23.07.2013 „Eine
Demokratie schafft sich ab. Zur Rolle der bürgerlichen
Parteien“ Beitrag von
Ludwig Elm, Jena, auf der Geschichtspolitischen Konferenz der VVN-BdA
e. V. „Lizenz zum Terror. Das Jahr 1933. Vorgeschichte,
Geschichte und Geschichtsbild, 28./29. Juni 2013,
Humboldt-Universität zu Berlin. Im Mittelpunkt stehen Zentrum,
Bayerische Volkspartei (BVP), Christlich-Sozialer Volksdienst (CSVD)
und Deutsche Demokratische Partei (DDP)/Deutsche Staatspartei (DStP).
Sie sind die eigentlichen Vorgängerinnen der Bonner und
Berliner Regierungsparteien von 1949 und 2013: CDU, CSU und FDP. Das
Verhalten und die Entscheidungen jener ursprünglich
einflussreichen Parteien der Weimarer Republik werden vorrangig an
Verlauf und Ergebnissen der im Juli und November 1932 sowie am 5.
März 1933 gewählten drei Reichstage skizziert. Es ist
eine Chronik der fortschreitenden Aufgabe
parlamentarisch-demokratischer Grundpositionen, der Kapitulation vor
der NSDAP und der Beihilfe zur Errichtung der faschistischen
Diktatur. Die „Rolle der
bürgerlichen Parteien“ im Entscheidungsjahr 1932/33
wird von Politik und Medien eher vertraulich und – wenn
überhaupt – eher beiläufig und diskret
behandelt. Die folgenden Ausführungen weisen nach, dass dies
nicht allzu großer Bescheidenheit, sondern vor
allem gewissen, kaum rühmenswerten Tatsachen der von
ihren Vorgängerparteien verfolgten Politik und deren
katastrophalen Auswirkungen geschuldet ist. Unter ihnen findet sich im
Reichstag keine nennenswerte Ausnahme, auch wenn es in den Absichten
und Einflüssen bei einzelnen Personen Differenzierungen
gegeben hat. Begrifflich sei vermerkt, dass die NSDAP selbstredend auch
eine bürgerliche Partei war; hier ist es vor allem der
Sammelbegriff, mit dem die Unterscheidung zu den beiden
Arbeiterparteien und die spezifische Rolle neben und mit der Nazipartei
umrissen und charakterisiert wird. Kürzlich
ging mir eine Ansprache zu, deren Fragen und Problemsicht mich
beeindruckten und von der hier ausgegangen wird. Die 18jährige
Caterina Quintini sprach am 11. Mai 2013 anlässlich der
Gedenkveranstaltung auf dem KZ-Friedhof Birnau. Sie erinnerte an
Eindrücke und Empfindungen während einer
Gedenkstättenfahrt zum KZ Auschwitz-Birkenau und
äußerte: „Ich konnte nicht verstehen wie
so etwas geschehen konnte.“ Sie schlüsselte ihre
Aussage in viele Einzelfragen auf sowie in Einwände gegen
unglaubwürdige Erklärungs- und
Rechtfertigungsversuche. Da findet sich auch ihre Feststellung:
„Die Geschichtsbücher versuchen das Scheitern der
Weimarer Republik mit zu viel kleinen Parteien, hoher Arbeitslosigkeit,
Wirtschaftskrise, Unzufriedenheit der Leute und mit Begriffen wie dem
Ermächtigungsgesetz zu erklären.“ Das
erkläre jedoch nicht, wie ein Rechtsstaat zu einer
Vernichtungsindustrie und fürsorgliche Familienväter
zu Mördern werden konnten und ein ganzes Land seine
Menschlichkeit verlor. Sie hat
völlig recht: Das
erklärt nicht die Missgeburt eines deutschen Verbrecherstaates
gegen Mitte des vergangenen Jahrhunderts sowie seine über
Generationen und Jahrhunderte nachwirkende Blutspur. Caterina und ihren
Mitschülern ist zu sagen: Ihr werdet in der Schule –
wie auch von Politikern und in Medien – seit Jahren in
entscheidenden Fragen des Untergangs der Weimarer Republik belogen. Ein
aktuelles Beispiel:
Das Geschichtslehrbuch „Zeiten und Menschen“, Bd.
4, Verlag Schöningh Paderborn (2004), das für diesen
historischen Zeitraum gegenwärtig in den 9. Klassen von Berlin
(und evtl. weiteren Ländern) benutzt wird. Darin ist zu den
Anfängen der Republik ab 1918/19 zu lesen, dass
„Gegner von links und rechts“ die Republik
bekämpften, dass es „Umsturzversuche von rechts und
links“ sowie überhaupt „links- und
rechtsradikale Umtriebe“ gab. Warum setzen die Autoren nicht
gleich Heinrich Mann, Käthe Kollwitz und Carl von Ossietzky
auf der einen Seite mit völkisch-antisemitischen Blut- und
Boden-Dichtern, angeführt vom Mordhetzer Goebbels, auf der
anderen Seite gleich?
Es folgt
schließlich eine Aussage zur Reichstagswahl von Juli 1932,
die inmitten dieses Beitrags führt: „Bei der
Reichstagswahl legte die NSDAP gewaltig zu. Gemeinsam mit der KPD gab
es eine negative Mehrheit im Reichstag.“ (S. 93) Was ist eine
„negative Mehrheit“? Und was hatten KPD und NSDAP gemeinsam
außer dieser Summe, die sich aus einer ideologisch
motivierten Addition ergibt? Wir werden auf die ominöse
Konstruktion noch anlässlich der tatsächlichen
Mehrheit im VI., VII. und VIII. Reichstag im Entscheidungsjahr 1932/33
zurückkommen, für die ich einen Namen vorschlagen
werde. Übrigens:
Der Band, der in Ostthüringen in den letzten Wochen
anlässlich der Jugendweihe an die Heranwachsenden
übergeben wurde, enthält analoge Tendenzen. Er ist
aus den gleichen Quellen geschöpft.
Die
Verantwortung für Entstellungen liegt nicht primär
bei diesem oder jenem Lehrer oder einzelnem Schulmaterial, obwohl auch
sie Verantwortung tragen und sich dort die konkreten Belege finden. Der
Ursprung
solcher Geschichtslügen liegt in der Herkunft sowie der
Gründungs- und Frühgeschichte und den
Herrschaftsverhältnissen in der Bundesrepublik. Ihre
seitherige Fortschreibung wurzelt in den Bedürfnissen der
Oberschichten der deutschen bürgerlichen Gesellschaft und
speziell ihrer Parteien, sich eine vorzeigbare
historische Legitimation für ihre gesellschaftspolitischen
Führungs- und Gestaltungsansprüche zu verschaffen.
Das ist bei diesem Deutschland seit 1871, 1914 und 1933 wahrhaftig
schwierig genug. Noch mehr: Die nach Jahrzehnten der
Verdrängungen und Lügen nicht mehr zu
unterdrückenden Wahrheiten
über die Ursprünge und Grundlagen der Bundesrepublik
machen es kaum leichter. Die politischen Akteure und
Wortführer apologetischer Bedürfnisse auf dem Markt
der Geschichtspolitik und -ideologie sind die Regierungsparteien von
1949, 1990 und 2013: CDU, CSU und FDP. Sie haben Rückhalt in
der Wirtschaft sowie in der Wissenschaft und den Medien, in den
Führungsebenen aller gesellschaftlichen Bereiche wie Justiz,
Streitkräfte und Sicherheitsdienste,
Ministerialbürokratie, Bildung u.a. Daher können sie
seit Jahrzehnten elementare Tatsachen und beweiskräftige
Kritik an ihren Geschichtsfälschungen ungerührt
aussitzen. Seit Herbst 2012 haben sie das erneut wiederholt drastisch
vorgeführt.
Im übrigen
plädiere ich dafür, mehr von der „deutschen
Rechten“ reden – etwa im Sinne des gleichnamigen
Buchtitels von Peter Glotz aus dem Jahre 1989: Damals Kohl, heute
Merkel als eigentlicher Repräsentant der konservativen
Grundströmung in dieser Gesellschaft, die die Hauptachse der
gesamten, vielgestaltigen Rechten in der Bundesrepublik bildet.
Letztere fächert sich in Flügeln und Rändern
auf. Der rechte Extremismus, Rassismus/Antisemitismus und nazistischer
Terrorismus sind die äußersten rechten
Ausläufer – 1914-20, 1932-33 ebenso wie 2013. Damit
sind die Herkunft, die Erbschaften und Traditionen seit 1848/49, 1871,
1914 und 1933, aber auch die Komplexität und innere
Widersprüchlichkeit, Anpassungsfähigkeit und
Modernisierungsvarianten dieser volks- und fortschrittsfeindlichen
Grundströmung zu erfassen, zu bewerten und ihre Ambitionen zu
bekämpfen.
Die
hauptsächlichen und direkten parteipolitischen
Vorgänger der heutigen
Regierungsparteien zwischen November 1918 und Juli 1933 waren:
Für die Unionsparteien die katholischen Rechtsparteien Zentrum und Bayerische Volkspartei
(BVP) sowie der evangelische Christlich-Soziale
Volksdienst; für die FDP die Deutsche Demokratische Partei
(DDP, später: Deutsche Staatspartei) und die Deutsche Volkspartei
(DVP). Nimmt man den nahezu ungehemmten Zustrom von Mitläufern
und Tätern der NS-Barbarei nach 1945, die
Kontinuitäten der sozialen und politischen Milieus sowie bei
Führungspersonal, dazu den nahtlos fortgesetzten
Antikommunismus, sind Unionsparteien und FDP auch als Nachfolgeparteien
von DNVP und NSDAP anzusehen. Die Mitte-Rechts-Regierung in Bonn
bestätigte ab September 1949 dieses Einschätzung
dadurch, dass sie vorrangig und zielstrebig die Interessen der aus dem
vorangegangenen Verbrecherstaat belasteten Großgruppen und
ihrer Parteigänger wahrgenommen und weitgehend durchgesetzt
hat.
Wenden wir uns der tatsächlichen
Rolle der damaligen Parteien sowie weiterer Organisationen im akuten
Krisenjahr vom Sommer 1932 bis Sommer 1933 zu. Wie war die
Ausgangssituation? Diese Parteien waren im Einklang mit der
Gesamttendenz von Gesellschaft, politischem System und
geistig-kulturellem Klima seit Beginn
der zwanziger Jahre nach rechts gerückt. Große
soldatische, völkisch-rassistische, antisozialistische und
Sportverbände besaßen mit ihrem rechtsgerichteten
Vereinswesen Masseneinfluss. Die Mehrzahl der Volksschul- und
Gymnasiallehrer sowie der Professoren stand der Republik skeptisch bis
feindselig gegenüber und schwelgte in monarchistischen
Traditionen sowie völkisch-antisemitischen und
antisozialistischen Ressentiments: Die Konservative Revolution
hatte mit Köpfen wie Oswald Spengler, Moeller van den Bruck,
Edgar Julius Jung, Ernst Jünger und vielen anderen die
geistige Führung übernommen. Die Rechtspresse
dominierte die Medienlandschaft. Die parlamentarische Demokratie endete
1930 mit dem Übergang zur Notverordnungspolitik. Bereits 1931
erlangte der Nationalsozialistische Deutsche Studentenbund (NSDtSB)
dank der politisch-ideologischen Vorleistungen des
Korporationsstudententums seit den 1880er Jahren die Mehrheit und die
Führung in der Deutschen Studentenschaft. Die erneute Wahl
eines Hindenburg als Reichspräsident im Frühjahr
1932, neben dem auch noch Hitler Millionen Stimmen gewinnen konnte,
signalisierte den politischen und ideell-moralischen Zustand und die
Identitätskrise dieser „ersten deutschen
Demokratie“. Exemplarisch blicken
wir in ein weiteres Schulbuch als Zeugnis für den Geist der Zeit:
„Du mein Deutschland. Ein Buch von unseres Volkes Tun und
Dichten“, Schroedels Mittelschullesebuch, Halle (Saale) 1929.
Man beachte das Erscheinungsjahr. Die Anthologie strotzt von Heimat,
Blut und Boden, rückwärtsgerichteter Romantisiererei,
Bismarckkult, Chauvinismus, Soldatentum, Kriegsbereitschaft und
Opfertod. Abschnitte sind überschrieben wie „Ein
Volk, ein Herz, ein Vaterland“(II), „Deutschland
muss leben, und wenn wir sterben müssen“ (III) oder
„Von deutschen Meistern“ (VIII). Von dem
deutschnationalen Dichter Will Vesper findet sich das Gedicht
„Mahnung“: Nun schweige mir jeder von seinem
Leid und noch so großer Not. Sind wir nicht
alle zum Opfer bereit und zu dem Tod? Eines steht groß in den
Himmel gebrannt: Alles darf untergehn. Deutschland,
unser Kinder- und Vaterland, Deutschland m u s s
bestehn!“ (S.111) Vesper war am 10. Mai
1933 in Dresden Redner zur Bücherverbrennung und stieg
zügig zum Schriftsteller, Herausgeber und führenden
Literaturpolitiker des Dritten Reiches auf. Wenige Seiten weiter und
nicht minder berüchtigt findet sich Walther Flex unter
„Sprüche“: „So lasst uns
schwören und singen in Nacht und Sturm hinein: deutsch
bis zum Todesringen und nichts als deutsch zu sein!“
(S. 120) Das sentimentale, präfaschistische
Lamento stammt von 1929, nicht von 1915 oder 1938. So sah weithin die
geistig-moralische Quintessenz der vermeintlich Goldenen Zwanziger
für Millionen Schülerinnen und Schüler sowie
ihre Eltern, überhaupt für die tagtägliche
Indoktrination der Bevölkerung aus.
Jener
ideologische, kulturelle und moralische Kontext des Agierens der
bürgerlichen Parteien ist damit angedeutet, den sie selbst mit
prägten, sich mit ihm arrangierten und politisch ausnutzten.
Die DNVP marschierte im buchstäblichen Sinne des Wortes voran,
als sie unter zustimmender Mitwirkung von Spitzenvertretern des
bürgerlich-aristokratischen Establishments den
berüchtigten Aufmarsch mit NSDAP und Stahlhelm-Bund am 11.
Oktober 1931 in Bad Harzburg inszenierte. Von dieser Harzburger Front
führt bald ein direkter Weg zur Rolle als Koalitionspartner in
der ersten Hitlerregierung und zur preussisch-konservativ
getünchten NS-Show am Tag
von Potsdam – 21. März 1933.
Bezüglich der katholischen Parteien – Zentrum und
Bayerische Volkspartei - war der Vatikan längst unzufrieden,
dass sie teilweise noch mit Sozialdemokraten zusammengingen statt ausschließlich
mit strammen Rechtsparteien. In Rom schätzte man die
Erfahrungen mit der Diktatur Mussolinis, der auch der zum rechten
Flügel des Zentrums gehörige Konrad Adenauer, damals
Kölner Oberbürgermeister und Präsident des
Preussischen Staatsrats, seine Sympathien bekundet hatte. Der
Zentrums-Vorsitzende, Prälat Ludwig Kaas, drängte
ebenso auf diesen Weg wie der Vorsitzende der BVP, Fritz
Schäffer.
Die faschistische
Partei wurde in der Reichstagswahl am 6. Juli 1932 stärkste
Partei und stellte mit 230 Abgeordneten die größte
Fraktion. Inzwischen waren die Führungskreise aller
bürgerlichen Parteien bereit und interessiert, in Preussen wie
im Reich Koalitionen mit ihr zu bilden oder hinzunehmen. Aus
machtpolitischem Kalkül schwanden auch die Bedenken, sich
unter einem Kanzler Hitler zu verbünden. DVP und Staatspartei
waren mit Stimmen und Mandaten auf klägliche Reste
abgestürzt, die selbst im Parlament bedeutungslos geworden
waren. Zentrum und – in geringerem Maße - BVP
konnten mehr von ihrer Wählerbasis und
Fraktionsstärke bewahren und standen im Vordergrund solcher
Koalitionserwägungen.
In elf,
hier knapp gefassten Punkten, sollen die hauptsächlichen
verhängnisvollen Fehlentscheidungen aller
bürgerlichen Fraktionen zwischen August 1932 und Juli 1933
skizziert werden, also in der VI. und VII. Wahlperiode sowie in dem am
5. März 1933 gewählten (VIII. oder I.) Reichstag.
Zunächst erfolgte dies noch vor Hitlers
Kanzlerschaft und unter Bedingungen relativ größerer
Handlungsspielräume; ab 30. Januar unter und
weitgehend mit
dieser Regierung. Es geht um nicht
mehr und nicht weniger als zwölf Monate der
fortschreitenden Kapitulation aller
bürgerlichen Parteien sowie ihrer Beihilfe auf dem Weg zur
NS-Diktatur und zu deren rücksichtsloser Ausgestaltung:
- Bei
der Konstituierung des VI. sowie des VII. Reichstages – am
30. August und am 6. Dezember - wählten die Abgeordneten aller
bürgerlichen Parteien mit der NSDAP je im ersten Wahlgang
Hermann Göring (NSDAP) zum Präsidenten des
Parlaments. Gemäß vorheriger Absprachen hatten sie
auf eigene Kandidaten verzichtet. Die faschistische Führung
erhielt kampflos eine Schlüsselposition in jener
parlamentarischen Demokratie, die sie seit Jahren hasserfüllt
bekämpfte und deren Liquidierung sie längst als eine
ihrer vorrangigen politischen Ziele angekündigt hatte. Die
NS-Fraktion bedankte sich jeweils damit, dass sie Thomas Esser
(Zentrum) als 1. Vizepräsidenten vorschlug und mit
wählte. Nur die Fraktionen von SPD und KPD hatten –
wie sie es auch bei den anschließenden
Vizepräsidenten (Präsidiumsplätzen) taten
– ihre eigenen Kandidaten (Paul Löbe und Ernst
Torgler) nominiert. Im Reichstag formierte sich die Göring-Mehrheit:
Die NSDAP und alle
anderen bürgerlichen Parteien. Im Unterschied zu der
erwähnten antikommunistischen Fiktion einer
„negativen Mehrheit“ schlage ich die Bezeichnung
als Göring-Mehrheit
vor: Sie steht für tatsächliche,
wiederholte Abstimmungen und Entscheidungen, die das Parlament ab
August 1932 faktisch den Nazis auslieferten.
- Diese
Mehrheit verweigerte der KPD einen Platz im
Reichstagspräsidium, der ihr nach der Fraktionsstärke
(89 bzw. 100 Mandate) zugestanden hätte. Selbst nachdem die
NSDAP am 6. November gegenüber dem 31. Juli mehr als zwei
Millionen Stimmen und über dreißig Mandate verloren
hatte, obendrein Erfahrungen mit Görings nazistischem
Missbrauch der Spitzenposition seit August vorlagen, wurde ihm erneut
das Amt übertragen. Beides widerlegt die platte Ausrede, die
Wahl Görings sei wegen parlamentarischer Gepflogenheiten
unausweichlich gewesen. Tatsächlich galt: Faschist unter
Umständen „ja“ – Kommunist immer
„nein“: Das illustriert seit fast
einem Jahrhundert in diesem Land die wirklichen
politisch-ideologischen Verwandtschaftsverhältnisse sowie die
Prioritäten im Feindbild der herrschenden Schichten und
Gruppen.
- Die VI. Wahlperiode des
Reichstags umfasste zwei
Sitzungstage (30. August und 12. September1932); die VII. Wahlperiode drei (6., 7. und 9.
Dezember 1932). Die - wiederholt ähnlichen - Anträge
von SPD und KPD, die nächste Sitzung und die Tagesordnung mit
den dringendsten Anträgen zu beschließen sowie den
Reichskanzler zur Berichterstattung ins Parlament einzufordern, wurden
von der Göring-Mehrheit
regelmäßig abgewiesen. Damit wurden die
Souveränität des Plenums und seine
verfassungsmäßigen Rechte dauerhaft zugunsten der
Bestrebungen und Kungeleien der rechts stehenden Parteien
ausgehöhlt und faktisch aufgegeben. Davon profitierten
wiederum vor allem die Nazis als ihre stärkste und
rücksichtsloseste Gruppierung.
- Bis
Ende Januar 1933 waren Zentrum und BVP bemüht, in eine
Koalitionsregierung unter Hitler aufgenommen zu werden. Der
BVP-Vorsitzende Schäffer fuhr noch am 28. Januar nach Berlin
und erreichte Einvernehmen mit Brüning und Kaas vom Zentrum,
diese Bereitschaft beider Parteien am gleichen Tag dem
früheren Zentrumsmitglied und ehemaligen Reichskanzler von
Papen mitzuteilen. Dieser lehnte das Ansinnen als nicht mehr
realisierbar ab. Er wusste, dass Hitler ein Mehrheits- oder
Koalitionskabinett nicht mehr wollte und nicht mehr nötig
hatte. Übrigens:
Eine Reichsregierung der Rechtsparteien NSDAP, DNVP, Zentrum und BVP
unter einem Kanzler Hitler: Das wäre wohl aus der Sicht
heutiger Schulbuchschreiber keine
„negative Mehrheit“ gewesen? Vielleicht also eine
„positive“?
- Die
Tagung am 9. Dezember 1932 war die letzte der VII. Wahlperiode gewesen.
Göring berief Ende Januar 1933 eine weitere ein, als er
wusste, dass sie nicht mehr stattfinden wird. Hinter den Kulissen waren
die Entscheidungen für Hitler sowie die am Tag nach seiner
Ernennung folgende erneute Auflösung des Parlaments gefallen.
Es war den Nazis damit auch gelungen, den ihnen missliebigen
Reichskanzler Schleicher (den sie im Juni 1934 mit seiner Frau
ermordeten) kein
einziges Mal im Reichstag auftreten zu lassen. Das
„nationale“ Präsidium, dem neben
Göring Vertreter von Zentrum, BVP und SPD angehörten,
spielte mit. Zu fragen wäre nach der Rolle des
langjährigen Reichstagspräsidenten Paul Löbe
(SPD), der dem Gremium in dieser kurzen Legislaturperiode als einer der
Vizepräsidenten angehörte.
- Nach
der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 brachten am
gleichen Tag nur
die Fraktionen von SPD und KPD Anträge ein, denen zufolge der
Reichstag beschließen möge, der Regierung Hitler das
Vertrauen zu entziehen. (Art. 54 der Verfassung vom 11. August 1919)
Wiederum standen die Arbeiterparteien mit solchen Initiativen
für die Rettung der bürgerlich-parlamentarischen
Demokratie, von Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten, allein. Die
DNVP saß, vertreten durch ihren Vorsitzenden, den
Großindustriellen und Medienmonopolisten Alfred Hugenberg,
mit im Kabinett. Zentrum, BVP sowie die spärlichen
Überreste von DVP und Staatspartei sahen die Dinge auf jenem
Weg, den sie selbst mit erstrebt und ermöglicht hatten.
Mancher in den katholischen Rechtsparteien lamentierte weiterhin, dass
sie als Koalitionspartner nicht mehr gebraucht wurden oder hoffte gar,
nach der nächsten Wahl (5. März) vom
„Führer“ noch eine Chance zu bekommen.
- Den
Reichstagsbrand nutzten die Nazis, um mit Hindenburgs Verordnung
„Zum Schutz von Volk und Staat“ vom 28. Februar - Reichstagsbrand-Verordnung
- Grundrechte außer Kraft zu setzen, die sogenannte
Schutzhaft einzuführen sowie zum offenen und massenhaften
Terror überzugehen. Unter einer antikommunistischen
Bedrohungslüge richtete sich das zunächst vorrangig
gegen Kommunisten, Sozialdemokraten, kämpferische
Gewerkschafter und Pazifisten. Die bürgerlichen
Parteiführer und Parlamentarier nahmen das in der Regel ohne
ernstzunehmenden Widerspruch ebenso hin, wie die Zunahme von
Willkür und Gewalt in den Auseinandersetzungen zur
Reichstagswahl am 5. März 1933 sowie die beginnende Flucht und
Emigration von aus politischen oder rassistischen Gründen
gefährdeten Persönlichkeiten aus Politik, Kultur,
Medien, Bildung und Wissenschaft.
- Nach
der als Tag von Potsdam
in die Geschichte eingegangenen Veranstaltung am Vormittag des 21.
März fand am späten Nachmittag die weniger bekannte,
eigentliche Konstituierung des am 5. März gewählten
Parlamentes statt. Alle
anwesenden Parteien schwiegen zu der am 9. März erfolgten
Annullierung der 81 kommunistischen Mandate. Die Gepflogenheit,
anlässlich der Neukonstituierung inhaftierte Parlamentarier zu
amnestieren, wurde gestrichen. Der Antrag der SPD, neun namentlich
genannte Abgeordnete aus der Haft zu entlassen, wurde auf Antrag der
NS-Fraktion an den Geschäftsordnungsausschuss
überwiesen – womit er faktisch abgewiesen war. Alle
Fraktionen fügten sich ohne Debatte substantiellen
Veränderungen der Geschäftsordnung:
Eröffnung nicht
durch den Alterspräsidenten, sondern den
geschäftsführenden Reichstagspräsidenten
(also Göring); Streichung des Namensaufrufs aller
gewählten Abgeordneten; Wahl des
Reichstagspräsidenten und der weiteren Mitglieder des
Präsidiums durch „Zuruf“. Da
Göring einziger
Kandidat war und Esser (Zentrum) erneut zum ersten
Vizepräsidenten gewählt wurde, ist davon auszugehen,
dass Zentrum und BVP gemäß Vorabsprachen wiederum
und nunmehr zum dritten
Mal mit der NS-Fraktion Göring zum Präsidenten des
Reichstags wählten.
- Am 23.
März nahm der Reichstag eine von Hitler vorgetragene
„Erklärung der Reichsregierung“ entgegen
und beriet den von den beiden Regierungsparteien eingebrachten Entwurf eines
„Gesetzes zur Behebung der Not von Volk und Reich“,
das als Ermächtigungsgesetz
in die Geschichte eingegangen ist. Die Ablehnung durch die verbliebene
SPD-Fraktion begründete Otto Wels zutreffend mit den Worten:
„Noch niemals, seit es einen Deutschen Reichstag gibt, ist
die Kontrolle der öffentlichen Angelegenheiten durch die
gewählten Vertreter des Volkes in solchem Ausmaße
ausgeschaltet worden, wie es jetzt geschieht, (sehr wahr! bei den
Sozialdemokraten) und wie es durch das neue
Ermächtigungsgesetz noch mehr geschehen soll.“ Sämtliche
Abgeordnete der bürgerlichen Parteien stimmten dieser
Liquidierung der parlamentarischen Demokratie und der
Rechtsstaatlichkeit zu. Die Redner von Zentrum, BVP, Deutscher
Staatspartei und Christlich-Sozialem Volksdienst versahen ihre
Zustimmung – neben wenigen schwachen Vorbehalten - mit
Anbiederungen und feigen Rechtfertigungsversuchen. Die geforderte
verfassungsändernde Zweidrittelmehrheit wurde mit 441 Ja-
gegen 91 Nein-Stimmen weit übertroffen und der faschistischen
Führung die erwünschte Fassade für den
nunmehr völlig ungehemmten Ausbau des Verbrecherstaates
geboten.
Die Göring-Mehrheit
überantwortete damit uneingeschränkte Machtbefugnisse
einer Partei, deren völkisch-antisemitisches, brutal
antisozialistisches, imperiales und terroristisches Wesen und
politisches Programm seit Jahren offensichtlich und erwiesen sowie seit
dem 30. Januar extrem forciert worden war. Der Verlauf zeigt: Das
Verhängnis bestand nicht in der angeblichen Zersplitterung in
viele kleine Parteien, sondern in dem Weg, den die
maßgeblichen großen bürgerlichen Parteien
eingeschlagen hatten. Nebenbemerkungen:
Die vier Abgeordneten des CSVD – darunter Bausch und
Simpfendörfer - beantragten am 3. Juli 1933, als
Gäste in die einzig verbliebene Fraktion – die der
NSDAP - aufgenommen zu werden. Dieses Privileg erhielten die
Abgeordneten der DNVP. Der Offizier, Guts- und Brauereibesitzer Oskar
Farny, bisher Zentrum, gehörte als Hospitant vom November 1933
bis Mai 1945
dem Großdeutschen
Reichstag an. Nahtlos folgte ab 1945 sein Aufstieg in
berufsständischen Verbänden, in den Bundestag (CDU,
1953) und als baden-württembergischer Minister für
Bundesangelegenheiten (1953-1960). Eine
beträchtliche Gruppe von Ja-Sagern fand sich bald nach 1945 in
den Ländern der Westzonen (im Einzelfall auch in SBZ) sowie ab
1949 im Bundestag und anderen Spitzenpositionen wieder,
angeführt von Theodor Heuß und Reinhold Maier (beide
FDP), Jakob Kaiser, Heinrich Krone, Ernst Lemmer und Karl
Simpfendörfer (CDU); Michael Horlacher und Hans Ritter von Lex
(CSU). - Zentrum und BVP brachten gemeinsam mit den
Regierungsparteien NSDAP und DNVP am 17. Mai 1933 die
Entschließung zur demagogischen außen- und
sicherheitspolitischen Rede Hitlers im Reichstag ein. Mit der Annahme
durch alle anwesenden Abgeordneten billigte der Reichstag die
„Erklärung der Reichsregierung“ und
stellte sich „geschlossen hinter die
Reichsregierung“. Wiederholt verzeichnet das Protokoll bei
der Rede Hitlers neben den Regierungsfraktionen auch Beifall von BVP
und Zentrum.
- Nach Unterdrückung,
Verbot und Verfolgung der KPD und der Gewerkschaften sowie dem Verbot
der SPD am 22. Juni lösten sich BVP, Zentrum, DVP,
Staatspartei und alle sonstigen Parteien – außer
der NSDAP – bis Anfang Juli 1933 selbst auf. In diesem
kläglichen Ende mischten sich Repressionen und Drohungen mit
Kapitulation, Anbiederung sowie Existenz- und Zukunftsängsten.
Im Auflösungsbeschluss der Reichsleitung des Zentrums
hieß es, dass die Deutsche Zentrumspartei sich „im
Einvernehmen mit dem Herrn Reichskanzler Hitler mit sofortiger
Wirkung“ auflöse. Sie gebe damit „ihren
Anhängern die Möglichkeit, ihre Kräfte und
Erfahrungen der unter Führung des Herrn Reichskanzlers
stehenden nationalen Front zur
positiven Mitarbeit … rückhaltlos zur
Verfügung zu stellen.“ Ein Gesetz vom
14. Juli bestätigte die Nazipartei als alleinige Partei im
Dritten Reich und verbot jede Neugründung von Parteien.
Zurückgezogen
ins Kloster Maria Laach, schrieb Adenauer am 29. Juni 1933 an Dora
Pferdmenges in Köln: „Dem Zentrum weine ich keine
Träne nach; es hat versagt, in den vergangenen Jahren nicht
rechtzeitig sich mit neuem Geist erfüllt. … M. E.
ist die einzige Rettung ein Monarch, ein Hohenzoller oder meinetwegen
auch Hitler, erst Reichspräsident auf Lebenszeit, dann kommt
die folgende Stufe.“ (Adenauer im Dritten Reich, Berlin 1991,
S. 151) Am 5. Juli äußerte er sich
gegenüber der gleichen Adressatin über seine
„geteilten Gefühle“ angesichts der
Auflösung des Zentrums.
Einige
Bemerkungen exemplarisch zur BVP, der Vorläuferin der CSU;
entstanden Ende 1918 als bayerische Abspaltung vom 1870
gegründeten Zentrum. Sie verharte in hasserfüllter
Gegnerschaft zur Novemberrevolution und ohnehin der bayerischen
Räterepublik, war konservativ-föderalistisch,
antisemitisch sowie vor allem anderen: rabiat antisozialistisch Ihr
letzter Vorsitzender (seit 1929), Fritz Schäffer, Exponent des
rechten Flügels dieser Rechtspartei, hatte sich um die
Integration der NSDAP ins Herrschaftssystem und das Zusammengehen mit
ihr bemüht. Wäre sein Streben von Anfang 1933
aufgegangen, hätten das politische Schicksal der BVP und sein
eigenes wenige Monate später sicher dem von Alfred Hugenberg
und seiner DNVP geglichen – mit Fußtritt
abserviert, da nicht mehr benötigt. 1949 findet sich
Schäffer, nunmehr CSU und Leiter ihrer Landesgruppe in Bonn,
als Bundesfinanzminister in der Mitte-Rechtskoalition unter Adenauer
wieder. Ab Herbst 1950 gehören ihr der aus der DNVP kommende
Robert Lehr sowie ab 1953 weitere ehemalige Nazis als Bundesminister
(W. Kraft, Th. Oberländer, G. Schröder) an. Hans
Ritter von Lex trug am 23. März 1933 die Zustimmung der BVP
zum Ermächtigungsgesetz vor. Er rühmte ihre
Verdienste nach „der schmachvollen Revolution von
1918“ sowie seither um die nationale Gesinnung
und die wehrhafte
Betätigung in allen Ständen und Schichten -
einschließlich der Zurückweisung der
„Lüge von der deutschen Kriegsschuld“:
„Es ist selbstverständlich, dass eine Partei, die
von solcher Einstellung beseelt war und beseelt ist, auch in der
geschichtlichen Wende dieser Tage zur tatkräftigen Mitarbeit
am nationalen Aufbauwerk entschieden bereit ist.“ Bei den
Nazis hieß das: Führer befiehl, wir folgen Dir! von
Lex war ab Herbst 1933 bis 1945 Oberregierungsrat im
Reichsinnenministerium. Er setzte seine Karriere ab 1947 im bayerischen
Innenministerium und 1949 bis 1960 als Staatssekretär im
Bundesinnenministerium fort. Er war Beauftragter der Bundesregierung im
KPD-Verbotsprozess und es ist zuzugestehen, dass er wie Fritz
Schäffer dafür spätestens seit Ende der
zwanziger Jahren seine ideologisch-politische Eignung nachgewiesen
hatte. Die damals barbarisch angestrebte Ausrottung der
kämpferischen Arbeiterbewegung und des Marxismus war nach
riesigen Verbrechen und unzähligen Opfern fehlgeschlagen. Nun
war das grundsätzlich gleiche Ziel mit anderen, den
Zeitumständen angepassten, flexibleren Mitteln weiter zu
verfolgen. Neben den personellen
Kontinuitäten von der BVP zur CSU gibt es die
politisch-ideologischen: Beginnend mit F. J. Strauß, seinem
Umfeld und Anhang: Von der Verdrängung oder latenten Mitnahme
einer diskreditierten Erbschaft; der Rehabilitierung der
NS-Täter bis zu frühen Schlussstrichforderungen; von
den pronazistischen und rechtsextremistischen Affären um
Maunz, Frey und die DVU, v. d. Heydte und seinen Doktoranden W. Kunz
bis zur Einladung von Strauß an die „heimatlose
Rechte“, ein enges Verhältnis zur CSU nicht zu
scheuen; weiterhin Vorgänge und Episoden unter Stichworten
wie: Sympathien für Pinochet, griechische Obristen und
rassistische Freiheitskämpfer in Afrika;
Strauß-Spezi F. Schönhuber und die Entstehung der
Republikaner aus Milieus der CSU; Täterschutz auch
für Verbrechen überführter
Gebirgsjäger – alles mitgemacht oder fortgesetzt von
Waigel, Stoiber, Seehofer u. a. CSU-Politikern sowie ihnen
nahestehenden Publizisten, Professoren, Juristen, Offizieren,
Bischöfen usw. usf. Bundesinnenminister Friedrich (CSU) steht
mit seinem Extremismusverständnis
und heftiger Abneigung gegen ein NPD-Verbot in dieser Tradition einer
deutschen Rechtspartei seit 1918 bis heute. Die haltlosen
Denunziationen der VVN-BdA e. V. im letzten bayerischen
Verfassungsschutzbericht verraten ebenso wie Verlautbarungen des
Bundesinnenministers mehr über den weit rechts befindlichen
Standort ihrer Urheber als über die Angegriffenen. Auf diesem
Weg wird die CSU ihrer Vorgängerin BVP immer
ähnlicher. Wenige Anmerkungen zur
Schlüsselrolle des Antikommunismus, die ihm neben dem
Nationalismus sowohl in der Ideologie und Strategie der Nazis als auch
bei der Kapitulation und Selbstaufgabe aller anderen
bürgerlichen Parteien zukommt. Die Reichstagsbrandverordnung
vom 28. Februar 1933 wurde mit dem Vorwand einer akuten
kommunistischen Bedrohung eingeleitet. Die Nazis
übertölpelten ihre bürgerlichen Rivalen mit
deren eigener Ideologie. Diese kapierten zu spät, dass sie
selbst von den terroristischen und menschenverachtenden Konsequenzen
des nazistisch-antisemitischen Antibolschewismus nicht verschont
bleiben würden. Da trotz solcher Lektionen der Antikommunismus
bis heute zentrale, in diesem Land konstitutive, Funktionen in der
herrschenden Ideologie und Politik erfüllt, kann es kaum
überraschen, dass die damalige Bedrohungslüge der
Rechten in die heutige Geschichtsschreibung eingeht. In dem bereits
zitierten Geschichtsbuch „Zeiten und Menschen“ ist
zu lesen: „Führende NS-Politiker wie Hitler,
Goebbels und Göring (Innenminister in Preußen)
hielten es jedoch für undenkbar, dass sich die 'Marxisten',
wie sie verächtlich sagten, kampflos ergeben würden.
Göring rechnete fast täglich mit einem
kommunistischen Aufstand.“ (S. 103) Fast wird LeserIn vom
Mitleid gerührt und geneigt, zu verstehen, warum der
vielleicht friedfertige, jedoch verängstigte Göring
unverzüglich 50.000 SA- und SS-Leute als Hilfspolizisten
einsetzte und mit Schießerlass,
Verhaftungs- und Verbotswellen sowie den ersten KZ dem Terror neue
Schleusen öffnete. Der akademische
Beistand für solche Sichtweisen bleibt nicht aus. Der
Staatshistoriker Heinrich August Winkler sprach am 20. März
2013 vor der Bundestagsfraktion der SPD anlässlich des 80.
Jahrestages des Ermächtigungsgesetzes.
Darin findet sich der Passus: „Mit ihrer
Revolutionspropaganda schürten die Kommunisten die Angst vor
dem Bürgerkrieg, und diese Angst wurde zu einem wichtigen
Verbündeten Hitlers. Sie trug entscheidend dazu bei, dass die
Niederlage der NSDAP vom 6. November 1932 um ihren politischen Sinn
gebracht wurde und Hitler die Chance erhielt, sich als Retter vor der
roten Revolution zu präsentieren.“ (FAZ, 25.
März 2013) Entsprechende Unkenntnis und Vorurteile
voraussetzend und sie kultivierend, wird damit der
tatsächliche, vielgestaltige antifaschistische
Widerstand von Kommunisten, Sozialisten und Pazifisten
verfälscht und denunziert. Ihr Einsatz und ihre Opfer werden
in der geistigen Nachfolge damaliger Mitläufer des Nazismus
und heutiger politisch-ideologischer Duckmäuser im Lande
herabgesetzt. Der Wählerzuwachs für die KPD sowie die
in sie gesetzten Hoffnungen von ZeitgenossInnen wie Carl v. Ossietzky,
Hellmut v. Gerlach, Käthe Kollwitz, Heinrich Mann,
Arnold Zweig, Bertolt Brecht und vielen anderen bestätigen unsere
Einschätzungen – im Unterschied zu den Umdeutungen
des Herrn Winkler. Er bedient sich für gegenwärtige
Bedürfnisse antikommunistischer Geschichtsschreibung wie die
heutigen Lehrbuchschreiber der damaligen
Lügen. Resümiert man die
historischen Tatsachen, so lautet das Fazit: Die bürgerlichen
Parteien sind zwischen Juli 1932 und Juli 1933 den Erwartungen der
faschistischen Führung auf dem Weg zur Errichtung der Diktatur
nachgekommen. Zweckdienliche Zugeständnisse, Manöver
und Nötigungen der Nazis waren erfolgreich. Wie von ihnen
einkalkuliert, blieben Vorbehalte und Gegenwehr - sofern
überhaupt angedeutet - schwächlich und letztlich
wirkungslos. Ihren strategischen Zielen untergeordnet, wurden von
Hitler und Konsorten sämtliche taktischen Ziele in den
Machtzentralen Reichspräsident, Reichstag, Reichsregierung,
Verfassung sowie beim vorübergehend gewünschten
friedenspolitischen Image realisiert. Die entmachteten
Parteien und Politiker wurden mit Fußtritten entlassen sowie
das Mehrparteiensystem, die Reste von Rechtsstaatlichkeit und
Humanität, durch einen Mix von Unterdrückung und
Kapitulation, Demagogie und Terror liquidiert. Was
verbindet – neben vielem anderen – heutiges
Beschwichtigen und Versagen gegenüber Rechtsterrorismus und
Rassismus mit den Ereignissen von 1932/33? Die zentrale Folgerung dieses
Beitrags dazu lautet: Es kann und wird keine an die Wurzeln reichende,
konsequente Aufklärung und Lehre aus dem Versagen
gegenüber dem Nationalsozialistischen Untergrund (NSU), aber
auch hinsichtlich der Versäumnisse, Halbheiten und
Entstellungen in mehr als sechzig Jahren Bundesrepublik geben, wenn
nicht endlich die Schuldfragen von 1932/33, die Schlussstrichpolitik ab
September 1949 sowie die seitherigen Verdrängungen und
Lügen bis zu den gesellschaftspolitischen und ideologischen
Quellen und Triebkräften, bis zu den Hauptverantwortlichen,
Opfern und Auswirkungen schonungslos aufgearbeitet und
öffentlichkeitswirksam dargestellt und vermittelt werden. Mit
militantem Antikommunismus als Leitmotiv und Kern der
Identitätsstiftung der Bundesrepublik Deutschland kann es im
Geschichtsbild wie bei Zukunftsentwürfen keinerlei wirklichen
Neubeginn geben. Ludwig Elm,
Jena Jüngere
Veröffentlichungen des Autors zum Thema:
- Legal
in den Verbrecherstaat? Zum Anteil aller bürgerlichen Parteien
an der Zerstörung der Weimarer Republik und der Errichtung der
nazistischen Diktatur 1932/33, Jena 2008, 16 S.
(Rosa-Luxemburg-Stiftung Thüringen e. V. TEXTE &
ARGUMENTE): http://www.die-linke.de/partei/weiterestrukturen/berufenegremien/historischekommission/diskussionsbeitraege/legalindenverbrecherstaat
- Rückblicke
auf 1933 – Atemberaubender „Mut zur
Lücke“ in den Medien, in: antifa, Juli/August 2008,
S. 24f.: http://antifa.vvn-bda.de/200807/2401.php
- Selbstaufgabe eines Parlaments, in:
Marxistische Blätter (MB), 6, Nov./Dez. 2012, S. 74-80: http://www.marxistische-blaetter.de/
- Das
Verhalten der bürgerlichen Fraktionen des Reichstages und
ihrer Abgeordneten, in: Der Tag von Potsdam. Der 21. März 1933
und die Errichtung der nationalsozialistischen Diktatur. Hrsg. von
Christoph Kopke und Werner Treß, Berlin/Boston 2013, S.
134-146 (Europäisch-jüdische Studien. Hrsg. vom Moses
Mendelssohn Zentrum, in Kooperation mit der Gesellschaft für
Geistesgeschichte. Redaktion: W. Treß, Bd. 8)
- Der
Umgang mit der NS-Vergangenheit. CDU, CSU und FDP verweigern weiterhin
Selbstkritik und Aufklärung, in: MB, 1, Jan./Febr. 2013, S.
31-38
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