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Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes
Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten

Landesvereinigung NRW

 

13.03.2013

Das Lehrstück vom 30. Januar 1933 - Von Georg Fülberth

Was hätte man 1933 wissen können und was kann man heute wissen

Was hätte man wissen können? Das fragt Georg Fülberth in den "Marxistischen Blättern" mit Blick auf das Jahr 1933. Am 30. Januar 1933 wurde Adolf Hitler vom Reichspräsidenten Paul von Hindenburg zum Kanzler des Deutschen Reiches ernannt. Was darauf folgte, wissen wir heute: Die Bilanz ist seit Jahrzehnten bekannt. Was hätte man am 30. Januar 1933 davon voraussehen können - und was heute? Das deutsche Kapital benötigt heute keinen Faschismus, um international seine Interessen durchzusetzen. Als es 1933 Hitler rief, verfolgte es allerdings noch einen zweiten Zweck: Zerschlagung der Arbeiterbewegung, nicht nur der kommunistischen, sondern auch der sozialdemokratischen und der Gewerkschaften. Der gegenwärtige Außenminister hat in seiner Oppositionszeit tatsächlich gefordert, die Gewerkschaften zu „entmachten“. Diese und andere Gemeinsamkeiten von Konservativen und Nazis heute gilt ers zu untersuchen. Der Wortlaut des Aufsatzes in den "Marxistischen Blättern" Nr.2/13 wird mit freundlicher Genehmigung der Redaktion hier abgedruckt:

Das Lehrstück vom 30. Januar 1933

Von Georg Fülberth

Was hätte man wissen können?

Am 30. Januar 1933 wurde Adolf Hitler vom Reichspräsidenten Paul von Hindenburg zum Kanzler des Deutschen Reiches ernannt. Was darauf folgte, wissen wir heute:

Georg Fülberth (Foto: Jochen Vogler, r-mediabase.eu)Sofort kam es zu Gewalttaten gegen Jüdinnen und Juden, Kommunistinnen und Kommunisten, Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten. Nach dem Reichstagsbrand in der Nacht vom 27. auf den 28. Februar verschärfte sich der Terror, die Kommunistische Partei Deutschlands wurde verboten. Am 1. April nahm SA vor Geschäften in jüdischem Besitz Aufstellung, um deren Boykott zu erzwingen. Am 2. Mai 1933 wurden die Gewerkschaften verboten, am 22. Juni die SPD. Am 30. Juni 1934 sind die bisherige Führung der SA und konservative Politiker, von denen einige zu den Steigbügelhaltern Hitlers gezählt hatten, durch Mord liquidiert worden. Jüdische Staatsbürgerinnen und -bürger wurden durch die Nürnberger Rassegesetze von 1935 entrechtet. Einer der beiden offiziellen Kommentatoren war der spätere Staatssekretär Adenauers, Dr. Hans Globke. Dann folgten die außenpolitischen Aggressionen: 1938 der Anschluss Österreichs, im selben Jahr die Annexion des Sudetenlandes, ein Jahr später der Rest-Tschechoslowakei, der Überfall auf Polen, der Beginn des zweiten Weltkriegs gegen Frankreich und Großbritannien, im Zusammenhang damit die Niederwerfung Frankreichs und nach und nach die Besetzung Belgiens, Luxemburgs, der Niederlande, Dänemarks und Norwegens, Jugoslawiens, am 22. Juni 1941 der Überfall auf die Sowjetunion und der Beginn des Vernichtungskriegs im Osten. Sechs Millionen Jüdinnen und Juden, Sinti und Roma wurden ermordet, der zweite Weltkrieg forderte 50 Millionen Tote.

Das ist die Bilanz, seit Jahrzehnten bekannt. Was hätte man am 30. Januar 1933 davon voraussehen können?

Gewiss, es gab Hitlers Buch „Mein Kampf“, 1925. Dort war schon das Programm des Antisemitismus und der Expansion nach Osten nachzulesen. Hitler hatte nie ein Hehl daraus gemacht, dass er ein Feind der Demokratie war. Aber irgendwelche Ideologen mit wilden Plänen waren schon seit Jahrzehnten aufgetreten, Hitler hat nur aufgesogen und wiederholt, was er bei ihnen fand. Die Lehre von der Überlegenheit der weißen Rasse, vom Übermenschen und von den Minderwertigen, auch der Antisemitismus war Gemeingut der Mehrheit der so genannten Gebildeten. Kaum jemand aber hatte vorher die einzelnen Ideologen als aktive oder gar erfolgreiche Politiker ernst genommen. Bis 1930 – dem Jahr des ersten großen Erfolges der NSDAP bei einer Reichstagswahl – galt vielen auch deren Führer als eine eher bizarre Figur. Und auch danach noch, als seine Partei die stärkste geworden war, konnte, wer wollte, sich Illusionen machen: Nichts werde so heiß gegessen wie gekocht, man könne annehmen, dass der Chef einer extremen Partei, ist er erst einmal im Staatsamt, dort auf Sachzwänge treffen werde, die stärker sind als er.

Hitlers Ernennung zum Reichskanzler hat deshalb auch im Ausland nicht nur alarmiert. Es gab Beobachter, selbst auf der Linken, die ihn in eine Reihe anderer auffälliger Politiker in einer aufgewühlten Zeit einordneten, als einen von mehreren. In der kommunistischen Bewegung verglich man ihn sogar mit dem neuen US-amerikanischen Präsidenten Franklin Delano Roosevelt, der im selben Januar 1933 ins Amt kam: beide galten als Vertreter einer Politik des Großkapitals. An Faschismus in Europa, auch Faschismus an der Macht, war man mittlerweile gleichsam gewöhnt: seit 1922 wurde Italien von Mussolini regiert, in Portugal kam 1926 Salazar an die Macht, in Polen im selben Jahr der ehemalige Sozialist Piłsudski. Und nun also auch Hitler, ein Faschist neben anderen. Im Vorwort zur deutschen Ausgabe des Hauptwerks „Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes“ von John Maynard Keynes (1936) schrieb dieser, es könne „die Theorie der Produktion als Ganzes, die den Zweck des folgenden Buches bildet, viel leichter den Verhältnissen eines totalen Staates angepasst werden als die Theorie der Erzeugung und Verteilung einer gegebenen, unter Bedingungen des freien Wettbewerbes und eines großen Maßes von laisser-faire erstellten Produktion.“1 Zugegeben: dies war vor dem Krieg und dem Judenmord. Es war im Jahr der Olympischen Spiele in Berlin.

Einen Intellektuellen gab es allerdings, der sofort erkannte, dass Hitler abgrundtief katastrophaler war als die anderen faschistischen Diktatoren, der zwischen ihm und diesen also nachgerade einen qualitativen Unterschied sah. Das war Karl Kraus in Wien. Nach Hitlers Machtantritt ließ er viele Monate seine Zeitschrift, „Die Fackel“, nicht mehr erscheinen. 1934 errichtete in Österreich Engelbert Dollfuß die Diktatur des Austrofaschismus und Karl Kraus erklärte diesen zum kleineren Übel gegenüber der Hitlerherrschaft, die er als das größte Unglück von Anfang an durchschaut hatte – und diese Einsicht reichte bei ihm dann doch nur zu jener hilflosen Reaktion, die Bertolt Brecht veranlasste, Karl Kraus die Freundschaft aufzukündigen.

Wer heute zu Recht die Forderung des „Nie wieder Faschismus! Nie wieder Krieg!“ erhebt, tut gut daran, sich die Verstörung und Irritation zu vergegenwärtigen, die damals sogar einige helle Köpfe befallen hatten. Nicht alle waren sofort so klar wie Albert Einstein. Sicher: Es gab die „Weltbühne“ von Carl von Ossietzky und Kurt Tucholsky. Ihre Auflage war klein, nicht zu vergleichen mit der Massenpresse des Deutschnationalen Alfred Hugenberg. Tucholsky verstummte 1930 und ging ins Exil nach Schweden. Hellsicht bewies die KPD. Zur Reichspräsidentenwahl 1932 hatte sie die Parole ausgegeben: „Wer Hindenburg wählt, wählt Hitler. Wer Hitler wählt, wählt den Krieg.“ Ihrer daraus folgenden Empfehlung für den kommunistischen Kandidaten Ernst Thälmann hatten sich damals einige linke Individuen wie der Publizist Kurt Hiller und kleinere Gruppen angeschlossen, z. B. der Internationale Sozialistische Kampfbund um Willi Eichler, einen späteren Mitverfasser des Godesberger Programms der SPD. Aber der Krieg, den sie mit Hindenburg und Hitler kommen sahen, war in ihrer Vorstellung gewiss eine Art Wiederholung des Ersten Weltkriegs, die besondere Dimension des Zweiten ahnte damals wohl niemand. Die Schrecken des Ersten waren groß genug, um in Frankreich und Großbritannien die Angst, die von Hitler hätte ausgehen können, zu verdrängen: „Nie wieder Krieg!“ hieß dort: Zurückweichen vor Hitler – nach der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht 1935, der Besetzung des Rheinlandes 1936, der Annexion des Sudetenlandes 1938, der diplomatischen Kapitulation Frankreichs und Großbritanniens vor Hitler und Mussolini im Münchener Abkommen vom selben Jahr und der Besetzung der Tschechoslowakei. Nur kein Krieg! Das Appeasement des Westens diente zur zusätzlichen Legitimation der Herrschaft Hitlers. Der Abschluss des Nichtangriffsvertrages zwischen Hitler-Deutschland und der Sowjetunion am 23. August 1939 versetzte die deutschen Kommunistinnen und Kommunisten in den Lagern, den Zuchthäusern und im Exil in die Notwendigkeit, sich darüber klar werden zu müssen, wie dies nun alles zueinander passen mochte.

Volk und Klassen

Georg Fülberth (Foto: Jochen Vogler, r-mediabase.eu)Hinzu kam die Einschüchterung, die von der Begeisterung großer Volksmassen ausging. Gewiss, selbst bei den nicht mehr freien Wahlen des März 1933 hatte die NSDAP nur 43,9 Prozent der Stimmen erhalten. Aber seit 1930 hatte sie gewaltig zugenommen. Und die Zustimmung, die Hitler nach 1933 erhielt, war nicht nur erzwungen und nicht nur opportunistisch, sondern beruhte auf einer Begeisterung, die erklärt werden muss und bis 1941, bis zum Überfall auf die Sowjetunion, vielleicht bis Stalingrad 1943, noch wuchs. Allmählich wuchsen ganz junge Menschen, die in den zwanziger Jahren geboren worden waren, bis 1945 in den Faschismus hinein und waren von Anfang an infiziert. Aber die Alten waren nicht besser, sogar schlimmer. Hierfür gibt es seit 2011 ein weiteres schreckliches schriftliches Zeugnis. In dem kleinen hessischen Städtchen Laubach lebte der sozialdemokratische Justizinspektor Friedrich Kellner, der es sich vom 26. September 1938 bis zum 31. Mai 1945 zur Aufgabe gemacht hatte, die Äußerungen nicht nur der staatlichen Propaganda, sondern auch seiner Mitbürgerinnen und Mitbürger zu protokollieren. Es ergibt sich ein niederschmetterndes Bild, das Kellner so charakterisierte: „Vernebelt, verdunkelt sind alle Hirne.“2 Ausdrücklich berichtet er, dass die Akademiker die Allerschlimmsten waren.

Gewiss, es gab Widerstand: Den größten Blutzoll in der Opposition entrichteten die Kommunisten, es gab die Bekennende Kirche, die Weiße Rose, Widerstand von Sozialdemokraten und Gewerkschaftern sowie schließlich den 20. Juli 1944. Aber mit der Breite der Massenbewegungen der italienischen Resistenza oder französischen Résistance kann dies nicht verglichen werden. Der besondere Heroismus des deutschen Widerstands war ja dadurch bedingt, dass er im Volk isoliert war. Peter Gingold, ein deutscher jüdischer und kommunistischer Widerstandskämpfer in der französischen Résistance und der italienischen Resistenza, hat einmal berichtet, dass er und seine Genossinnen und Genossen, die Ähnliches geleistet hatten, dies später in der Bundesrepublik oft verschwiegen haben, um ihre politischen Wirkungsmöglichkeiten nicht noch weiter einzugrenzen.

So viel zum deutschen Volk. Wer ihm gegenüber gerecht sein will, muss anerkennen, dass es „Volk“ an sich ja gar nicht gibt. Volk zerfällt in Klassen. Und da kann berichtet werden, dass die deutsche Arbeiterklasse in ihrer Mehrheit bis 1933 nicht anfällig für den so genannten Nationalsozialismus gewesen ist. KPD und SPD konnten ihre Wählerinnen und Wähler im Wesentlichen halten. Stimmenwanderungen von der SPD weg gingen ab 1930 in der Regel zur KPD, nicht nach rechts. Für Randbereiche des deutschen Proletariats hat die Forschung inzwischen auch Absplitterungen hin zur NSDAP festgestellt, aber das waren tatsächlich Nebenerscheinungen.

Es gab – neben den Jüdinnen und Juden – noch eine weitere große Menschengruppe, die bis 1933 resistent gegen Abwanderung hin zur NSDAP gewesen ist: das waren die katholischen Arbeiter, Bauern und Kleinbauern, die die Deutsche Zentrumspartei wählten. Man kann in ländlichen Regionen das Stimmverhalten von überwiegend oder vollständig entweder katholischen oder evangelischen Dörfern vergleichen und wird feststellen: protestantische Bauern stimmten früh für die NSDAP, die katholischen blieben beim Zentrum, auch wenn ihre Lebensumstände gleich waren und sie in Teilen ihrer Ideologie – abgesehen allerdings vom Unterschied der Konfession – übereinstimmten, nämlich im Konservativismus und wohl auch im Antisemitismus.

Arbeiterbewegung und Zentrum zusammen unterlagen aber der NSDAP, in die sich ab 1930 die bürgerliche, kleinbürgerliche und evangelische konservative und liberale Mitte nahezu vollständig aufgelöst hatte. SPD, KPD und Zentrum erreichten bei der letzten freien Wahl im November 1932 immerhin noch 49,2 Prozent der Stimmen, und es blieb dennoch unwirksam. Warum?

Hier die Antwort: Dieses zahlenmäßig durchaus noch bedeutende Potential wurde teils schlecht geführt – das gilt für SPD und KPD –, teils gezielt irregeführt.
Die SPD-Reichstagsfraktion hat von 1930 bis 1932 – in der erklärten Absicht, noch Schlimmeres, nämlich eine frühe Abhängigkeit der Regierungspolitik von der äußersten Rechten, zu verhindern – die Politik der Notverordnungen toleriert, mit welcher der Kanzler Brüning die Arbeitslosigkeit in die Höhe trieb, die Armen immer mehr belastete, die Wirtschaft in der Krise zusätzlich strangulierte und die öffentlichen Haushalte ruinierte. Die Führung der KPD bezeichnete die Spitze der Sozialdemokratie deshalb als sozialfaschistisch und zeitweilig sogar als den gefährlicheren Teil des Faschismus. Beide Verhaltensweisen machten eine Einheit der Arbeiterbewegung gegen Hitler unmöglich.

Die katholischen Arbeiter, Bauern und Kleinbürger aber wurden – anders als die Anhängerinnen und Anhänger von SPD und KPD – nicht nur schlecht geführt, sondern gezielt in die Irre geführt. Die Zentrumspartei hatte eben nicht nur einen Gewerkschafts-, sondern auch einen ausschlaggebenden Unternehmerflügel, und dessen Mitglieder gehörten auch zu den Industriellen und Bankiers, die ab 1929 offen auf die Zerstörung der Weimarer Republik setzten.

Für den hohen Klerus in Deutschland und im Vatikan war – wie sein Verhalten und die Äußerungen hoher deutscher Würdenträger sofort nach dem 30. Januar 1933 zeigten – Hitler nicht etwa das kleinere Übel im Vergleich zum Bolschewismus, sondern ein Werkzeug Gottes zu dessen Vernichtung. Die Macht über die Seelen katholischer kleiner Leute unterwarf diese dem Faschismus. Zwei der Kanzler in der Schlussphase der Weimarer Republik, die diese sabotierten, gehörten der Zentrumspartei an: nicht nur Brüning, sondern auch der Herrenreiter Franz von Papen, der einem „Kabinett der Barone“ vorstand.

Strategischer Einsatz von Terror

Zur Vorbereitung des Faschismus an der Macht gehörte in den letzten Jahren der Weimarer Republik auch der strategische Einsatz von Straßenterror zwecks Eroberung proletarischer Milieus und Einschüchterung von Gegnern. 1932 solidarisierte sich Hitler demonstrativ mit fünf SA-Männern, die im oberschlesischen Potempa in die Wohnung des Arbeiters und Gewerkschafters Konrad Pietrzuch eingedrungen waren und ihn totgeprügelt hatten.

Es wird ja oft behauptet, Gewalt von rechts und links habe in gleichem Maße die Weimarer Republik ruiniert. Diese Gleichsetzung verdeckt die ganz andere Qualität des hitlerfaschistischen Terrors schon vor 1933.

Alle großen politischen Parteien der Weimarer Zeit hatten Wehrverbände, in denen sie teilweise ehemalige Soldaten sammelten und die sie auch zum Schutz ihrer Versammlungen und zur Demonstration ihrer Stärke einsetzten. Die Deutschnationale Volkspartei hatte den „Stahlhelm“, SPD, Zentrum und Deutsche Demokratische Partei das „Reichsbanner Schwarzrotgold“, die KPD den „Rotfrontkämpferbund“, die Gewerkschaften die „Eiserne Front“ und die „Hammerschaften“. SA und SS aber waren offensive Bürgerkriegsarmeen. Die SA erhielt in Berlin von Goebbels den Auftrag, in die Arbeiterquartiere einzudringen.3 Vereinzelt wurde diese Strategie auch in ländlichen Arbeiterwohngemeinden praktiziert: provozieren, dann „aufräumen“.4 Es ging um gewaltsame Errichtung von Hegemonie durch die Verbreitung von Schrecken.

Gewiss, es gab auch Gewalt, die von kommunistischen Milieus ausging, da und dort sogar Tötungsdelikte. Hier soll nichts beschönigt werden. Aber hinter ihnen stand keine Strategie, es war oft reflexhaftes Verhalten gegen Eindringen von Nazis in den Kiez,5 immerhin auch – wie beim Polizistenmord am Bülowplatz in Berlin im August 1931 – gezielter Mord. Das waren – wie im letzteren Beispiel und im Fall Horst Wessel – hirnlose Desperado-Aktionen, an denen es nichts zu verteidigen gibt. Aber es war – anders als bei der NSDAP – keine langfristig angelegte Strategie als Teil einer Politik der Machteroberung. Die Exzesse der Gewalt in den so genannten „wilden KZs“ 1933 waren Fortsetzungen jenes Einsatzes von Bürgerkriegsgewalt, der schon vorher begonnen hatte.

Nationalismus und Antisemitismus

Auch wer sich bemüht, die materiellen Ursachen von politischen Entwicklungen herauszuarbeiten, kommt nicht umhin, auch den Einfluss ideologischer Faktoren ins Auge zu fassen. Der Aufstieg des deutschen Faschismus vollzog sich in einer Atmosphäre des für weite Teile der Gesellschaft ganz selbstverständlichen Nationalismus und Antisemitismus.

Der Nationalismus entstand seit Ende des 18., vor allem aber im 19. Jahrhundert als Ideologie des aufstrebenden Bürgertums, das sich gegen die Monarchen als „die Nation“ konstituierte. Im Imperialismus ab Ende des 20. Jahrhunderts wandte er sich nach außen: als Anspruch der Herrschaft über andere Völker. In Ländern, die erst spät einen eigenen Nationalstaat – der z. B. für Briten und Franzosen schon lange eine Selbstverständlichkeit war – hatten, war der Nationalismus besonders aggressiv. Dazu gehörte Deutschland. Nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg verband er sich mit dem Wunsch nach Revanche und gewann seine zusätzliche Sprengkraft durch den Antisemitismus.

Dieser, der Antisemitismus, hat in der Geschichte ja mehrmals seine Gestalt gewandelt. Im Mittelalter wurde er religiös begründet, im 19. Jahrhundert begann seine rassistische Komponente. Friedrich Engels beschrieb den Antisemitismus als die Reaktion hilfloser Bevölkerungen zurückgebliebener Länder auf den beginnenden Kapitalismus. Demgemäß hätte er in hoch entwickelten Gesellschaften absterben müssen. Das war ein Irrtum. Zu den Angeboten an die dem Kapitalismus Unterworfenen, die keine Perspektive der effektiven Gegenwehr haben, gehört die Projektion auf Sündenböcke, noch Schwächere und Minderheiten, die – in Verkehrung der Realität – als bedrohlich dargestellt werden. In den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts versuchte der Hofprediger Stoecker in Berlin Arbeiter mit Antisemitismus für die Reaktion zu gewinnen, allerdings erfolglos. Anklang fand diese Ideologie aber schon früh bei den Bauern, kleinen Geschäftsleuten und Handwerkern. Der Chauvinismus der Kriegs- und Nachkriegszeit akzeptierte nicht die Niederlage von 1918, suchte sich vor der Erkenntnis von Ursache und Wirkungen der Verelendung der frühen zwanziger Jahre und der Schlussphase der Weimarer Republik zu drücken und erklärte stattdessen die Juden zum allgemeinen Feind. Die NSDAP präsentierte sich als die kompromissloseste Vertreterin dieser Verteufelung und verbreiterte damit ihre Massenbasis.

Die spezifische Dynamik des deutschen Kapitalismus

„Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen“6 Dieses berühmte Zitat Max Horkheimers benennt die notwendige, wenngleich nicht ausreichende Voraussetzung des Faschismus: den Kapitalismus. Aber: nicht jeder Kapitalismus führt zum Faschismus oder gar zu dessen rabiatester Ausformung wie in Deutschland. Deshalb die Frage: Warum geschah das ausgerechnet hier?

In diesem Zusammenhang muss von der spezifischen Dynamik des deutschen Kapitalismus die Rede sein.

In Großbritannien zuerst und dann in Frankreich und den USA entwickelte sich dieser in seiner industriellen Form innerhalb schon bestehender Nationalstaaten, in Deutschland aber in Territorialstaaten, die für die Dynamik des Kapitalismus zu klein waren. So riss dieser von Anfang an Grenzen nieder, bald militärisch unter der Führung desjenigen Staates, der aufgrund seines Umfangs und seiner Ressourcen ihm durchaus genügend Raum geboten hätte, aber sofort sich auf den Weg der Eroberung machte, zunächst in Deutschland: Preußen. Als 1871 der kleindeutsche Einheitsstaat (ohne Österreich) hergestellt war, gingen die älteren Nationalstaaten, der Akkumulation ihres Kapitals folgend, schon über ihre Grenzen hinaus: im Imperialismus. Deutschland war der Newcomer auf diesem Feld und der Konflikt der imperialistischen Mächte wurde zum Weltkrieg. Wie hier die Maßlosigkeit des Kapitals mit der Maßlosigkeit der Politik zusammenging, beschreibt Eric Hobsbawm:

»Weshalb also wurde der Erste Weltkrieg von den führenden Mächten beider Seiten als Nullsummenspiel geführt, als ein Krieg also, dessen Ausgang nur ein totaler Sieg oder eine totale Niederlage sein konnte? 

Der Grund dafür war, dass sich dieser Krieg, im Gegensatz zu den (normalerweise begrenzten und spezifizierten) früheren Kriegen, auf unbegrenzte Ziele richtete. Im imperialen Zeitalter waren Politik und Wirtschaft miteinander verschmolzen. Internationale politische Rivalität ahmte Wirtschaftswachstum und Wettbewerb nach, deren charakteristisches Merkmal es ja schon prinzipiell war, grenzenlos zu sein. Die ‚natürlichen Grenzen‘ von Standard Oil, der Deutschen Bank oder der De Beers Diamond Corporation lagen dort, wo das Universum endet, zumindest aber erst da, wo ihre Expansionsfähigkeit endete.“7

Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs war international die Expansionsfähigkeit des Kapitalismus noch lange nicht erreicht, das deutsche Kapital aber wurde mit dem imperialistischen Diktatfrieden von Versailles weit hinter seine bisherigen Wirkungsmöglichkeiten zurückgeworfen. Wie schon im 19. Jahrhundert vor der Reichsgründung wurde es sozusagen zum „Kapital ohne Raum“ – wenn 1926 ein Roman von Hans Grimm mit dem Namen „Volk ohne Raum“ erschien und zum Bestseller wurde, dann war das die ideologische Widerspiegelung dieses Sachverhalts.

Das deutsche Kapital in seinen verschiedenen Fraktionen hat nie seine Expansionsabsichten aufgegeben. Die Weimarer Republik wurde von ihm nach der Maßgabe behandelt, ob sie diesem Ziel im Weg stand oder bei seiner Erreichung behilflich sein konnte. Es kam zu Differenzierungen: Führende Vertreter der Chemie- und Elektroindustrie – zum Beispiel Robert Bosch – hatten im Kaiserreich die als linksliberal geltende „Deutsche Fortschrittspartei“ (gegründet 1910) unterstützt. Jetzt hieß sie „Deutsche Demokratische Partei“, zu ihren Führern gehörte Theodor Heuss. Im Laufe der Zeit bestimmte sie ihre Haltung zur Republik immer ausschließlicher unter dem Gesichtspunkt, inwieweit diese einer Neuaufnahme der 1918 gescheiterten Absichten nützlich war.8 Konsequenterweise benannte sie sich 1930 in „Deutsche Staatspartei“ um. Die Interessen der Montanindustrie wurden von der Deutschen Volkspartei, der Partei Gustav Stresemanns, vertreten. Das war die Nationalliberale Partei des Kaiserreichs gewesen. Im Ersten Weltkrieg war Stresemann ein Annexionspolitiker. Jetzt wurde er zu dem, was man damals einen „Vernunftrepublikaner“ nannte: ein ehemaliger Monarchist, der wusste, dass es vorerst anders versucht werden musste und dass die alten außenpolitischen Ziele mit veränderten Mitteln zu verfolgen waren, zum Beispiel durch Verständigung mit dem Westen – Frankreich –, um irgendwann freie Hand im Osten zu haben. Und rechts außen stand die unverändert monarchistische Deutschnationale Volkspartei, die Partei der Großgrundbesitzer und der hohen Beamten. Der Antikommunismus war eine Gemeinsamkeit aller bürgerlichen Parteien mit der NSDAP. Wer ihn am rigorosesten verfocht – und das waren die Nazis –, hatte den anderen Parteien gegenüber einen Vorteil.

1929 war die Schonzeit der Demokratie vorbei. Der Reichsverband der Deutschen Industrie (RDI) – die Vorgängerorganisation des heutigen Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI) – veröffentlichte in diesem Jahr eine Denkschrift: „Aufstieg oder Niedergang?“. Das war das Lambsdorff-Papier der Weimarer Republik, allerdings viel weiter gehend. Seine Ziele waren: umfassender Sozialabbau, und die SPD, die seit 1928 den Kanzler stellte, musste raus aus der Regierung. So geschah es 1930. Heinrich Brüning sollte das Programm des RDI umsetzen. Auf demokratische Weise ging das nicht mehr. Jetzt wurde mit Notverordnungen, die nicht vom Reichstag beschlossen worden waren, regiert. So gesehen, ist die Weimarer Demokratie 1930 schon zu Ende, und konsequenterweise schließt ihr Historiker Arthur Rosenberg mit diesem Jahr auch sein Buch „Geschichte der Weimarer Republik“.

Heinrich Brüning hat den Abbau von Sozialleistungen und die Ruinierung der öffentlichen Haushalte – besonders der Gemeinden – tatkräftig betrieben und in der Weltwirtschaftskrise, die 1929 ausgebrochen war, die Talfahrt der Ökonomie beschleunigt. Für seine Politik hatte er nie eine Mehrheit (es sei denn die Tolerierung durch die ungeliebte SPD), deshalb war er auf Dauer für die Zwecke des Großkapitals – neben den Ruhrbaronen, der Chemie- und Elektroindustrie auch die Banken – ungeeignet. Pläne zur Beseitigung der Weimarer Republik wurden für diese jetzt dringlicher. Nach 1930 sind Spenden von Industriellen an die NSDAP häufiger geworden. Dabei fällt auf, dass diese nicht nur aus Deutschland kamen, sondern auch von ausländischen Kapitalisten, z. B. vom Interessenverband der französischen Schwerindustrie Comité des Forges und den britischen Vickers-Werken und dem Schweden Ivar Kreuger. Ihnen ging es natürlich nicht um die internationalen Expansionsinteressen des mit ihnen konkurrierenden deutschen Kapitals, sondern um den Kampf gegen die Arbeiterbewegung, insbesondere den so genannten Bolschewismus. Führende deutsche Industrielle und der Medienmogul Alfred Hugenberg setzten zunächst eher auf die beiden nächsten Nachfolger Brünings: Franz von Papen und Kurt von Schleicher sollten den Übergang von der Republik zu einer Diktatur vorbereiten. Die nationalsozialistische Bewegung konnte eine Massenbasis bieten. In einer Rede vor dem Düsseldorfer Industrieclub am 26. Januar 1932 warb Hitler um größere Unterstützung. Auf seine Anregung hin gründete der eher mittelständische Unternehmer Wilhelm Keppler, seit 1927 Mitglied der NSDAP, im April 1932 einen „Studienkreis für Wirtschaftsfragen“, den so genannten Keppler-Kreis, aus dem nach dem 30. Januar 1933 der „Freundeskreis Reichsführer SS“ hervorging. Ziel war die Erweiterung von Kontakten zur Industrie. Durch seinen großen Sieg in der Reichstagswahl vom 31. Juli 1932 wurde Hitler als Partner attraktiver. Aber in der nächsten Wahl, am 6. November 1932, erlitt die NSDAP einen Rückschlag. Es war denkbar, dass die so genannte nationalsozialistische Bewegung ihren Höhepunkt überschritten hatte. Darauf kam es zur so genannten „Industrielleneingabe“ vom 19. November 1932, die die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler forderte. Einer der Unterzeichner war der frühere Präsident der Reichsbank, Hjalmar Schacht, der dieses Amt später auch unter Hitler – von 1933 bis 1939 – versah und 1934 bis 1937 Reichswirtschaftsminister war. Am 4. Januar trafen sich Keppler, Schacht und der mittlerweile als Kanzler durch Schleicher ersetzte Franz von Papen in der Wohnung des Kölner Bankiers Kurt von Schröder und einigten sich darauf, Schleicher zu stürzen und durch eine Koalition Hitler-Hugenberg abzulösen. Das war die Vorbereitung der Entscheidung Hindenburgs am 30. Januar 1933, Hitler zum Reichskanzler zu ernennen. Was folgte, war dann nur noch eine Art Verwaltungsakt: Hitler wurde nicht gewählt, sondern ernannt. Das sollte uns dazu veranlassen, den Staatsapparat der Weimarer Republik etwas genauer ansehen.

1918 – 1933: Nach zwei gescheiterten Revolutionen

Zu den Besonderheiten der deutschen Geschichte gehört das Scheitern von zwei Revolutionen: 1848 und 1918. Das ist der Unterschied zu Großbritannien, den USA und Frankreich: dort hatten Revolutionen stattgefunden, aus denen bürgerliche Demokratien hervorgingen. In Deutschland schlug dies 1848 fehl: das Bürgertum vertraute sich ab 1866 Bismarck an. Die Staatsgewalt ging in Deutschland nicht vom Volk aus, sondern von den Fürsten, die sich auf den adeligen Großgrundbesitz und das sich zunehmend monopolisierende Großkapital stützten. Das Scheitern der Novemberrevolution 1918/1919 – und damit das Versagen der Sozialdemokratie – bestand nicht darin, dass aus ihr noch nicht der Sozialismus hervorging, sondern dass drei Aufgaben, deren Bewältigung möglich gewesen wäre, nicht gelöst wurden:

Erstens: die Entflechtung der Monopole. Es bestand auf Reichsebene eine Kommission, die mehr beabsichtigte: die Sozialisierungskommission. Sie brachte keine Ergebnisse.

Zweitens: eine Bodenreform. Der Großgrundbesitz im Osten blieb unangetastet.

Drittens: eine Demokratisierung der Verwaltung und der Justiz. Der von Monarchisten geprägte Staatsapparat blieb erhalten, auch in der Justiz. Ein Teil der Machtfülle des Kaisers fiel an den Reichspräsidenten. Der Artikel 48 der Reichsverfassung von 1919 verschaffte ihm eine Art Diktaturgewalt im von ihm selbst zu definierenden Ausnahmezustand. Wie im Kaiserreich wurde der Kanzler nicht vom Reichstag gewählt, wenngleich er, war er einmal im Amt, anders als 1871 – 1918, des Vertrauens des Parlaments bedurfte. Über die Ernennung aber entschied der Reichspräsident allein. Das war ab 1925 der Monarchist und Junker Paul von Hindenburg. Die Ernennung Hitlers durch ihn am 30. Januar 1933, vorbereitet von Vertretern der Industrie und der Großgrundbesitzer, genügte, um eine seit dem 6. November 1932 angeschlagene faschistische Bewegung an die Schalthebel der Macht zu bringen. Deshalb war der 30. Januar 1933 nicht eine Machtergreifung durch die NSDAP oder gar eine „nationale Revolution“, sondern eine Machtübertragung.

Und heute?

Zum Schluss wollen wir die damalige Situation mit der heutigen vergleichen.

Gewiss, Bonn war nicht Weimar, auch die heutige so genannte Berliner Republik ist es nicht. Es besteht keine aktuelle Gefahr einer Machtübertragung an eine faschistische Bewegung, die es in der Stärke der NSDAP gegenwärtig nicht gibt. Kontinuität besteht auf einem anderen Feld. Hierzu ein Zitat:

„Es ist zu erreichen die Gründung eines mitteleuropäischen Wirtschaftsverbandes durch gemeinsame Zollabmachungen, unter Einschluß von Frankreich, Belgien, Holland, Dänemark, Österreich-Ungarn und eventuell Italien, Schweden und Norwegen. Dieser Verband, wohl ohne gemeinsame konstitutionelle Spitze, unter äußerlicher Gleichberechtigung seiner Mitglieder, aber tatsächlich unter deutscher Führung, muss die wirtschaftliche Vorherrschaft Deutschlands in Mitteleuropa stabilisieren.“9

So steht es in der Kriegszieldenkschrift des Reichskanzlers Theobald von Bethmann Hollweg vom September 1914. Was da gefordert wurde: ein von Deutschland geführtes Europa, ist heute erreicht, allerdings nicht als Alleinherrschaft, sondern in einer Art Ko-Dominium mit einem wirtschaftlich schwächeren Partner, Frankreich. Auch Hitler hat das gewollt und er wollte noch mehr: Vernichtung des Bolschewismus im Osten und – in der Hauptstoßrichtung der deutschen Außenpolitik – dorthin. Teilweise ist auch das erreicht. Die Sowjetunion besteht nicht mehr. Dies aber wurde nicht durch die Bundesrepublik herbeigeführt, sondern in Juniorpartnerschaft mit den USA. An die Stelle der fehlgeschlagenen territorialen Eroberungen im Osten tritt die erfolgreiche Wahrnehmung wirtschaftlicher Interessen.

Das deutsche Kapital benötigt heute keinen Faschismus, um international seine Interessen durchzusetzen. Als es 1933 Hitler rief, verfolgte es allerdings noch einen zweiten Zweck: Zerschlagung der Arbeiterbewegung, nicht nur der kommunistischen, sondern auch der sozialdemokratischen und der Gewerkschaften. Der gegenwärtige Außenminister hat in seiner Oppositionszeit tatsächlich gefordert, die Gewerkschaften zu „entmachten“. Er schrieb ihnen damit eine Stärke zu, die sie in Wirklichkeit gar nicht haben – ebenso wenig wie 1929, als der Reichsverband der Deutschen Industrie dasselbe wollte. Um sie klein zu halten, stehen heute andere Mittel zur Verfügung als 1933: Schwächung durch Arbeitslosigkeit, Einbindung in Varianten der Sozialpartnerschaft, bei der immer weniger für große Teile der abhängig Arbeitenden herausspringt als noch bis Mitte der siebziger Jahre. Es gibt Sozialabbau nach dem Rezept Brünings, aber da dies noch auf einem höheren materiellen Niveau geschieht als vor 1933, ist die Situation nur bedingt vergleichbar. In zwei Ländern aber, wo unter deutscher Vorherrschaft das materielle Niveau niedriger ist als in der Bundesrepublik, in Griechenland und Ungarn, gibt es faschistische Massenparteien.

In Deutschland selbst sitzt die NPD immerhin in zwei Landtagen. Ein Teil des Staatsapparats, der angebliche Verfassungsschutz, hat sie über seine V-Leute weniger bekämpft als gefördert und sogar finanziert. Ihre Mitglieder und besonders diejenigen der „Freien Kameradschaften“ sind jung. Sie bemühen sich um die Gründung von „national befreiten Zonen“. Und es gab oder gibt den so genannten „Nationalsozialistischen Untergrund“ (NSU). Er ist vergleichbar den völkischen Terrorgruppen, die Anfang der zwanziger Jahre Mordanschläge verübten. Damals war es die Justiz, die auf dem rechten Auge blind war, heute ist es der Inlandsgeheimdienst, der den NSU geflissentlich übersah. Eine Unterstützung der Faschisten durch die Industrie wie in Deutschland seit 1930, vor allem aber seit 1932, gibt es heute nicht, denn das wären zurzeit Investitionen, die nicht rentieren. Aber am Beispiel der Weimarer Republik haben wir ja gesehen, dass sich das ganz schnell ändern kann, wenn nötig. Die NSDAP war dort zeitweise, ab 1923, verboten und bis 1929 eine Splitterpartei. Gewiss gab es da den einen oder anderen Geldgeber, etwa den Klavierfabrikanten Bechstein, aber die strategische Unterstützung kam erst dann, als mit anderen Varianten zur Zerstörung der Demokratie vorgearbeitet worden war. Heute wird die Demokratie nicht zerschlagen, sondern unterlaufen: durch die Herrschaft der so genannten „Märkte“. Der britische Soziologe Colin Crouch spricht von „Postdemokratie“, also von nachdemokratischen Zuständen. Da braucht man gegenwärtig keinen Faschismus. Aber er ist eine Politik, die immer noch anwendbar ist, wenn andere Formen bürgerlicher Herrschaft nicht mehr funktionieren, wie 1967 bis 1974 in Griechenland und 1973 bis 1990 in Chile. Es ist noch alles da, was bei Bedarf benötigt wird: Teile des Staatsapparats, die sogar in Schönwetterperioden es mit Faschisten gehalten haben, eine Nazipartei, zwar schwach, aber aktiv, und eine Unternehmerklasse mit ihren verschiedenen Handlungsmöglichkeiten. Diese einzelnen Elemente sind zurzeit weitgehend voneinander getrennt, denn es lohnt gegenwärtig nicht, sie miteinander kurzzuschließen. Aber es bleibt ihre gemeinsame Grundlage, der Kapitalismus. Und wozu das Kapital imstande war, ist und bleiben wird, so lange es besteht, hat Karl Marx vor 146 Jahren, einen britischen Gewerkschafter (Thomas Joseph Dunning) zitierend, in Worten dargelegt, die am Schluss hier wiederholt seien:

„Das Kapital hat einen Horror vor Abwesenheit von Profit oder sehr kleinem Profit, wie die Natur vor der Leere. Mit entsprechendem Profit wird Kapital kühn. Zehn Prozent sicher, und man kann es überall anwenden; 20 Prozent, es wird lebhaft; 50 Prozent, positiv waghalsig; für 100 Prozent stampft es alle menschlichen Gesetze unter seinen Fuß; 300 Prozent und es existiert kein Verbrechen, das es nicht riskiert, selbst auf Gefahr des Galgens.“10

1) Keynes, John Maynard: Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes. Ins Deutsche übersetzt von Fritz Waeger. 5. Aufl. Berlin 1974. S. IX
2) Kellner, Friedrich: „Vernebelt, verdunkelt sind alle Hirne“. Tagebücher 1929-1945. Herausgegeben von Sascha Feuchert, Robert Martin Kellner, Erwin Leibfried, Jörg Riecke und Markus Roth. Unter Mitarbeit von Elisabeth Thurvold und Diana Nusko sowie Nassrin Sadeghi und Birgit M. Körner. 2. Bde. Göttingen 2011
3) Reschke, Oliver: Der Kampf der Nationalsozialisten um den roten Friedrichshain 1925-1933. Berlin 2004; Ders: Der Kampf um die Macht in einem Berliner Arbeiterbezirk. Nationalsozialisten am Prenzlauer Berg 1925-1933. Berlin 2008
4) Fülberth, Georg, und Karl-Heinz Horstfeld: Ockershausen und die große Welt. „Die Schlacht am Bachweg“ 1931. In: Ockershausen in Wort und Bild. Marburger Schriften zur Stadtgeschichte 26. Marburg 1988. S. 450-453
5) Fülberth, Johannes: „… wird mit Brachialgewalt durchgefochten“. Bewaffnete Konflikte mit Todesfolge vor Gericht. Berlin 1929 bis 1932/1933. 2. Aufl. Köln 2012. S. 138/139
6) Max Horkheimer: Die Juden und Europa. In: Gesammelte Werke. Band 4. Frankfurt am Main 1988, S. 308/309
7) Hobsbawm, Eric: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts. 3. Aufl. München 1999. S. 47
8) Siehe Reinhard Opitz: Der deutsche Sozialliberalismus 1917-1933. Köln 1973
9) Die Septemberdenkschrift Bethmann Hollwegs. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung das parlament. B 19/63. S 41-44. Hier: S. 43. Hierzu und zum folgenden vgl. auch: Fülberth, Eröffnungsbilanz des gesamtdeutschen Kapitalismus, a.a.O., S. 135 f. Eine Materialsammlung zur historischen Kontinuität bis 1945 ist: Opitz, Reinhard (Hrsg.): Europastrategien des deutschen Kapitals 1900-1945. 2. Aufl. Bonn 1994
10) Marx, Karl: Das Kapital. Erster Band. In: Marx/Engels, Werke (MEW) Band 23. Berlin 1975. S. 788