, die Prozesse gegen Nazitäter auch heute zu führen.

Der Schwur von Buchenwald für die Ausrottung des Nazismus mit seiner Wurzel und der Artikel 139 GG über den Fortbestand der antinazistischen Rechtssprechung von nach 1945, sie gelten weiter. Für seine Anwendung wie für die des Artikels 26 GG, der Angriffskriege verbietet, sowie des Asylrechts streiten wir weiter. Dafür müssen immer neue Mitstreiter nachrücken. „Das sind wir unseren gemordeten Kameraden und ihren Angehörigen schuldig“, heißt es im Schwur der befreiten Häftlinge von Buchenwald.

Zu diesen Kameraden gehört auch der russische jüdische Offizier Sascha Pechersky, der am 10.Oktober 1943 einen Aufstand im Vernichtungslager Sobibor anführte. Hunderte hatten die Bewacher überwältigt und das Lager verlassen, und Pechersky rief: „Es gibt keinen Weg zurück. Ein schrecklicher Krieg zerstört die Welt und jeder Häftling ist Teil dieses Kampfes,  ob tot oder lebendig.“ Im Gedenken  auch an diese Häftlinge rufen wir. Schluß mit dem Krieg, Nie Wieder!

Mahnwache 2013 in Bergisch Gladbach „Gegen Ausländerfeindlichkeit und Rassismus, für Toleranz und soziale Gerechtigkeit“ anlässlich der Reichspogromnacht von 1938
Eröffnung und Begrüßung
Walborg Schröder, VVN-BdA und DGB-Netzwerk Rhein.Berg

Liebe Teilnehmerinnen und Teilnehmer,

sehr geehrte Frau Koshofer, Erste stellvertretende Bürgermeisterin,

wir haben uns am 75. Jahrestag der Pogromnacht vom 9. November 1938, als in ganz Deutschland die Synagogen brannten,  an dieser geschichtsträchtigen Gedenktafel zusammengefunden. Mit Wut und Entsetzen erinnern wir uns an die Gräueltaten im ehemaligen Stella-Werk, in dem Gladbacher Bürger – Juden, Kommunisten, Sozialdemokraten und Christen – geschlagen, gefoltert, gequält und danach in Konzentrationslager verbracht wurden. Ihre Namen sind in  sieben Stolpersteinen in unserer Stadt eingemeißelt und in einem Buch über Bergisch Gladbacher Antifaschisten  niedergeschrieben worden. Damit wurde ihnen ein Denkmal gesetzt und ihre Namen dem Vergessen entrissen. Ihrer und aller Opfer des Faschismus gedenken wir heute. Wir werden sie nicht vergessen und in ihrem Sinne weiter für Frieden und Demokratie wirken!  

Die Organisatoren dieser Mahnwache „Gegen Ausländerfeindlichkeit und Rassismus, für Toleranz und soziale Gerechtigkeit“ – die VVN-BdA, das DGB-Netzwerk Rhein.Berg und die BezirksschülerInnenvertretung Rhein.Berg - wollen  gemeinsam mit Ihnen, mit Euch ein Zeichen setzen gegen neonazistische Aufmärsche, rechtsextreme Gruppierungen und Antisemitismus.

Erinnern. Denken. Handeln. Nazis und Rassismus wirksam entgegentreten – das war das Thema eines Kongresses des DGB NRW im April dieses Jahres. Das ist eine nachhaltige Aufgabe von Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern.

Ich möchte Ihnen nun die Rednerinnen und Redner der heutigen Mahnwache vorstellen. Ich begrüße Frau Ingrid Koshofer, Erste stellvertretende Bürgermeisterin. Sie wird ein Grußwort  der Stadt Bergisch Gladbach sprechen. Darauf folgt eine Rezitation von Christa Manz-Dewald. Aus Dortmund ist Ulrich Sander, der Bundessprecher der VVN-BdA zu uns gekommen. Er hat in einigen Büchern die Nazivergangenheit unseres Landes und die Wirtschaftsverbrechen der Nazis behandelt und aufgearbeitet. Bülent Iyilik wird als Vorsitzender des Integrationsrates der Stadt zu uns sprechen. Herzlich willkommen, Herr Iyilik! Herr Roland Vossebrecker hat eine beeindruckende Dokumentation über das Thema Auschwitz und den Holocaust verfasst. Er wird sich in seinem Beitrag diesem Thema widmen. Zum Abschluss wird Melisa Dönmez von der BezirksschülerInnenvertretung Rhein.Berg zu uns sprechen und den Standpunkt  junger Menschen darlegen. Wir hoffen, dass es uns in Zukunft doch gelingen wird, mehr junge Menschen zur Teilnahme an der Mahnwache zu gewinnen oder vielleicht tragen die Jugendlichen  ihre neuen  Formen des Engagements gegen das Vergessen, für eine friedliche und gewaltfreie Zukunftsgestaltung an uns heran.

Lassen Sie mich noch kurz  ein paar persönliche Bemerkungen machen zu einem weiteren Jahrestag in diesem Jahr, dem 80. Jahrestag der Machtübertragung an Hitler am 30. Januar 1933. Damit wurde die faschistische Diktatur, die mit 55 Millionen Toten endete, mit all ihren Schrecken und Grausamkeiten für unser Volk und die Völker der Welt eingeleitet. Mein Leben und das Leben vieler Menschen sind eng verknüpft mit dieser Zeit. Ich wurde im März 1933, vor 80 Jahren geboren. Mein Vater schrieb ins Tagebuch: „Am 11. März 1933 wird Walborg geboren. Am Tage war heller Sonnenschein, nachts heller Mondenschein. Der politische Himmel dagegen ist sehr düster. Ich sollte von der ’nationalen Revolution’ in ‚Schutzhaft’ genommen werden. Aber Walborgs bevorstehende Ankunft rettete mich davor“.

Mein Vater war Lehrer, SPD-Mitglied und wurde noch im März 1933 von den Nazis aus dem Schuldienst entlassen. Er wurde arbeitslos und verlor danach sein Wandergewerbe wegen „politischer Unzuverlässigkeit.“ Im September 1939 wurde er in den Krieg eingezogen. Meine Geschwister und ich wuchsen als so genannte Kriegskinder auf. Trotz aller liebevollen Fürsorge der Mutter verspürten wir die Entbehrungen des Krieges, hatten Hunger und immer Angst vor den Bombennächten, sahen die in Lumpen gekleideten Kriegsgefangenen bei harter Feldarbeit, die ständige Angst um den Vater an der Front flößte uns Furcht ein. Das leise sorgenvolle Gespräch der Mutter mit den Nachbarinnen, weil schon wieder einer der Männer im Krieg gefallen war, machte uns Angst. Und überhaupt die Angst. Immer wieder wurden wir Geschwister in der Schule konfrontiert mit dem Beruf des Vaters – Lehrer a.D. außer Dienst. Warum a.D.? Warum ist er nicht Lehrer? Weil er gegen die Nazis war! Das alles hat meine Kindheit geprägt. Deshalb engagiere ich mich mein Leben lang gegen Faschismus und Krieg, für Frieden und Völkerverständigung,  für Arbeit und Brot. Besonders freut es mich, seit vielen Jahren in der Integrierten Gesamtschule Paffrath den Schülerinnen und Schülern meine Erfahrungen als Zeitzeugin vermitteln zu können.

Ich denke, dass uns der heutige Gedankenaustausch bei der Mahnwache neue Impulse geben wird  für unser weiteres Engagement, wie wir dem Rassismus und Rechtsextremismus im alltäglichen und betrieblichen Leben wirksam und nachhaltig begegnen können.

Es spricht jetzt zu ihnen Frau Ingrid Koshofer, die Erste stellvertretende Bürgermeisterin. Danach hören wir Frau Christa Manz-Dewald mit einer Rezitation. Ihr folgen Ulrich Sander, Bülent Iyilik und Melisa Dönmez.

Siehe auch:

Pogromnacht: Plädoyer für Toleranz
http://www.ksta.de/bergisch-gladbach/pogromnacht-plaedoyer-fuer-toleranz,15189226,24988236.html