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Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes
Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten

Landesvereinigung NRW

 

21.04.2013

Zweite und dritte Opfergeneration schweigt nicht länger

Eine Gemeinschaft der „Kinder des Widerstandes“

Alice Czyborra,Tochter von Ettie und Peter Gingold, hat sich vor eineinhalb Jahren gemeinsam mit drei weiteren Töchtern antifaschistischer Widerstandskämpfer mit dem Appell „Hinterbliebene von NS-Opfern fordern ihr Recht“ an die Öffentlichkeit gewandt. Izwischen hat die Gruppe "Kinder des Widerstandes" einige Aktionen gestartet und weitere MitstreiterInnen gefunden. Am Dienstag 7. Mai 2013 treffen sich Kinder des Widerstandes um 18 Uhr im Dortmunder Dietrich-Keuning-Haus, Leopoldstr. 50-58. Reinhard Junge, Gisa Marschefski und Günter Bennhardt sprechen bei einem „Erzählcafé“ über ihre Kindheitserlebnisse, über Widerstand als Mahnung, Aufgabe und Pflicht – heute und morgen.Nachstehend ein Interview mit Alice Czyborra, das Ulrich Sander, VVN-BdA-Sprecher, führte.

Zweite und dritte Opfergeneration schweigt nicht länger

Eine Gemeinschaft der „Kinder des Widerstandes“

Alice Czyborra, du bist Tochter von Ettie und Peter Gingold. Du hast dich vor einiger Zeit gemeinsam mit drei weiteren Töchtern antifaschistischer  Widerstandskämpfer mit dem Appell „Hinterbliebene von NS-Opfern fordern ihr Recht“ an die Öffentlichkeit gewandt. Um wen geht es?

Es geht um die Probleme der zweiten und dritten Generation, die Kinder und Enkel von zumeist politisch Verfolgten und Widerstandskämpfern. Sie sind zwischen 1930 und 1960 geboren. Viele von ihnen litten unter den Maßnahmen, die gegen ihre Eltern ergriffen wurden. Sie kamen in  NS-Familien zur „Umerziehung“ oder wurden in den Schulen diskriminiert oder in Heimen diskriminiert. Ich selber konnte nur überleben, weil mich in Frankreich mutige Menschen als jüdisches Kind versteckten, während meine Eltern sich der Résistance anschlossen. Nach dem Krieg wurde meiner Familie als ehemalige Emigranten viele Jahre die deutsche Staatsbürgerschaft verwehrt. Mit dem Kalten Krieg waren unsere Familien ja erneut von Verfolgung betroffen.

An wen richten sich Eure Kritik und Forderungen?

Zunächst an die Öffentlichkeit und die Medien. In vielen europäischen Ländern gibt es Organisationen der „Kinder des Holocaust“. Bei uns gibt es so was noch nicht. Die Kinder des Widerstandes sind kein Thema. Das liegt auch daran, dass diese lange geschwiegen haben. Das wollen wir ändern. Zum Beispiel wollen wir erreichen, daß dem Arbeiterwiderstand und den Widerstandskämpfern, die auch nach 1945 wieder verfolgt wurden, mindestens eine Gedenkstätte gewidmet wird.

In dem Text geht es um Wiedergutmachung und Rehabilitierung. Was ist damit konkret gemeint?

Das ist sehr unterschiedlich. Wer aus einem Hause kam, in dem die Erwachsenen sowohl unter Hitler wie Adenauer politisch verfolgt wurden, der hatte direkt materielle Nachteile, denn den Eltern wurden Entschädigungen wieder aberkannt. Es geht aber nicht nur um materielle Nachteile; der Widerstand der Eltern wurde nicht anerkannt, das heißt die Kinder waren weiterhin Außenseiter. Es geht um die Rehabilitierung und Entschädigung der politischen Opfer des Kalten Krieges.

Man kann also sagen, ihr seid indirekte Opfer des Kalten Krieges?

Man muss sich mal die Situation in jener Zeit vorstellen, in der viele von uns Kinder und Jugendliche waren. In der Bundesrepublik konnten Eliten der Nazizeit aus Wirtschaft, Militär und dem Staats- und Terrorapparat des Naziregimes, darunter Justiz, Gesundheitswesen, Polizei und Geheimdienste wieder tätig werden, Einfluss nehmen und dabei weiterhin gegen Antifaschisten vorgehen. Ärzte aus der NS-Zeit wurden als Gutachter eingesetzt, um die Entschädigungsrechte der oft schwer geschädigten politisch, rassisch und religiös Verfolgten in Zweifel zu ziehen. Ehemalige Gestapobeamte fanden in der Polizei der BRD wieder Verwendung, und man setzte sie auch ein, um die demokratischen Rechte der Verfolgten erneut anzutasten. Organisationsverbote führten zur Bestrafung der Widerstandskämpferinnen und -kämpfer, während Naziorganisationen wie die NPD sich ungehindert entfalten konnten. Berufsverbote wurden gegen die Kinder von Antifaschisten ausgesprochen. Und unser Versammlungsrecht wurde eingeschränkt.

Hat euer Appell schon Gehör gefunden?

Zunächst hatten sich neben mir Traute Sander (Burmester), Inge Trambowsky (Kutz) und Klara Tuchscherer (Schabrod) engagiert. Es haben inzwischen weitere Betroffene sich der Gruppe angeschlossen und wir hoffen natürlich auf weiteren Zuspruch. Die Bundesorganisation der VVN-BdA, vor allem der Landesverband NRW, unterstützt uns. Ferner die Initiativgruppe für die Rehabilitierung der Opfer des Kalten Krieges. Der Bundesverband Information und Beratung für NS-Verfolgte in Köln hat sich unserer Sache angenommen. Es finden Treffen von Opfern der Kinder- und Enkelgeneration  statt. Wir treffen uns zu Erzählcafes. Wiederholt hat sich Jan Korte als Bundestagsabgeordneter der Linkspartei unserer Sache angenommen. Er legte im Bundestag die Forderung vor, auch unsere Eltern, die linken politischen Widerstandskämpfer, die Kommunistinnen und Kommunisten endlich anzuerkennen. Leider benehmen sich – bis auf die Grünen – die Abgeordneten aller Parteien ziemlich verrückt gegenüber dem Anliegen von uns und Jan Korte. Das Vorgehen gegen unsere Eltern und Großeltern wird als rechtsstaatlich dargestellt.

Betrachtet ihr euch als neue Zeitzeugen?

So kann man es nennen. Jedoch: Es sind unsere Eltern, die den Mut hatten, Widerstand zu leisten. Wir sind die unmittelbaren Zeugen der Zeitzeugen. Wir sind auch schon in Schulen und Diskussionsforen unterwegs gewesen. Wichtig sind auch die Freundeskreise von Gedenkstätten, denn dort besteht leider die Tendenz, die Hinterbliebenen aus der Gedenkarbeit auszugrenzen. Wir lassen uns aber nicht beiseite schieben.

Ihr habt einen Flyer herausgegeben, mit dem Ihr zum Ausdruck bringt, daß Ihr „Antifaschismus als Aufgabe“ – so Euer Motto – anseht. Ihr greift konkret ein in den Bewegungen gegen rechts und für den Frieden. So haben wir Euch auf den Ostermärschen angetroffen. Was vermittelt Ihr vor allem in den Gesprächen.

Es geht uns besonders um dies, und ich zitiere eine Passage aus dem Buch meines Vaters:

„1933 wäre verhindert worden, wenn alle Hitlergegner die Einheitsfront geschaffen hätten. Dass sie nicht zustande kam, dafür gab es (…) nur eine einzige Entschuldigung: Sie hatten keine Erfahrung, was Faschismus bedeutet, wenn er einmal an der Macht ist.

Aber heute haben wir alle diese Erfahrung. Heute muss jeder wissen, was Faschismus bedeutet. Für alle zukünftigen Generationen gibt es keine Entschuldigung mehr, wenn sie den Faschismus nicht verhindern.“  

Interview: Ulrich Sander

Am Dienstag 7. Mai 2013 treffen sich Kinder des Widerstandes um 18 Uhr im Dortmunder Dietrich Keuning Haus, Leopoldstr. 50-58, Reinhard Junge, Gisa Marschefski und Günter Bennhardt sprechen bei einem „Erzählcafé“ über ihre Kindheitserlebnisse, über Widerstand als Mahnung, Aufgabe und Pflicht – heute und morgen. Wer mit der Gruppe in Kontakt treten möchte, schreibe an VVN-BdA NRW, Gathe 55, 42107 Wuppertal, nrw[at]vvn-bda[dot]de. 

Werner Faeskorn, VVN-BdA Remscheid, über seine Kindheitserlebnisse

Die Angst des Vierjährigen um den Vater

„Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus“ war 1945 die Forderung, der aus Gefängnissen und KZ-Lagern befreiten Häftlinge. Diese Forderung gilt auch heute noch. Sie ist Auftrag und Verpflichtung.

Die heute hier anwesenden jungen Menschen, veranlassen mich, über meinen Vater, Fritz Faeskorn, zu berichten. Sein Schicksal prägte unsere Familie, prägte mein Leben als Kind und Jugendlicher.

In den Jahren vor 1933 war mein Vater in Hagen Mitglied der KPD und aktiver Gegner der faschistischen Gefahr für Deutschland. Er verteilte Flugblätter gegen die Nazis in einem Polizei-Ausbildungslager. Ende 1932 wurde er dabei verhaftet und im März 1933 wegen Hochverrat, zu eineinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Nach der „Strafverbüßung“, wurde er Ende 1934 aus der Haft entlassen.

Zu den Genossen der KPD in Hagen hatte er wieder Kontakt und spendete eine Mark / fünfzig für die „Rote Hilfe“, einer Hilfsorganisation für inhaftierte Genossen und ihre Familien. Am 27. Mai 1935 wurde er mit vielen anderen Genossen, nachts erneut verhaftet.

Meine Mutter lag im Krankenhaus, meine ältere Schwester war bei Verwandten, mich ließ die Polizei mit 4 Jahren, nachts allein in der Wohnung zurück. Als Kind hatte ich viele Jahre Angst vor der Polizei.

Am nächsten Tag erfolgte die Überführung der Verhafteten nach Dortmund, in die berüchtigte „Steinwache“. Bei den Verhören konnte man meinem Vater nur die Spende für die „Rote Hilfe“ beweisen. Das reichte für ein neues Strafverfahren gegen ihn. September 1935 war der Prozeß gegen 24 Angeklagte aus Hagen vor dem Oberlandesgericht in Hamm. Mein Vater wurde als „Wiederholungstäter“ zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt. Von Ende 1935 bis Dezember 1943 war mein Vater acht Jahre im Zuchthaus Münster in Haft. Auch Paul Claasen aus Solingen war dort lange inhaftiert. Kurz vor Weihnachten 1943 wurden sie mit einer großen Gruppe Häftlingen, mehrere Wochen mit unbekanntem Ziel, durch Deutschland transportiert. Mitte Januar 1944 kamen sie im KZ Mauthausen bei Linz in Österreich an. In den Begleitpapieren der Häftlinge stand: „RU“, das hieß, - „Rückkehr unerwünscht“. Nach etwa acht Wochen wurden mein Vater und Paul Claasen in das Nebenlager KZ Ebensee überführt. Das KZ war 1943, in einer schönen Landschaft am Traunsee bei Bad Ischl, auf Befehl der obersten SS-Führung, für die Raketen - und Rüstungsproduktion errichtet worden. Die Häftlinge mussten in kurzer Zeit riesige Stollen in die Berge treiben.

Im KZ Ebensee waren von 1943 bis 1945 mehr als 27.000 Häftlinge aus vielen Ländern in Haft, ca. 8.400 von ihnen sind durch die schwere Arbeit beim Stollenbau, durch Unfälle, Hunger und Krankheit gestorben oder wurden von der SS direkt ermordet. Mein schwer erkrankter Vater hätte ohne die Hilfe von Paul Claasen, der im Krankenrevier arbeitete, das KZ nicht überlebt.

Am 6. Mai 1945 wurde das KZ Ebensee von der amerikanischen Armee befreit. Paul Claasen und mein Vater sind nach der Befreiung aus dem KZ, von Ebensee bis Solingen und Hagen, zu Fuß in ihre Heimat zurückgekehrt.

Als mein Vater 1933 zum ersten Mal verhaftet wurde war ich drei Jahre, als er 1945 krank zurück kam, war ich 15 Jahre. Wurde ich als Kind gefragt, wo mein Vater war, hatte ich darauf keine andere Antwort, als zu sagen, er ist tot. Diese traumatischen Erlebnisse, die mein Leben mit prägten, möchte ich den nachfolgenden Generationen ersparen. Auch deshalb spreche ich heute hier. (aus einer Gedenkrede am Wenzelnberg im Jahre 2012)

   

Die Verfolgung durch die Nazis galt als selbst verschuldet

Aus dem Jahr 1966 stammt ein Gutachten eines der höchsten wiederverwendeten Beamten (131er) und Nazi-Mediziner, Hans Bürger-Prinz, der nach dem Krieg in Hamburg der allein zuständige Gutachter in Wiedergutmachungsfällen war. Er bescheinigte meinem Schwiegervater, daß ihm keine Entschädigung zukomme, denn »der Kläger nahm die Risiken einer Verfolgung im Sinne einer mehr oder weniger bewußt gewählten Selbstbewährung im Einsatz für die Idee auf sich, unterscheidet sich darin also gegenüber der unausweichlich Situationen eines rassisch Verfolgten«. Der Kommunist Artur Burmester war also selbst schuld, er hätte den Widerstand unterlassen sollen, dann hätten ihm die Nazis nichts angetan. Dabei wird in dem Gutachten durchaus deutlich, wie der Junge gelitten hat, der bereits 1933 mit 17 Jahren in die Fänge der Gestapo geriet und insgesamt dreieinhalb Jahre Haft und »Bewährungseinheit 999« sowie Zwangsarbeit durchlitt. In der Haft wurde er mißhandelt, getreten, gefoltert, um »Geständnisse« von ihm zu erzwingen. Die Täter wurden nicht bestraft, sie hatten nach 1945 ein Recht auf Weiterbeschäftigung (131er). Die Organisation des Artur Burmester war die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes. Sie war in Hamburg in den sechziger Jahren verboten, so auch in einigen anderen Bundesländern.

Ulrich Sander