30.07.2013 Die Nazis und die Massen - Aus der Geschichte lernen? Drittens: Gegensätze und Gemeinsamkeiten im Umgang mit der Nazivergangenheit in der früheren DDR und BRD In
einem Vortrag hat Regina Girod untersucht, wie in beiden
deutschen Staaten mit der Zustimmung von großen Teilen, ja der
Mehrheit der Bevölkerung zum Faschismus vor 1945 umgegangen wurde.
Die Massen der Nachkriegsgesellschaften von der Verantwortung für
das vor 1945 Geschehene zu befreien, war aus sehr unterschiedlichen
Gründen eine fragwürdige Gemeinsamkeit von Ost und West. Dem
"verordneten Antifaschismus" (Ost) stand der "verordnete
Antikommunismus" (West) gegenüber, der derzeit in ganz Deutschland
zur Pflicht gemacht werden soll von jenen, die die
Meinungsvorherrschaft haben. Sich dem entgegenzustellen ist eine
Aufgabe des heutigen Antifaschismus. Hier der Wortlaut de Vortrags,
gehalten auf der Jahrestagung der Neuen Gesellschaft für
Psychologie im März 2013 in Berlin:
Von Dr. Rgina Girod, Bundessprecherin der VVN-BdA, Chefredakteurin des VVN-Magazins "antifa" Aus der Geschichte lernen? Gegensätze und Gemeinsamkeiten im Umgang mit der Nazivergangenheit in früher DDR und BRD Vortrag auf der Jahrestagung der Neuen Gesellschaft für Psychologie im März 2013 in Berlin Aus der Geschichte lernen. Kann
man das? Mahatma Gandhi formulierte pessimistisch: „Die
Geschichte lehrt die Menschen, dass die Geschichte die Menschen nichts
lehrt." Ich meine: Die Geschichte lehrt die Menschen, dass sie vor
allem von den Herrschenden gemacht und interpretiert wird, die seit eh
und je zu unterdrücken suchen, was geeignet scheint, ihre
Herrschaft in Frage zu stellen. Eine methodische Vorbemerkung: Sich
selbst und seine Handlungen in einen geschichtlichen Kontext
einzuordnen, gehört zu den grundlegenden sozialen
Bedürfnissen der Menschen. In allen Gesellschaften wurde ihm in
unterschiedlichen Formen Rechnung getragen. Das Herleiten von Werten
und Ansprüchen aus der Geschichte und die Berufung auf historische
Ereignisse und Persönlichkeiten sind Bestandteil der Kultur aller
Gemeinschaften, ob Staaten, Kirchen oder politische Bewegungen. Auch in
den Familien, ist die Herausbildung und Weitergabe von Werten durch die
Übermittlung der Erfahrung von Generationen geprägt. Aus
dieser großen Bedeutung, die das Bild von der Geschichte für
das eigene Selbstverständnis besitzt, erklärt sich der Kampf
um ihre Deutung. Marx Satz aus der „Deutschen Ideologie":
„Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die
herrschenden Gedanken, d. h. die Klasse, welche die herrschende
materielle Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende
geistige Macht", gilt auch für die Auslegung der Geschichte. Sie
wird bestimmt von jenen, die die Macht besitzen, doch sie ist ein
umkämpftes Terrain. Was gesellschaftliche Mehrheiten
für geschichtliche Wahrheit halten und was nicht, ist einem
ständigen Veränderungsprozess unterworfen. Er hängt von
Interessen ab, von den Fragen, die an die Geschichte gestellt werden,
von politischen, sozialen und kulturellen Umständen. Dieser
Veränderungsprozess verläuft nicht spontan, sondern immer als
Resultat ideologischer und politischer Auseinandersetzungen. Je
näher die eigenen Erfahrungen einem betrachteten Zeitraum stehen,
umso vielfältiger und konkreter sind die Möglichkeiten,
tatsächlich etwas aus ihm zu lernen. Das heißt aber auch, je
weiter entfernt er von der eigenen Erfahrungswelt ist, desto abstrakter
werden die Lehren. Es gibt kein objektives Bild von der Geschichte,
selbst Historiker projizieren unweigerlich ihr Gesellschaftsbild, ihre
Wertvorstellungen, ihre Erfahrungen und Erkenntnisse in die Geschichte.
Viele Versuche, aus der Vergangenheit Lehren für die Gegenwart
abzuleiten, erweisen sich daher bei näherer Betrachtung als
schlichte Instrumentalisierung von Geschichte für ideologische
Zwecke. Deshalb müssen sie aber nicht falsch sein und auch sonst
besteht kein Grund, sich darüber zu entrüsten, denn alle
Seiten verfahren so. Es ist allerdings auch möglich, den Schleier
der Mythen etwas anzuheben, indem man nach den Interessen fragt, die er
verbirgt. Ich möchte das am Beispiel des Umgangs mit der
Nazivergangenheit in der frühen DDR und der BRD tun und lade Sie
ein, scheinbar Bekanntes aus dieser Perspektive neu zu bedenken. Zunächst aber noch eine historische Anmerkung: Für
das Ziehen von Lehren aus dem Faschismus waren die Jahre unmittelbar
nach 1945 die wichtigsten. Und zwar nicht, weil sich die Deutschen auf
den Trümmern des 3. Reiches danach gedrängt hätten, aus
dieser menschengemachten Katastrophe zu lernen, sondern weil das alte
Herrschaftssystem durch den verlorenen Krieg zerstört war und die
Deutungsmacht zumindest eine Zeit lang bei den Siegermächten lag.
Sie brachten die Perspektive der Opfer der faschistischen Politik ein.
Sich mit dieser auseinander zu setzen war für einen demokratischen
Neuanfang in Deutschland unabdingbar. Die mörderische,
rassistische, das Recht mit Füßen tretende Gewaltherrschaft
der Nazis hatte das Wertsystem und die Rechtsauffassung der Deutschen
nachhaltig deformiert. Unmittelbar nach Ende des Krieges ging es daher
vor allem um die Aufklärung und Verurteilung der faschistischen
Verbrechen. Schon früh war dies ein Anliegen der mit Deutschland
im Krieg stehenden und von ihm besetzten Staaten. Bereits 1941
beschlossen die Delegierten der III. Interalliierten Konferenz in
London, dass zu ihren Hauptzielen „die Bestrafung der für
die Verbrechen Verantwortlichen gehöre, gleichgültig, ob sie
diese Taten anordneten, sie selbst begingen oder irgendwie daran
teilnahmen." Roosevelt, Churchill und Stalin übernahmen
diese Forderung, beschlossen allerdings, nur einigen Haupttätern
einen gemeinsamen Prozess zu machen und die anderen in jenen
Ländern vor Gericht zu stellen, in denen sie gemordet hatten. So
wurde der Hauptkriegsverbrecherprozess gegen 22 Angeklagte, der am 1.
Oktober 1946 in Nürnberg mit zwölf Todesurteilen, sieben
Verurteilungen zu Freiheitsstrafen und drei Freisprüchen endete,
zu einem historischen Meilenstein. Ihm folgten noch die -durch
amerikanische Militärgerichte abgehaltenen- sogenannten
Folgeprozesse gegen Ärzte, Juristen, Auswärtiges Amt, OKW,
Einsatzgruppen sowie Konzerne wie Krupp, Flick und I.G. Farben. Das
verbrecherische Wesen des Faschismus trat in ihnen klar zu Tage. Wer
bereit war, es zu sehen, konnte sich der Erkenntnis nicht
verschließen. Die Nürnberger Prozesse stellten so die
Grundlagen einer Rechtsauffassung, die diesen Namen auch verdient,
wieder her. In der deutschen Gesellschaft wurden sie jedoch
überwiegend mit Unverständnis aufgenommen, allgemein hielt
man sie für politische Racheakte der Alliierten. Doch ohne sie und
andere Formen internationalen Drucks wäre die Auseinandersetzung
mit dem Naziregime zumindest im Westen noch unwilliger und langsamer
verlaufen, als das ohnehin der Fall war. Ich mache jetzt einen
Sprung und möchte Ihnen eine Geschichte erzählen. Letzten
Sommer wurde mir für die „antifa" der Text einer Rede zum
100. Geburtstag von Erwin Strittmatter angeboten. Ein brisantes Thema,
war doch, Jahre nach dem Tod des in der DDR überaus beliebten
Autors, bekannt geworden, dass er sich im 2. Weltkrieg als
Angehöriger eines Polizeibataillons an Kriegsverbrechen beteiligt
hatte. Er war wohlgemerkt nicht, wie andere Berühmte, am Ende des
Krieges 17-jährig in die Waffen-SS geraten, sondern hat als
Mittdreißiger auf dem Balkan und in Griechenland an so genannten
„Strafaktionen" und „Einsätzen zur
Partisanenbekämpfung" teilgenommen. Als wollte Erwin Strittmatter
sein lebenslanges Schweigen über diese Zeit wenigstens nach seinem
Tode brechen, hatte er seine Tagebücher aus jenen Jahren
aufgehoben. Zur posthumen Integration des abgespaltenen Teils seines
Lebens durch die Nachkommen, könnte man meinen. In der
genannten Festrede wurde unter anderem die Frage gestellt, wie Erwin
Strittmatter über seine Vergangenheit hätte reden sollen in
einer Gesellschaft, in deren Selbstbild keine Nazitäter passten
und schon gar keine, die danach hoch verehrte, sozialistische
Schriftsteller wurden. Indem sie sein Verhalten in den Kontext
gesellschaftlicher Normen stellte, warb die Autorin bei aller
Distanzierung behutsam um Verständnis. Ich fand das gut. Und
schickte den Text, wie oft in schwierigen Fällen, verbunden mit
der Frage, ob wir ihn bringen sollten, nicht nur an die Redaktion,
sondern auch an Freunde und Autoren, die mit der Zeitung verbunden
sind. Die Reaktion war verblüffend. Sie ergab eine in der VVN
schon lange nicht mehr übliche Teilung in eine Ost- und eine
Westmeinung. Kurz gesagt: Die Ossis waren dafür und die Wessis
waren dagegen. Doch warum? Mein Nachfragen förderte einen
Dissens in einer grundsätzlichen Haltung zu Tage. Er lag in der
Antwort auf die Frage, ob sich Menschen ändern können oder
nicht. Die „Ossis" beantworteten sie entschieden mit „ja",
interessanterweise auch der noch in der DDR geborene, 30jährige
Gestalter unserer Zeitung. Die „Wessis" waren dagegen
überwiegend der Meinung, Menschen änderten sich nicht, sie
würden sich nur anpassen. Und schlossen daraus: ein Nazitäter
bleibt ein Nazitäter, selbst wenn er anschließend noch
fünfzig Jahre lang ein anderes Leben lebt. Für so einen aber
gibt es in der „antifa" keinen Platz. Die Redaktion hat sich nach
kollektiver Diskussion entschieden, den Text zu bringen, von den Lesern
gab es nur wenige Reaktionen, doch ich habe noch lange darüber
nachgedacht. Tatsächlich gehörte zu den Maximen, mit
denen ich aufgewachsen bin, der Satz: „Wenn wir die
Verhältnisse ändern, ändern wir die Menschen." Das war
wirklich eine Grundüberzeugung in der DDR, sie postulierte
allerdings ein Art Automatismus. Heute wissen wir, das war zu kurz
gegriffen. Doch gehen wir zurück zu den Anfängen und
versetzen uns für einen Augenblick in die Lage jener Frauen und
Männer, deutscher Antifaschistinnen und Antifaschisten, die
zurückgekehrt aus dem Exil oder nach langer Haft unter
schrecklichen Bedingungen angetreten waren, auf dem Gebiet der DDR ein
anderes Deutschland aufzubauen. Sie waren- und das wussten sie - eine
verschwindende Minderheit. Die große Mehrheit der Deutschen war
den Nazis bis zum Schluss gefolgt. Mit diesen anderen sollten und
wollten sie nun einen antifaschistischen Staat aufbauen. Einen Staat,
der niemals wieder Kriege führt und in dem es keine Ausbeutung
mehr gibt. Sie konnten das auch nur in diesem Teil des Landes in
Angriff nehmen, der von der Roten Armee besetzt worden war -sie hatten
ihre Macht ja nicht selbst errungen. Auf den Trümmern des
faschistischen Deutschlands hatte man sie ihnen übertragen. Für
die weitere Entwicklung hatte diese Tatsache eine immense Bedeutung.
„Seid Euch bewusst der Macht, die Macht ist euch gegeben, dass
ihr sie nie, nie mehr aus Euren Händen gebt!", mahnte Johannes R.
Becher. Generationen haben dieses Gedicht in der Schule gelernt. Der
Antifaschismus war Grund und Legitimation der neuen Macht -beide waren
untrennbar miteinander verwoben. Ich werde versuchen, an einigen
Beispielen zu zeigen, welche Konsequenzen sich daraus ergaben, im Osten
wie im Westen. Denn die neue Macht war ja nicht unumstritten, im
Gegenteil. Vom ersten Tage an wurde sie erbittert bekämpft. Die
objektiven und subjektiven Voraussetzungen für das Projekt, einen
sozialistischen Staat auf deutschem Boden aufzubauen, waren denkbar
schlecht. Ohne die Überzeugung, dass sich Menschen ändern
können, hätten seine Verfechter gar nicht erst anzutreten
brauchen. Doch sie besaßen diese Überzeugung und haben sie
bis heute- zumindest bei ihren Anhängern verankert. Die andere
Seite ist, dass sie sich über das WIE des von ihnen politisch zu
führenden Veränderungsprozesses bis hin zum einzelnen so gut
wie keine Gedanken machten. Für sie war „Individuum" eine
Kategorie bürgerlichen Denkens. In dem marxistischen
Gesellschaftsbild, das ihrer Politik zugrunde lag, ging es immer um
kollektive Subjekte, um große gesellschaftliche Umwälzungen
und um „die Volksmassen". Eben diese „Volksmassen" waren
den Nazis hinterhergelaufen. Nun sollten sie das Gegenteil erlernen. Die
revolutionstheoretisch begründete Aufgabe, den alten Staatsapparat
zu zerschlagen, nahm daher die konkrete Form an, einen Staat zu
schaffen, der frei vom Naziungeist war. Und dieser Bruch gelang. Im
Osten wurden Parteigänger der Nazis aus der Wirtschaft, aus dem
Schuldienst, aus dem Staatsapparat und auch aus der Justiz entfernt.
Junge Arbeiter und Bauern wurden in Schnellkursen zu Neulehrern und
Richtern ausgebildet, was zugleich ein Schritt war, das alte
Bildungsprivileg zu brechen. Das historische Lernziel im Osten lautete:
Faschismus ist eine verbrecherische Herrschaftsform, seine Ideologie
ist menschenfeindlich und verkommen, seine Anhänger dürfen
keine Macht mehr ausüben, sie müssen bekämpft werden und
mindestens umlernen. Doch von Anfang an war auch klar: Wenn Faschismus
eine Herrschaftsform des Kapitals ist, muss man den Kapitalismus
beseitigen, wenn man ihn ganz und gar verhindern will. Die im
Westen lebenden Genossen und Gefährten der neuen Herrschenden im
Osten machten ganz andere Erfahrungen. Hier war der Bruch mit dem
Faschismus kosmetisch und unwillig, schon bald waren die alten Nazis
wieder in Amt und Würden und eine den Faschismus prägende
Überzeugung wirkte in dem neuen Staat als Grunddoktrin weiter: der
Antikommunismus. Die neuen Machthaber waren wie die Nazis und selbst
deren Vorgänger von der Überzeugung durchdrungen: Der Feind
steht links! Aus ihrer Warte schien das auch begründet. Der
verlorene Krieg war die schwerste Niederlage, die die deutsche
Bourgeoisie je erlitten hatte. Der Verlust ihrer Macht in einem Teil
Deutschlands war für sie eine Ungeheuerlichkeit, mit der sie sich
niemals abfinden wollten. Wollte man ein analoges politisches Lernziel
für diese Gesellschaft formulieren, könnte es heißen:
Die NS- Herrschaft hatte Fehler und Schwächen, doch der
größte Feind der westlichen Welt ist und bleibt der
Kommunismus. Der Kampf gegen ihn muss bis zu seiner Vernichtung
weitergeführt werden. In den fünfziger Jahren
legitimierte der Antikommunismus also die Rückkehr der alten
Eliten und diente zugleich als Exkulpationsangebot an die
bundesdeutsche Mehrheitsgesellschaft in Bezug auf ihre Mitverantwortung
für die faschistischen Verbrechen. Alexander und Margarete
Mitscherlich beschrieben das in „Die Unfähigkeit zu trauern"
so: „Das Folgenreichste (der NS-Gesellschaft) dürfte der
emotionelle Antikommunismus sein. Er ist die offizielle
staatsbürgerliche Haltung, und in ihm haben sich die ideologischen
Elemente des Nazismus mit denen des kapitalistischen Westens amalgiert.
So ist eine differenzierte Realitätsprüfung für alles,
was mit dem Begriff „kommunistisch" bezeichnet werden kann,
ausgeblieben. Das unter Adolf Hitler eingeübte Dressat, den eignen
aggressiven Triebüberschuss auf das propagandistisch ausgenutzte
Stereotyp „Kommunismus" zu projizieren, bleibt weiter
gültig; es stellt eine Konditionierung dar, die bis heute nicht
ausgelöscht wurde, da sie in der weltpolitischen Entwicklung eine
Unterstützung fand. Für unsere psychische Ökonomie waren
der jüdische und der bolschewistische Untermensch nahe Verwandte.
Mindestens, was den Bolschewisten betrifft, ist das Bild, das von ihm
im Dritten Reich entworfen wurde, in den folgenden Jahrzehnten kaum
korrigiert worden." Die weltpolitische Entwicklung, von der die
Mitscherlichs hier schreiben, war der kalte Krieg. In ihm standen sich
die ehemals in der Antihitlerkoalition verbündeten
Siegermächte als erbitterte Gegner gegenüber. Alle
Gegensätze und Widersprüche dieser Zeit prallten an der
Nahtstelle der Blöcke- im geteilten Deutschland- mit besonderer
Schärfe aufeinander. Der Kommunist als Feind stand sozusagen im
eigenen Land, schon deshalb musste man dem Staat DDR jahrzehntelang die
Anerkennung verweigern. Bereits kurz nach ihrer Gründung schuf
sich die junge Bundesrepublik ein politisches Strafrecht, das
Tatbestände wie „hochverräterische Unternehmen",
„landesverräterische Fälschungen",
„staatsgefährdende Störungen" oder
„fahrlässigen Landesverrat" enthielt. Tatsächliche
oder vermeintliche Kommunistinnen und Kommunisten, die sich gegen die
Wiederbewaffnung wandten oder Verbindungen in die DDR unterhielten
(selbst wenn sie nur der Organisation von Kinderferienfahrten dienten),
wurden mithilfe dieser Paragrafen kriminalisiert. Die Zahl der in der
Bundesrepublik zwischen 1951 und 1968 gefällten Urteile gegen
Kommunisten lag fast siebenmal so hoch wie die gegen NS-Täter.
Kein Wunder, waren doch ab 1950 die alten Nazirichter wieder in ihre
Ämter zurückgeströmt. Nicht selten geschah es, dass von
den Nazis verfolgte und eingesperrte Antifaschistinnen und
Antifaschisten in den 50er Jahren wieder vor den gleichen Richtern
standen und von ihnen noch einmal verurteilt wurden. Nach dem
KPD-Verbot von 1956 wurden kommunistische Widerstandskämpfer per
Gesetz von Entschädigungszahlungen ausgeschlossen, z.T. mussten
sie sogar erhaltene Entschädigungen zurückzahlen. Solche
Erfahrungen führten bei den Betroffenen folgerichtig zu der
Auffassung, dass sich Menschen niemals ändern. Wie die
Strittmattergeschichte beweist, haben sie diese Überzeugung auch
an die ihnen Nachfolgenden weiter gegeben. Allerdings gab es neben
dem staatlichen Antikommunismus und dem Wiederaufleben faschistischer
Organisationen in der Bundesrepublik immer auch die andere Seite.
Antifaschistische Haltungen waren nicht nur in der VVN, sondern auch in
den Gewerkschaften oder in Strukturen der evangelischen Kirche, z. B.
in der Aktion Sühnezeichen, präsent. Als die 68er den Bruch
mit der Nazivergangenheit einforderten, verstärkten sie diese,
immer vorhanden gewesene gesellschaftliche Tendenz und gaben ihr neue
Impulse. In ihrer Fixierung aufeinander betrachteten die
politischen Führungen der beiden deutschen Staaten aber
Antifaschismus und Kommunismus als Einheit und nutzten sie im Kampf
gegeneinander. Im Osten führte das zu einer Hierarchisierung des
Antifaschismus zugunsten des kommunistischen Widerstands. Im Westen
dauerte es Jahrzehnte bis er überhaupt so weit salonfähig
wurde, dass man wenigstens die Attentäter des 20. Juli und
später auch die „Weiße Rose" als legitim ansah und in
die eigene Geschichtsdarstellung integrierte. Ich komme zu einem
anderen Beispiel und zwar zur Vereinigung von KPD und SPD zur SED im
Jahr 1946. Die Tatsache, dass in Deutschland, anders als z.B. in
Frankreich, die Faschisten an die Macht gelangen konnten, wurde im
Osten vor allem darauf zurückgeführt, dass die Arbeiterklasse
1933 gespalten war und es zu keiner Einheitsfront gekommen war. Aus
dieser Schwäche wollte man lernen und die Lehre lautete: Schaffung
einer Einheitspartei aus SPD und KPD. Tatsächlich habe ich viele
ehemalige Sozialdemokraten und natürlich auch Kommunisten
getroffen, die dieser Argumentation folgend, die Vereinigung ihr Leben
lang für richtig und vernünftig hielten. Die faschistischen
Zuchthäuser und Konzentrationslagern hatte man gemeinsam
durchlitten, dort erwiesen sich die vorher unüberbrückbar
scheinenden Unterschiede als belanglos. Einer unserer die VVN
prägenden „Alten", der Resistancekämpfer Peter Gingold,
formulierte rückblickend, die einzige Entschuldigung für die
verpasste Einheitsfront wäre die Tatsache gewesen, dass sich
niemand hatte vorstellen können, was Faschismus an der Macht
wirklich bedeutet. Das wussten nun alle und so etwas sollte nie mehr
möglich sein. So wurde die Vereinigung von der Mehrheit der
Mitglieder beider Parteien im Osten beschlossen und bereits am 21.
April 1946 vollzogen. In den westlichen Besatzungszonen sah man
in diesem Vorgang einen feindlichen Akt. Die SPD gründete ein
„Ostbüro", dessen Aufgabe im Aufbau illegaler Strukturen aus
nicht vereinigungswilligen Sozialdemokraten und anderen, dem
Kommunismus distanziert bis feindlich gegenüber stehenden
Kräften bestand. Gegen diese wiederum ging die sowjetische
Besatzungsmacht entschieden vor. Eine Auseinandersetzung, in der der
Westen letztlich unterlag. Beide Seiten hinterließen
gegensätzliche geschichtliche Darstellungen über die
Vorgänge, geprägt von Einseitigkeit und Auslassungen. Heute,
nach dem Ende der DDR, wird das Thema mainstreammäßig unter
dem Begriff „Zwangsvereinigung" behandelt. Denn in der SED war
die kommunistische Seite von Anfang an die stärkere. Die
Kommunisten waren besser organisiert und sie hatten die Besatzungsmacht
hinter sich. Deren berechtigtes Interesse bestand natürlich darin,
an der Nahtstelle des Kalten Krieges Menschen, auf die sie Einfluss
hatte, an die Macht zu bringen und dort zu halten. Diese Bedingung
erfüllte die Gruppe Ulbricht, die im Moskauer Exil gewesen war. In
den fünfziger Jahren hat diese Gruppe dann auch mehrfach
innerparteiliche Machtkämpfe für sich entscheiden. Mit den
Erfahrungen von heute, lange nach dem Ende des Kalten Krieges, frage
ich mich, ob die Grundlage für die Aufhebung der politischen
Spaltung der deutschen Arbeiterklasse nicht hätte in der
Anerkennung der Tatsache bestehen müssen, dass die Lage der
Arbeiterklasse im Kapitalismus zwei mögliche Konzepte zu ihrer
Überwindung hervorgebracht hat: eine reformistische und eine
revolutionäre. Und dass beide auf ihre Weise berechtigt waren.
Dann wäre nicht die Frage einer einheitlichen Partei die
entscheidende gewesen, sondern die, wie man die beiden
unterschiedlichen Auffassungen für die Diskussion um die weitere
gesellschaftliche Entwicklung produktiv macht. Doch diese Frage
ist ein typisches Beispiel für die von mir genannte Projektion
aktueller Haltungen und Erkenntnisse in die Geschichte. Denn
tatsächlich zeichnete sich die Periode des kalten Krieges durch
die Undenkbarkeit, ja die absolute Unmöglichkeit herrschaftsfreier
Diskurse aus. In dieser Zeit ging es um die Macht und immer nur um die
Macht, selbst in scheinbar nebensächlichen Fragen. Mit der KPD an
der Macht und der SPD in der Opposition wäre die Entwicklung der
DDR genauso unmöglich gewesen wie umgekehrt. Es musste ein Weg
gefunden werden, diesen Widerspruch aufzulösen und die
Anhänger beider Parteien in das Projekt einzubinden. Sicher wird
auch die Intention der kommunistischen Seite, das sozialdemokratische
Element „in der Umarmung zu erdrücken", eine Rolle gespielt
haben. Doch die Reaktion der SPD zeigte, dass sie es nicht anders
gehalten hätte, wäre das Kräfteverhältnis auf ihrer
Seite gewesen. Das mit der Gründung der SED verbundene
strategische Konzept von KPD und sowjetischer Besatzungsmacht ging
jedenfalls auf und hatte wesentlichen Einfluss auf die
Nachkriegsentwicklung in Deutschland. In diesem Fall hatte sich das
Lernen aus dem Faschismus erfolgreich mit der Durchsetzung
machtpolitischer Interessen verbunden. Doch aus der
Grundkonstellation des kalten Krieges erwuchsen auch andere
Entwicklungen. Das Gefühl der Unterlegenheit, welches (bei
nüchterner Betrachtung nicht zu Unrecht) im Unbewussten vieler
Funktionäre der DDR existierte, genährt von der Erfahrung aus
der Nazizeit, dass ihre Gegner zu jeder Art Verbrechen bereit und
fähig waren, trug zur Entstehung des bekannten Sicherheitswahns
bei, der- wie alle Wahngebilde- seinen Trägern die Sicht auf eine
sich verändernde Realität verstellte. Am Ende hatte er
erheblichen Anteil an der Kluft zwischen Führung und
Bevölkerung, die den Untergang der DDR zumindest begünstigte. Nach
so viel Gegensätzlichem will ich aber noch zu einer der im
Vortragstitel angekündigten Gemeinsamkeiten kommen. Meiner
Auffassung nach gab es die z. B. beim Umgang mit dem Phänomen der
Massengefolgschaft. Dem Historiker Kurt Pätzold verdanke ich die
Erkenntnis, dass der von den Nazis übernommene Begriff der
„Massengefolgschaft" eine Abstraktion ist, hinter der sich der
letztlich immer wieder erfolgreiche Kampf der Faschisten um die
Einbindung des größten Teils der Deutschen in ihre Politik
verbirgt. Die Massengefolgschaft von 1933 war eine andere als die von
1938 oder gar die nach der verlorenen Schlacht von Stalingrad 1943.
Doch auch auf der abstrakten Ebene kann man sie reflektieren: Der
größte Teil der Deutschen ist der verbrecherischen Politik
der Nazis bis zum Schluss gefolgt, aber die deutsche Nachkriegspolitik
hat um dieses Thema einen großen Bogen gemacht. Diesen Umstand
möchte ich versuchen zu deuten. Im Osten spielte das Problem
am Anfang noch eine gewisse Rolle, und zwar im Zusammenhang mit den
Reparationsleistungen. Denn auf die Frage, warum die Russen aus dem
stark zerstörten Land noch Fabriken, Maschinen oder Schienen
abtransportierten, blieb nur die Antwort, dass die wenigstens teilweise
Wiedergutmachung der unermesslichen Zerstörungen in der
Sowjetunion auch von jenen getragen werden müsse, die sie
verursacht hatten. Doch spätestens nach Ende der Entnazifizierung
war auch hier keine Rede mehr davon. Der Volksentscheid in Sachsen, bei
dem am 30. Juni 1946 mehr als 77% der Wahlberechtigten für die
entschädigungslose Enteignung der Nazi- und Kriegsverbrecher
stimmten, hatte in gewisser Weise schon die Richtung vorgegeben: Mit
der Benennung und Entmachtung der Hauptschuldigen und Profiteure des
Krieges rückte die Beteiligung der Massen in den Hintergrund.
„Ich bin es nicht gewesen- Adolf Hitler ist es gewesen", das galt
erst recht im Westen. Wer im Nachkriegsdeutschland politisch
erfolgreich sein wollte, tat wahrscheinlich gut daran, den Anteil der
Massen an den Verbrechen des NS-Regimes erst einmal zu verschweigen.
Doch wie lange blieb das richtig, wann hätte man das Problem noch
einmal auf die Tagesordnung setzen können oder gar müssen? Im
Westen taten es die 68er, in der DDR bis ihrem Ende niemand. Meiner
Meinung nach verfehlte man damit jedoch das selbst gesteckte Lernziel.
Was auf der Ebene von Propaganda verbleibt und nicht in individuelle
Erfahrungen und Überzeugungen übernommen wird, kann nicht als
gelernt gelten. Das hat die weitere Entwicklung dann leider auch
gezeigt. Die Institution, in der die Massengefolgschaft
massenhaft in persönliche Schuld münden konnte, war die
Wehrmacht. Ich muss gestehen, dass ich als Neubundesbürgerin den
Wirbel um die Wehrmachtsausstellung Anfang der 90 er Jahre gar nicht
verstanden habe. In der DDR war immer klar, dass auch die Wehrmacht
Kriegsverbrechen begangen hat. Wir sind aufgewachsen mit sowjetischer
Literatur und Filmen, die das eindrucksvoll belegten. Auf die Idee, es
hätte „saubere deutsche Soldaten" gegeben, konnte man danach
gar nicht mehr kommen. Die Erzählungen meiner
Generationsgefährten aus dem Westen über die Fotos ihrer
uniformierten Väter an den Wänden (oder wie bei Bundeskanzler
Schröder auf dem Schreibtisch), haben mich dann allerdings an eine
verdrängte Geschichte aus meiner Kindheit erinnert. Anfang der
60er Jahre fand ich im Kleiderschrank meiner Eltern einen Schuhkarton
mit einem Wehrmachtsfoto meines Vaters, sowie Abzeichen und Papieren
aus seiner Kriegszeit. (Er war 18jährig noch drei Monate lang
Soldat gewesen). Meine Mutter sagte, ich dürfe niemandem davon
erzählen, weil das verboten sei, mein Vater seine
Erinnerungsstücke aber trotzdem aufbewahren wollte. Verboten waren
solche Dinge wahrscheinlich nicht, gesellschaftlich verpönt aber
auf jeden Fall. Dass meine unpolitischen, ansonsten äußerst
angepassten Eltern ausgerechnet an dieser Stelle eine Art diskreten
Widerstand praktizierten, gibt mir allerdings im Nachhinein zu denken. Denn
der aus dem öffentlichen Bewusstsein verdrängte Widerspruch
zwischen der antifaschistischen Führungsschicht der DDR und der
Vergangenheit der Mehrheit ihrer Bürger hatte sich zu diesem
Zeitpunkt scheinbar schon von selbst gelöst. Nach der
grundlegenden Umwälzung der Eigentumsverhältnisse und der
Sicherung der politischen Macht projizierte die DDR-Führung
einfach die antifaschistischen Grundsätze des Staates auf alle
seine Bürger. Hier wir Antifaschisten- dort die alten und neuen
Nazis, hier wir Opfer - dort die Täter, hier wir
Internationalisten - dort die Rassisten. Diese Art Generalisierung
entsprach dem Welt- und Menschenbild ihrer Schöpfer. Es gab in ihm
so gut wie keinen Platz für gesellschaftliche Widersprüche.
Brachen diese trotz Verleugnung und Verdrängung einmal auf, wurden
sie als Problem der Macht behandelt und mit Machtmitteln gelöst.
Eine Enttarnung des zum „sozialistischen Volksschriftsteller"
avancierten Erwin Strittmatter wäre unter diesen Bedingungen
undenkbar gewesen, so etwas konnte es einfach nicht geben- eine solche
Blöße konnte man auch dem Klassenfeind nicht bieten. Also
haben die wenigen Funktionäre des Schriftstellerverbandes, die von
Strittmatters Nazivergangenheit wussten, genauso eisern darüber
geschwiegen, wie er selbst. Vielleicht sollten wir ihm dankbar sein,
dass er uns diesen, zu seiner Zeit unannehmbaren Widerspruch, zur
exemplarischen Betrachtung hinterlassen hat. Die Annahme, dass
sich die DDR-Bürger den Antifaschismus ihrer politischen
Führung automatisch anverwandelt hätten, wurde nach der Wende
unter dem Begriff „verordneter Antifaschismus" kritisiert. Eine
Wortschöpfung, die ihre Herkunft aus dem Diskurs der Macht nicht
verleugnen kann. Natürlich ging es damals darum, zusammen mit der
DDR auch ihre antifaschistischen Grundsätze zu delegitimieren.
Allerdings war 30 Jahre später der pure Antikommunismus der 50er
und 60 Jahre nicht mehr zu vermitteln. So ist es wahrscheinlich zu
dieser etwas hilflosen Konstruktion gekommen, die mit dem Satz
„Besser ein verordneter Antifaschismus als überhaupt keiner"
relativ einfach zu kontern war. Stehenbleiben dürfen wir dabei
aber nicht, denn wie könnte man besser aus der Geschichte lernen,
als aus den eigenen Fehlern? Schon 1976 veröffentlichte der
Dichter Volker Braun in der DDR einen Essayband unter dem Titel
„Es genügt nicht die einfache Wahrheit". Genau das war es,
was ich Ihnen mit diesem Vortrag nahebringen wollte. Da sich das
gesellschaftliche Bild der Geschichte nur verändert, wenn dem
herrschenden Mainstream beharrlich andere Positionen entgegengesetzt
werden, gibt es in unserer Organisation, der VVN-BdA, unterdessen auch
eine Gruppe, die sich für die Rehabilitierung der Opfer des Kalten
Krieges einsetzt. Der politische Widerstand dagegen ist momentan noch
groß. Genauso groß wie jener, der vor nicht allzu langer
Zeit der Forderung für die Rehabilitierung der
Wehrmachtsdeserteure und danach der der so genannten
Kriegsverräter entgegenschlug. Doch er wurde schließlich
überwunden und beide Gruppen durch ein Gesetz des Deutschen
Bundestages rehabilitiert. Vielleicht ist das ja auch die
wichtigste persönliche Erkenntnis, mit der ich diesen Vortrag
schließen kann: Es ist mühsam, doch es lohnt sich unbedingt,
um die Veränderung von Geschichtsbildern zu ringen.
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