16.06.2013 20 Jahre nach dem Brandanschlag in Solingen Rede von Cornelia Kerth, Bundesvorsitzende der VVN-BdA, am 25.05.2013 auf der Gedenkdemo in Solingen Wir
haben uns damals gefragt und wir fragen uns heute, wie es dazu kommen
konnte. Dazu müssen wir uns zurückerinnern an die Stimmung zu
Beginn der 1990er Jahre, sagte Cornelia Kerth und untersuchte die
damalige und heutige rassistische Wirklichkeit. Wenn wir uns
heute an den Brandanschlag vom 29. Mai 1993 erinnern, erinnern wir uns
natürlich zuerst an die Opfer dieses heimtückischen
Verbrechens. Wir denken an Saime, Hülya und Hatice Genc, an Gülüstan Öztürk und Gürsün Ince. Unser
Mitgefühl gilt den Familienmitgliedern, die bei dem Brandanschlag
teilweise schwer verletzt wurden, der ganzen Familie, den Freund_innen,
die das Geschehene nie vergessen können, die den Verlust kaum
überwinden können. Wir haben uns damals gefragt und wir
fragen uns heute, wie es dazu kommen konnte. Dazu müssen wir uns
zurückerinnern an die Stimmung zu Beginn der 1990er Jahre: Am
3. Oktober 1990 endete im Bewusstsein vieler Deutscher die
„Nachkriegszeit“, war doch die Existenz zweier deutscher
Staaten der sichtbarste Ausdruck des verlorenen Krieges, den der
deutsche Faschismus über Europa und die Welt gebracht hatte. Die
militärische Zerschlagung des Nazi-Staates und die Schaffung
halbwegs zivilisierter Nachkriegsordnungen unter Aufsicht der
Siegermächte hatten dazu geführt, dass Revanchismus,
Chauvinismus und Militarismus enge Grenzen gesetzt worden waren. In
vielen Köpfen aber lebte die völkisch-nationale Ideologie
durchaus weiter. Rassismus gehörte immer zum
„Alltagsbewusstsein“. In der Bundesrepublik
Deutschland konnten Nazi-Verbrecher, -Funktionäre und
-Mitläufer schon früh wieder Karriere machen. Faschisten
konnten sich organisieren und taten es natürlich auch. Es ist hier
nicht der Ort um detailliert darauf einzugehen. Offensichtlich
war es auch in der DDR nicht gelungen, die ideologischen Wurzeln des
Faschismus nachhaltig zu bekämpfen, auch hier waren Nationalismus
und Rassismus weit verbreitet. Aus dem Ruf der Leipziger
Montags-Demonstranten „Wir sind das Volk“ war jedenfalls
schon bald „Wir sind ein Volk“ geworden. Und schon bald
nach dem 3. Oktober hörte man „Deutschland den Deutschen
– Ausländer 'raus“ in Ost und West. Bereits in
den 1980er Jahren hatte es immer wieder Versuche gegeben, das im
Grundgesetz verankerte Grundrecht auf Asyl abzuschaffen; die waren aber
stets gescheitert. Anfang der 1990er Jahre nun, als all' die Menschen
aus den zerfallenden Staaten des ehemaligen „Ostblocks“ ,
die 40 Jahre lang mit der Forderung nach „Reisefreiheit“
von allen Bundesregierungen eingeladen worden waren, auch kamen, war es
dann so weit: „Das Boot ist voll“, titelte der
„Spiegel“, „wann sinkt das Boot?“, fragte
„Bild“. Und sinkende Boote waren stets überfüllt
und umringt von dunkelhaarigen Menschen. Als im Herbst 1991
Flüchtlinge aus Hoyerswerda evakuiert werden mussten, weil Politik
und Polizei sich nicht in der Lage sahen, ihr Leben gegen einen
rassistischen Mob zu schützen, konnten sich die Drahtzieher des
Pogroms durchaus als militante Vorhut eines veröffentlichten
„Volkswillens“ verstehen. Überall im Land wurden
seitdem einzelne Flüchtlinge und Unterkünfte angegriffen. In
Rostock-Lichtenhagen haben wir im vergangenen August an das
rassistische Pogrom erinnert, bei dem zum ersten Mal ein bewohntes Haus
brannte. Die Bewohner_innen mussten stundenlang auf dem Dach ausharren,
die Polizei konnte der Feuerwehr keinen Weg durch die Massen bahnen,
die offensichtlich Blut – oder verkohlte Leichen – sehen
wollten. Ebenso offensichtlich war die Situation am
„Sonnenblumenhaus“, die angeblich zum Pogrom führte,
durch politisches Handeln herbeigeführt worden. So erklärt es
sich auch, dass die Konsequenz aus dieser mörderischen
Massenveranstaltung nicht die konsequente juristische und politische
Kampfansage an Faschisten und Rassisten war, sondern die Abschaffung
des Grundrechts auf Asyl. Mord und Totschlag hatten also zum
politischen Erfolg geführt! Nur 3 Tage vor dem Solinger Brandanschlag fasste der Bundestag den Beschluss mit einer CDU-FDP-SPD-Mehrheit. Und
nun waren „die Türken“ dran. Und alle anderen, die
nach klassischem Nazi-Verständnis „undeutsch“ sind:
Obdachlose, Behinderte, Linke und immer wieder Flüchtlinge und
Migrant_innen. Mindestens 180 Menschen wurden seit 1990 aus
rassistischen Motiven ermordet. Meist waren die Mörder aus
Sicht der ermittelnden Polizei und der Justiz
„Einzeltäter“ - wie auch hier. Obwohl – wie auch
hier – die Verbindung zum organisierten Neofaschismus auf der
Hand lag. Über die Rolle der „Verfassungsschutzes“ und
seiner „V-Leute“ in diesem Zusammenhang hat gerade schon
Rolf Goessner gesprochen. Nur so ist es zu erklären, dass auch
noch im Herbst 2011, kurz vor der zufälligen Enttarnung des
NSU, der Innenminister behauptete, es gäbe in Deutschland
kein Anzeichen für organisierten Rechtsterrorismus. Als wir
im letzten Sommer unsere Aktionen in Rostock-Lichtenhagen
vorbereiteten, stießen wir dort nur auf geringe
Unterstützungsbereitschaft. SPD, Grüne und selbst Teile der
Linken hielten uns entgegen, man dürfe „die
Menschen“ in Lichtenhagen nicht verantwortlich machen für
das Geschehene. Und der Bundespräsident ließ am
„Sonnenblumenhaus“ Kinder singen und pflanzte eine deutsche
Eiche, wo Roma vertrieben wurden und Vietnamesen fast verbrannt worden
wären. Welche Symbolik! Womit wir wieder im „Hier und
Heute“ sind . Die FES führt seit 2002 Studien zu
„rechtsextremen Einstellungen“ in der „Mitte der
Gesellschaft“ durch. - 2012 fanden die Autoren heraus,
dass mehr als 45 % der Deutschen zumindest teilweise der Aussage
zustimmen: „Die Ausländer kommen hierher um unseren
Sozialstaat auszunutzen“. Angeführt werden sie dabei von
einem Bundesinnenminister, der dies gern in jedes Mikrophon sagt und
mit dieser Begründung bei der EU-Kommission die
Wiedereinführung von Grenzkontrollen im Ost-erweiterten Europa
beantragt hat. Er ist daran gescheitert, dass er für diese
Behauptung keinen Beweis vorlegen konnte.
- Fast 70 % der
Deutschen meinen wenigsten teilweise: „Wir sollten endlich wieder
Mut zu einem starken Nationalgefühl haben“, 57 % stimmen
zumindest teilweise der Forderung zu, „oberstes Ziel deutscher
Politik sollte es sein, Deutschland die Macht und Geltung zu
verschaffen, die ihm zusteht“ und immerhin
- 40 %
finden wenigsten teilweise, Deutschland brauche jetzt „eine
starke Partei, die die Volksgemeinschaft insgesamt
verkörpert“. 20 Jahre nach dem Brandanschlag von Solingen,
bei dem 5 Menschen starben, mehrere Menschen so schwer verletzt wurden,
dass sie für ihr Leben davon gezeichnet sind und viele andere
durch diese schreckliche Erinnerung sicher nie wieder unbeschwert leben
können, hat sich nichts zum Guten gewendet.
- Die
täglich neu ans Licht kommenden VS- und Ermittlungsskandale, die
alltägliche Tolerierung und Verharmlosung faschistischer Umtriebe,
die unerhörten Geschmacklosigkeiten, Nachlässigkeiten und
Verzögerungen, die sich jetzt schon im und um den NSU-Prozess
abzeichnen, die staatliche Hetze gegen Flüchtlinge und der
staatstragende Rassismus – wie er u. a. von dem immer noch
Mitglied Sarrazin verbreitet wird schaffen ein Klima, in dem
Ähnliches jederzeit wieder möglich ist.
Es ist
unsere Aufgabe, die Aufgabe von Antifaschist_innen, die dem Schwur von
Buchenwald verpflichtet sind, und die Aufgabe aller Menschen, die dem
Geist des Humanismus verpflichtet sind, dafür zu sorgen, dass sich
diese Verhältnisse ändern. Wir müssen uns einsetzen und durchsetzen Wir müssen Solidarität organisieren Gegen gesellschaftlichen Rassismus und
Nazi-Terror stehen wir ein für grenzenlose Solidarität,
für die neue Welt des Friedens und der Freiheit, die uns die
Überlebenden des historischen Nazi-Terrors zum Vermächtnis
hinterlassen haben. Dafür demonstrieren wir heute und dafür müssen wir im Alltag weiter kämpfen.
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