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Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes
Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten

Landesvereinigung NRW

 

25.07.2013

Die Nazis und die Massen - "Wider gewisse Vergeßlichkeiten"

Erstens: Beitrag des Ex-DDR-Ministers Klaus Höpcke

In der Erinnerungsarbeit wird da und dort der Vorwurf erhoben, die Historiographie habe sich kaum der Rolle der Hitler bejubelnden Volksmassen angenommen. Auf der Homepage der VVN-BdA NRW wollen wir in loser Folge Beiträge zu diesem Thema veröffentlichen. Wir beginnen mit einem Artikel von Klaus Höpcke aus der "Weltbühne" aus dem Jahr 1988.

Wider gewisse Vergeßlichkeiten

von Klaus Höpcke

Quelle: "Wider gewisse Vergeßlichkeiten": Die Weltbühne, Heft 42/88 vom 18. Oktober1988 von Klaus Höpcke, damals stellv. Kulturminister der DDR.

Es ist seltsam, aber wahr: Auch unter denen, die sich auf Geschichte berufen, begegnet man häufig einer erstaunlichen Vergeßlichkeit.

So kommt es vor, daß pauschal von der Verantwortung „der Deutschen“ für den Nazikrieg gesprochen wird. Aber kann man denn vergessen, daß die Verantwortung der aggressiven Kräfte des deutschen Monopolkapitals, die Hitler in den Sattel gehoben und den faschistischen Raubkrieg vorbereitet und in ihm hohe Profite eingeheimst haben, dem Wesen nach eine andere Verantwortung ist als die der Antifaschisten, die es nicht vermochten, die Hitlerherrschaft zu verhindern oder aus eigener Kraft zu zerschlagen?

Oder man trifft auf die nicht minder pauschale Bewußtseinsverschiebung, sich selber und seine Vorfahren von vornherein außerhalb der Verantwortung im Hinblick auf den Krieg zu empfinden. Stephan Hermlin hat das unlängst kritisch beleuchtet: Manche bei uns leben in der stillschweigenden Annahme, etwa die Hälfte der deutschen Bevölkerung sei in den Jahren der Naziherrschaft antifaschistisch gewesen. Hermlin weist darauf hin, daß in Wahrheit vielleicht ein Prozent des Volkes sich am Widerstandskampf beteiligte. Daß diesen wirklich heldenhaft ihr Leben einsetzenden Männern und Frauen damals nicht mehr Deutsche rechtzeitig gefolgt sind, das bleibt eine der schlimmsten Tragödien deutscher Geschichte. Ihr auf den Grund zu sehen, darin liegt eine geistige Voraussetzung dafür, künftig stets eingedenk der Lehren zu handeln, die aus diesem Versagen so vieler gezogen werden müssen.

Wieder mit einer anderen Art Vergeßlichkeit bekommen wir es zu tun, wenn wir unsere Gedanken auf die Tatsache richten, daß in den Jahren der Weimarer Republik ein dauerhaftes Bündnis zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten nicht erreicht wurde, so daß die linke Einheitsfront in der notwendigen Breite nicht zustande kam. In der streitbaren Auseinandersetzung über Ursachen und Lehren sind manche Diskussionspartner erstaunt, wenn man sie an den Offenen Brief erinnert, den die KPD im Januar 1921 an die SPD, die Gewerkschaften und andere proletarische Parteien und Organisationen gerichtet hat. Dieser Brief war von Lenin als vorbildlich bezeichnet worden. Auch das Zusammengehen von Sozialdemokraten und Kommunisten in den 1923 in Sachsen und Thüringen gebildeten Arbeiterregierungen sowie in der Kampagne für die entschädigungslose Enteignung der Fürsten scheint manchen entfallen zu sein. Und was sagen sie zu dem Fakt, daß die Kommunisten mit Thälmann an der Spitze die Sozialdemokraten zur Aktionseinheit gegen die faschistische Gefahr aufriefen, wogegen einflußreiche rechte sozialdemokratische Politiker es ablehnten, Seite an Seite mit den Kommunisten zu kämpfen?

Wenn wir heutzutage gelegentlich die Version in Umlauf gebracht sehen, im Hinblick auf die Politik gegenüber der SPD kämen die Kommunisten erst jetzt, 1988, nicht umhin, „auch die eigenen Fehler ehrlich einzugestehen“, so fällt darauf die Erwiderung nicht schwer. Man lese nach: die Dokumente des VII. Weltkongresses der Kommunistischen Internationale, der „Brüsseler“ und der „Berner“ Konferenz der KPD sowie sämtliche diese Zeit und diese Probleme berührenden Publikationen von KPD und SED seit 1945/46: Immer wird man auf die Auseinandersetzung mit den damaligen Versäumnissen stoßen. Wahr ist, daß dies nicht in jeder Schrift mit gleicher Gründlichkeit geschah. Aber daß wir dieser Wahrheit bisher nicht ins Auge geblickt hätten, kann nur behaupten, wer sich nicht informiert hat.

Ob ich da nicht zu selbstsicher redete, wandte neulich ein Genosse ein, als ich dies gesagt hatte. Er habe von neuen Nachforschungen gehört, die zum Beispiel offenlegten, daß die auf Aktionseinheit mit der Sozialdemokratie orientierte Politik des ZK der KPD durch Stalin behindert wurde. Müsse man das nicht bei künftigen Publikationen berücksichtigen?

„Bei künftigen?“ fragte ich zurück und fügte hinzu: „Natürlich, bei künftigen auch. Aber begonnen haben wir damit vor langer Zeit.“ Um Beweise gebeten, ging ich zum Bücherregal und griff zum Band 4 der 1966 im Dietz Verlag Berlin erschienenen „Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung“. Darin lesen wir auf den Seiten 300 bis 303: „Die erfolgreichen Bemühungen der KPD um die Schaffung der proletarischen Einheitsfront wurden im Juli/August 1931 durch eine folgenschwere Fehlentscheidung unterbrochen.“ Ernst Thälmann hatte nachgewiesen, daß eine Teilnahme an dem von den Nazis angestrebten Volksbegehren und Volksentscheid gegen die sozialdemokratisch geführte Koalitionsregierung in Preußen der Politik der KPD widersprechen und die angestrebte Einheitsfront mit den Sozialdemokraten von vornherein außerordentlich erschweren würde. Dieser Ansicht widersetzten sich Hermann Remmele und Heinz Neumann. Das Politbüro des ZK der KPD dagegen faßte den Beschluß, daß die KPD sich nicht an jenem „Volksentscheid“ beteiligen werde.

Leider blieb es nicht dabei. D. S. Manuilski und andere führende Funktionäre der Kommunistischen Internationale, die die Lage realistisch einschätzten, konnten sich in der Politkommission des Exekutivkomitees nicht durchsetzen, da J. W. Stalin und W. M. Molotow sich für die Teilnahme der KPD am Volksentscheid in Preußen aussprachen. Es entstand ein Gegensatz zwischen den Beschlüssen der KPD und denen des führenden Organs der KI. „Die KPD wurde zu einer Entscheidung gedrängt, die den wirklichen Gegebenheiten in Deutschland nicht Rechnung trug“, heißt es dazu in dem erwähnten Buch, das — ich wiederhole — 1966, vor 22 Jahren, bei uns veröffentlicht worden ist. Die Genossen der Führung der KPD, die eine richtige Haltung einnahmen, wurden, mahnend aufgefordert, „endlich“ diese Haltung aufzugeben...

Über die verheerende Tragweite der aufgedrängten Fehlentscheidung heißt es in dem Buch: „...die Teilnahme der KPD wurde seitdem dazu ausgenutzt, sie vor großen Teilen der Arbeiterklasse des Zusammengehens mit den Faschisten zu bezichtigen. Die Lage, in die die KPD dadurch geriet, erschwerte es ihr, die Aufgabe zu lösen, die Ernst Thälmann als die wichtigste bezeichnete: die Kluft zwischen sozialdemokratischen und kommunistischen Arbeitern zu überbrücken.“

In den im Juni 1988 veröffentlichten Thesen des Zentralkomitees unserer Partei zum 70. Jahrestag der Gründung der KPD wird in der dem Ringen um die Aktionseinheit gewidmeten These 10 auf die dabei zu überwindenden Hindernisse und Widerstände hingewiesen und gesagt, daß die Partei lernen mußte, hohen Anforderungen an ihre Prinzipienfestigkeit und Beweglichkeit gerecht zu werden. Weiter heißt es: „Dafür war es erforderlich, in den eigenen Reihen sektiererische und dogmatische Tendenzen, die besonders unter zugespitzten Bedingungen immer wieder auf- lebten, zu überwinden, so die Sozialfaschismus-These, die Ende der zwanziger Jahre in der kommunistischen Bewegung Verbreitung fand und die von Anfang an falsch war. Die Kommunisten verstanden zunehmend, daß die Politik der Aktionseinheit, so, wie sie seit Beginn angelegt war, immer davon ausgehen muß, daß die Sozialdemokratie einen eigenständigen Strom der Arbeiterbewegung darstellt... Für den weiteren Weg war besonders jene Einsicht von Gewicht, daß die Kräfte, die für eine menschenwürdige Gesellschaft, für Frieden, Humanität und sozialen Fortschritt einstehen, immer wieder neu aufeinander zugehen müssen.“

Quelle: "Wider gewisse Vergeßlichkeiten": Die Weltbühne, Heft 42/88 vom 18. Oktober1988  von Klaus Höpcke, damals stellv. Kulturminister der DDR.