13.03.2013 Das Lehrstück vom 30. Januar 1933 - Von Georg Fülberth Was hätte man 1933 wissen können und was kann man heute wissen Was
hätte man wissen können? Das fragt Georg Fülberth in den
"Marxistischen Blättern" mit Blick auf das Jahr 1933. Am 30.
Januar 1933 wurde Adolf Hitler vom Reichspräsidenten Paul von
Hindenburg zum Kanzler des Deutschen Reiches ernannt. Was darauf
folgte, wissen wir heute: Die Bilanz ist seit Jahrzehnten bekannt.
Was hätte man am 30. Januar 1933 davon
voraussehen können - und was heute? Das deutsche Kapital
benötigt heute keinen Faschismus, um international seine
Interessen durchzusetzen. Als es 1933 Hitler rief, verfolgte es
allerdings noch einen zweiten Zweck: Zerschlagung der
Arbeiterbewegung, nicht nur der kommunistischen, sondern auch
der sozialdemokratischen und der Gewerkschaften. Der
gegenwärtige Außenminister hat in seiner
Oppositionszeit tatsächlich gefordert, die Gewerkschaften
zu „entmachten“. Diese und andere Gemeinsamkeiten von
Konservativen und Nazis heute gilt ers zu untersuchen. Der
Wortlaut des Aufsatzes in den "Marxistischen Blättern"
Nr.2/13 wird mit freundlicher Genehmigung der Redaktion hier
abgedruckt: Das Lehrstück vom 30. Januar 1933 Von Georg Fülberth Was hätte man wissen können? Am
30. Januar 1933 wurde Adolf Hitler vom Reichspräsidenten Paul von
Hindenburg zum Kanzler des Deutschen Reiches ernannt. Was darauf
folgte, wissen wir heute: Sofort kam es zu Gewalttaten gegen
Jüdinnen und Juden, Kommunistinnen und Kommunisten,
Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten. Nach dem Reichstagsbrand in
der Nacht vom 27. auf den 28. Februar verschärfte sich der Terror,
die Kommunistische Partei Deutschlands wurde verboten. Am 1. April nahm
SA vor Geschäften in jüdischem Besitz Aufstellung, um deren
Boykott zu erzwingen. Am 2. Mai 1933 wurden die Gewerkschaften
verboten, am 22. Juni die SPD. Am 30. Juni 1934 sind die bisherige
Führung der SA und konservative Politiker, von denen einige zu den
Steigbügelhaltern Hitlers gezählt hatten, durch Mord
liquidiert worden. Jüdische Staatsbürgerinnen und
-bürger wurden durch die Nürnberger Rassegesetze von 1935
entrechtet. Einer der beiden offiziellen Kommentatoren war der
spätere Staatssekretär Adenauers, Dr. Hans Globke. Dann
folgten die außenpolitischen Aggressionen: 1938 der Anschluss
Österreichs, im selben Jahr die Annexion des Sudetenlandes, ein
Jahr später der Rest-Tschechoslowakei, der Überfall auf
Polen, der Beginn des zweiten Weltkriegs gegen Frankreich und
Großbritannien, im Zusammenhang damit die Niederwerfung
Frankreichs und nach und nach die Besetzung Belgiens, Luxemburgs, der
Niederlande, Dänemarks und Norwegens, Jugoslawiens, am 22. Juni
1941 der Überfall auf die Sowjetunion und der Beginn des
Vernichtungskriegs im Osten. Sechs Millionen Jüdinnen und Juden,
Sinti und Roma wurden ermordet, der zweite Weltkrieg forderte 50
Millionen Tote. Das ist die Bilanz, seit Jahrzehnten bekannt. Was hätte man am 30. Januar 1933 davon voraussehen können? Gewiss,
es gab Hitlers Buch „Mein Kampf“, 1925. Dort war schon das
Programm des Antisemitismus und der Expansion nach Osten nachzulesen.
Hitler hatte nie ein Hehl daraus gemacht, dass er ein Feind der
Demokratie war. Aber irgendwelche Ideologen mit wilden Plänen
waren schon seit Jahrzehnten aufgetreten, Hitler hat nur aufgesogen und
wiederholt, was er bei ihnen fand. Die Lehre von der Überlegenheit
der weißen Rasse, vom Übermenschen und von den
Minderwertigen, auch der Antisemitismus war Gemeingut der Mehrheit der
so genannten Gebildeten. Kaum jemand aber hatte vorher die einzelnen
Ideologen als aktive oder gar erfolgreiche Politiker ernst genommen.
Bis 1930 – dem Jahr des ersten großen Erfolges der NSDAP
bei einer Reichstagswahl – galt vielen auch deren Führer als
eine eher bizarre Figur. Und auch danach noch, als seine Partei die
stärkste geworden war, konnte, wer wollte, sich Illusionen machen:
Nichts werde so heiß gegessen wie gekocht, man könne
annehmen, dass der Chef einer extremen Partei, ist er erst einmal im
Staatsamt, dort auf Sachzwänge treffen werde, die stärker
sind als er. Hitlers Ernennung zum Reichskanzler hat deshalb auch
im Ausland nicht nur alarmiert. Es gab Beobachter, selbst auf der
Linken, die ihn in eine Reihe anderer auffälliger Politiker in
einer aufgewühlten Zeit einordneten, als einen von mehreren. In
der kommunistischen Bewegung verglich man ihn sogar mit dem neuen
US-amerikanischen Präsidenten Franklin Delano Roosevelt, der im
selben Januar 1933 ins Amt kam: beide galten als Vertreter einer
Politik des Großkapitals. An Faschismus in Europa, auch
Faschismus an der Macht, war man mittlerweile gleichsam gewöhnt:
seit 1922 wurde Italien von Mussolini regiert, in Portugal kam 1926
Salazar an die Macht, in Polen im selben Jahr der ehemalige Sozialist
Piłsudski. Und nun also auch Hitler, ein Faschist neben anderen. Im
Vorwort zur deutschen Ausgabe des Hauptwerks „Allgemeine Theorie
der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes“ von John
Maynard Keynes (1936) schrieb dieser, es könne „die Theorie
der Produktion als Ganzes, die den Zweck des folgenden Buches bildet,
viel leichter den Verhältnissen eines totalen Staates angepasst
werden als die Theorie der Erzeugung und Verteilung einer gegebenen,
unter Bedingungen des freien Wettbewerbes und eines großen
Maßes von laisser-faire erstellten Produktion.“1 Zugegeben:
dies war vor dem Krieg und dem Judenmord. Es war im Jahr der
Olympischen Spiele in Berlin. Einen Intellektuellen gab es
allerdings, der sofort erkannte, dass Hitler abgrundtief katastrophaler
war als die anderen faschistischen Diktatoren, der zwischen ihm und
diesen also nachgerade einen qualitativen Unterschied sah. Das war Karl
Kraus in Wien. Nach Hitlers Machtantritt ließ er viele Monate
seine Zeitschrift, „Die Fackel“, nicht mehr erscheinen.
1934 errichtete in Österreich Engelbert Dollfuß die Diktatur
des Austrofaschismus und Karl Kraus erklärte diesen zum kleineren
Übel gegenüber der Hitlerherrschaft, die er als das
größte Unglück von Anfang an durchschaut hatte –
und diese Einsicht reichte bei ihm dann doch nur zu jener hilflosen
Reaktion, die Bertolt Brecht veranlasste, Karl Kraus die Freundschaft
aufzukündigen. Wer heute zu Recht die Forderung des
„Nie wieder Faschismus! Nie wieder Krieg!“ erhebt, tut gut
daran, sich die Verstörung und Irritation zu
vergegenwärtigen, die damals sogar einige helle Köpfe
befallen hatten. Nicht alle waren sofort so klar wie Albert Einstein.
Sicher: Es gab die „Weltbühne“ von Carl von Ossietzky
und Kurt Tucholsky. Ihre Auflage war klein, nicht zu vergleichen mit
der Massenpresse des Deutschnationalen Alfred Hugenberg. Tucholsky
verstummte 1930 und ging ins Exil nach Schweden. Hellsicht bewies die
KPD. Zur Reichspräsidentenwahl 1932 hatte sie die Parole
ausgegeben: „Wer Hindenburg wählt, wählt Hitler. Wer
Hitler wählt, wählt den Krieg.“ Ihrer daraus folgenden
Empfehlung für den kommunistischen Kandidaten Ernst Thälmann
hatten sich damals einige linke Individuen wie der Publizist Kurt
Hiller und kleinere Gruppen angeschlossen, z. B. der Internationale
Sozialistische Kampfbund um Willi Eichler, einen späteren
Mitverfasser des Godesberger Programms der SPD. Aber der Krieg, den sie
mit Hindenburg und Hitler kommen sahen, war in ihrer Vorstellung gewiss
eine Art Wiederholung des Ersten Weltkriegs, die besondere Dimension
des Zweiten ahnte damals wohl niemand. Die Schrecken des Ersten waren
groß genug, um in Frankreich und Großbritannien die Angst,
die von Hitler hätte ausgehen können, zu verdrängen:
„Nie wieder Krieg!“ hieß dort: Zurückweichen vor
Hitler – nach der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht
1935, der Besetzung des Rheinlandes 1936, der Annexion des
Sudetenlandes 1938, der diplomatischen Kapitulation Frankreichs und
Großbritanniens vor Hitler und Mussolini im Münchener
Abkommen vom selben Jahr und der Besetzung der Tschechoslowakei. Nur
kein Krieg! Das Appeasement des Westens diente zur zusätzlichen
Legitimation der Herrschaft Hitlers. Der Abschluss des
Nichtangriffsvertrages zwischen Hitler-Deutschland und der Sowjetunion
am 23. August 1939 versetzte die deutschen Kommunistinnen und
Kommunisten in den Lagern, den Zuchthäusern und im Exil in die
Notwendigkeit, sich darüber klar werden zu müssen, wie dies
nun alles zueinander passen mochte. Volk und Klassen Hinzu
kam die Einschüchterung, die von der Begeisterung großer
Volksmassen ausging. Gewiss, selbst bei den nicht mehr freien Wahlen
des März 1933 hatte die NSDAP nur 43,9 Prozent der Stimmen
erhalten. Aber seit 1930 hatte sie gewaltig zugenommen. Und die
Zustimmung, die Hitler nach 1933 erhielt, war nicht nur erzwungen und
nicht nur opportunistisch, sondern beruhte auf einer Begeisterung, die
erklärt werden muss und bis 1941, bis zum Überfall auf die
Sowjetunion, vielleicht bis Stalingrad 1943, noch wuchs.
Allmählich wuchsen ganz junge Menschen, die in den zwanziger
Jahren geboren worden waren, bis 1945 in den Faschismus hinein und
waren von Anfang an infiziert. Aber die Alten waren nicht besser, sogar
schlimmer. Hierfür gibt es seit 2011 ein weiteres schreckliches
schriftliches Zeugnis. In dem kleinen hessischen Städtchen Laubach
lebte der sozialdemokratische Justizinspektor Friedrich Kellner, der es
sich vom 26. September 1938 bis zum 31. Mai 1945 zur Aufgabe gemacht
hatte, die Äußerungen nicht nur der staatlichen Propaganda,
sondern auch seiner Mitbürgerinnen und Mitbürger zu
protokollieren. Es ergibt sich ein niederschmetterndes Bild, das
Kellner so charakterisierte: „Vernebelt, verdunkelt sind alle
Hirne.“2 Ausdrücklich berichtet er, dass die Akademiker die
Allerschlimmsten waren. Gewiss, es gab Widerstand: Den
größten Blutzoll in der Opposition entrichteten die
Kommunisten, es gab die Bekennende Kirche, die Weiße Rose,
Widerstand von Sozialdemokraten und Gewerkschaftern sowie
schließlich den 20. Juli 1944. Aber mit der Breite der
Massenbewegungen der italienischen Resistenza oder französischen
Résistance kann dies nicht verglichen werden. Der besondere
Heroismus des deutschen Widerstands war ja dadurch bedingt, dass er im
Volk isoliert war. Peter Gingold, ein deutscher jüdischer und
kommunistischer Widerstandskämpfer in der französischen
Résistance und der italienischen Resistenza, hat einmal
berichtet, dass er und seine Genossinnen und Genossen, die
Ähnliches geleistet hatten, dies später in der Bundesrepublik
oft verschwiegen haben, um ihre politischen Wirkungsmöglichkeiten
nicht noch weiter einzugrenzen. So viel zum deutschen Volk. Wer
ihm gegenüber gerecht sein will, muss anerkennen, dass es
„Volk“ an sich ja gar nicht gibt. Volk zerfällt in
Klassen. Und da kann berichtet werden, dass die deutsche Arbeiterklasse
in ihrer Mehrheit bis 1933 nicht anfällig für den so
genannten Nationalsozialismus gewesen ist. KPD und SPD konnten ihre
Wählerinnen und Wähler im Wesentlichen halten.
Stimmenwanderungen von der SPD weg gingen ab 1930 in der Regel zur KPD,
nicht nach rechts. Für Randbereiche des deutschen Proletariats hat
die Forschung inzwischen auch Absplitterungen hin zur NSDAP
festgestellt, aber das waren tatsächlich Nebenerscheinungen. Es
gab – neben den Jüdinnen und Juden – noch eine weitere
große Menschengruppe, die bis 1933 resistent gegen Abwanderung
hin zur NSDAP gewesen ist: das waren die katholischen Arbeiter, Bauern
und Kleinbauern, die die Deutsche Zentrumspartei wählten. Man kann
in ländlichen Regionen das Stimmverhalten von überwiegend
oder vollständig entweder katholischen oder evangelischen
Dörfern vergleichen und wird feststellen: protestantische Bauern
stimmten früh für die NSDAP, die katholischen blieben beim
Zentrum, auch wenn ihre Lebensumstände gleich waren und sie in
Teilen ihrer Ideologie – abgesehen allerdings vom Unterschied der
Konfession – übereinstimmten, nämlich im
Konservativismus und wohl auch im Antisemitismus. Arbeiterbewegung
und Zentrum zusammen unterlagen aber der NSDAP, in die sich ab 1930 die
bürgerliche, kleinbürgerliche und evangelische konservative
und liberale Mitte nahezu vollständig aufgelöst hatte. SPD,
KPD und Zentrum erreichten bei der letzten freien Wahl im November 1932
immerhin noch 49,2 Prozent der Stimmen, und es blieb dennoch unwirksam.
Warum? Hier die Antwort: Dieses zahlenmäßig durchaus
noch bedeutende Potential wurde teils schlecht geführt – das
gilt für SPD und KPD –, teils gezielt irregeführt. Die
SPD-Reichstagsfraktion hat von 1930 bis 1932 – in der
erklärten Absicht, noch Schlimmeres, nämlich eine frühe
Abhängigkeit der Regierungspolitik von der äußersten
Rechten, zu verhindern – die Politik der Notverordnungen
toleriert, mit welcher der Kanzler Brüning die Arbeitslosigkeit in
die Höhe trieb, die Armen immer mehr belastete, die Wirtschaft in
der Krise zusätzlich strangulierte und die öffentlichen
Haushalte ruinierte. Die Führung der KPD bezeichnete die Spitze
der Sozialdemokratie deshalb als sozialfaschistisch und zeitweilig
sogar als den gefährlicheren Teil des Faschismus. Beide
Verhaltensweisen machten eine Einheit der Arbeiterbewegung gegen Hitler
unmöglich. Die katholischen Arbeiter, Bauern und
Kleinbürger aber wurden – anders als die Anhängerinnen
und Anhänger von SPD und KPD – nicht nur schlecht
geführt, sondern gezielt in die Irre geführt. Die
Zentrumspartei hatte eben nicht nur einen Gewerkschafts-, sondern auch
einen ausschlaggebenden Unternehmerflügel, und dessen Mitglieder
gehörten auch zu den Industriellen und Bankiers, die ab 1929 offen
auf die Zerstörung der Weimarer Republik setzten. Für
den hohen Klerus in Deutschland und im Vatikan war – wie sein
Verhalten und die Äußerungen hoher deutscher
Würdenträger sofort nach dem 30. Januar 1933 zeigten –
Hitler nicht etwa das kleinere Übel im Vergleich zum
Bolschewismus, sondern ein Werkzeug Gottes zu dessen Vernichtung. Die
Macht über die Seelen katholischer kleiner Leute unterwarf diese
dem Faschismus. Zwei der Kanzler in der Schlussphase der Weimarer
Republik, die diese sabotierten, gehörten der Zentrumspartei an:
nicht nur Brüning, sondern auch der Herrenreiter Franz von Papen,
der einem „Kabinett der Barone“ vorstand. Strategischer Einsatz von Terror Zur
Vorbereitung des Faschismus an der Macht gehörte in den letzten
Jahren der Weimarer Republik auch der strategische Einsatz von
Straßenterror zwecks Eroberung proletarischer Milieus und
Einschüchterung von Gegnern. 1932 solidarisierte sich Hitler
demonstrativ mit fünf SA-Männern, die im oberschlesischen
Potempa in die Wohnung des Arbeiters und Gewerkschafters Konrad
Pietrzuch eingedrungen waren und ihn totgeprügelt hatten. Es
wird ja oft behauptet, Gewalt von rechts und links habe in gleichem
Maße die Weimarer Republik ruiniert. Diese Gleichsetzung verdeckt
die ganz andere Qualität des hitlerfaschistischen Terrors schon
vor 1933. Alle großen politischen Parteien der Weimarer
Zeit hatten Wehrverbände, in denen sie teilweise ehemalige
Soldaten sammelten und die sie auch zum Schutz ihrer Versammlungen und
zur Demonstration ihrer Stärke einsetzten. Die Deutschnationale
Volkspartei hatte den „Stahlhelm“, SPD, Zentrum und
Deutsche Demokratische Partei das „Reichsbanner
Schwarzrotgold“, die KPD den
„Rotfrontkämpferbund“, die Gewerkschaften die
„Eiserne Front“ und die „Hammerschaften“. SA
und SS aber waren offensive Bürgerkriegsarmeen. Die SA erhielt in
Berlin von Goebbels den Auftrag, in die Arbeiterquartiere
einzudringen.3 Vereinzelt wurde diese Strategie auch in ländlichen
Arbeiterwohngemeinden praktiziert: provozieren, dann
„aufräumen“.4 Es ging um gewaltsame Errichtung von
Hegemonie durch die Verbreitung von Schrecken. Gewiss, es gab
auch Gewalt, die von kommunistischen Milieus ausging, da und dort sogar
Tötungsdelikte. Hier soll nichts beschönigt werden. Aber
hinter ihnen stand keine Strategie, es war oft reflexhaftes Verhalten
gegen Eindringen von Nazis in den Kiez,5 immerhin auch – wie beim
Polizistenmord am Bülowplatz in Berlin im August 1931 –
gezielter Mord. Das waren – wie im letzteren Beispiel und im Fall
Horst Wessel – hirnlose Desperado-Aktionen, an denen es nichts zu
verteidigen gibt. Aber es war – anders als bei der NSDAP –
keine langfristig angelegte Strategie als Teil einer Politik der
Machteroberung. Die Exzesse der Gewalt in den so genannten
„wilden KZs“ 1933 waren Fortsetzungen jenes Einsatzes von
Bürgerkriegsgewalt, der schon vorher begonnen hatte. Nationalismus und Antisemitismus Auch
wer sich bemüht, die materiellen Ursachen von politischen
Entwicklungen herauszuarbeiten, kommt nicht umhin, auch den Einfluss
ideologischer Faktoren ins Auge zu fassen. Der Aufstieg des deutschen
Faschismus vollzog sich in einer Atmosphäre des für weite
Teile der Gesellschaft ganz selbstverständlichen Nationalismus und
Antisemitismus. Der Nationalismus entstand seit Ende des 18., vor
allem aber im 19. Jahrhundert als Ideologie des aufstrebenden
Bürgertums, das sich gegen die Monarchen als „die
Nation“ konstituierte. Im Imperialismus ab Ende des 20.
Jahrhunderts wandte er sich nach außen: als Anspruch der
Herrschaft über andere Völker. In Ländern, die erst
spät einen eigenen Nationalstaat – der z. B. für Briten
und Franzosen schon lange eine Selbstverständlichkeit war –
hatten, war der Nationalismus besonders aggressiv. Dazu gehörte
Deutschland. Nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg verband er sich
mit dem Wunsch nach Revanche und gewann seine zusätzliche
Sprengkraft durch den Antisemitismus. Dieser, der Antisemitismus,
hat in der Geschichte ja mehrmals seine Gestalt gewandelt. Im
Mittelalter wurde er religiös begründet, im 19. Jahrhundert
begann seine rassistische Komponente. Friedrich Engels beschrieb den
Antisemitismus als die Reaktion hilfloser Bevölkerungen
zurückgebliebener Länder auf den beginnenden Kapitalismus.
Demgemäß hätte er in hoch entwickelten Gesellschaften
absterben müssen. Das war ein Irrtum. Zu den Angeboten an die dem
Kapitalismus Unterworfenen, die keine Perspektive der effektiven
Gegenwehr haben, gehört die Projektion auf Sündenböcke,
noch Schwächere und Minderheiten, die – in Verkehrung der
Realität – als bedrohlich dargestellt werden. In den
achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts versuchte der Hofprediger
Stoecker in Berlin Arbeiter mit Antisemitismus für die Reaktion zu
gewinnen, allerdings erfolglos. Anklang fand diese Ideologie aber schon
früh bei den Bauern, kleinen Geschäftsleuten und Handwerkern.
Der Chauvinismus der Kriegs- und Nachkriegszeit akzeptierte nicht die
Niederlage von 1918, suchte sich vor der Erkenntnis von Ursache und
Wirkungen der Verelendung der frühen zwanziger Jahre und der
Schlussphase der Weimarer Republik zu drücken und erklärte
stattdessen die Juden zum allgemeinen Feind. Die NSDAP
präsentierte sich als die kompromissloseste Vertreterin dieser
Verteufelung und verbreiterte damit ihre Massenbasis. Die spezifische Dynamik des deutschen Kapitalismus „Wer
aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus
schweigen“6 Dieses berühmte Zitat Max Horkheimers benennt
die notwendige, wenngleich nicht ausreichende Voraussetzung des
Faschismus: den Kapitalismus. Aber: nicht jeder Kapitalismus führt
zum Faschismus oder gar zu dessen rabiatester Ausformung wie in
Deutschland. Deshalb die Frage: Warum geschah das ausgerechnet hier? In diesem Zusammenhang muss von der spezifischen Dynamik des deutschen Kapitalismus die Rede sein. In
Großbritannien zuerst und dann in Frankreich und den USA
entwickelte sich dieser in seiner industriellen Form innerhalb schon
bestehender Nationalstaaten, in Deutschland aber in Territorialstaaten,
die für die Dynamik des Kapitalismus zu klein waren. So riss
dieser von Anfang an Grenzen nieder, bald militärisch unter der
Führung desjenigen Staates, der aufgrund seines Umfangs und seiner
Ressourcen ihm durchaus genügend Raum geboten hätte, aber
sofort sich auf den Weg der Eroberung machte, zunächst in
Deutschland: Preußen. Als 1871 der kleindeutsche Einheitsstaat
(ohne Österreich) hergestellt war, gingen die älteren
Nationalstaaten, der Akkumulation ihres Kapitals folgend, schon
über ihre Grenzen hinaus: im Imperialismus. Deutschland war der
Newcomer auf diesem Feld und der Konflikt der imperialistischen
Mächte wurde zum Weltkrieg. Wie hier die Maßlosigkeit des
Kapitals mit der Maßlosigkeit der Politik zusammenging,
beschreibt Eric Hobsbawm: »Weshalb also wurde der Erste
Weltkrieg von den führenden Mächten beider Seiten als
Nullsummenspiel geführt, als ein Krieg also, dessen Ausgang nur
ein totaler Sieg oder eine totale Niederlage sein konnte? Der
Grund dafür war, dass sich dieser Krieg, im Gegensatz zu den
(normalerweise begrenzten und spezifizierten) früheren Kriegen,
auf unbegrenzte Ziele richtete. Im imperialen Zeitalter waren Politik
und Wirtschaft miteinander verschmolzen. Internationale politische
Rivalität ahmte Wirtschaftswachstum und Wettbewerb nach, deren
charakteristisches Merkmal es ja schon prinzipiell war, grenzenlos zu
sein. Die ‚natürlichen Grenzen‘ von Standard Oil, der
Deutschen Bank oder der De Beers Diamond Corporation lagen dort, wo das
Universum endet, zumindest aber erst da, wo ihre
Expansionsfähigkeit endete.“7 Mit dem Ende des Ersten
Weltkriegs war international die Expansionsfähigkeit des
Kapitalismus noch lange nicht erreicht, das deutsche Kapital aber wurde
mit dem imperialistischen Diktatfrieden von Versailles weit hinter
seine bisherigen Wirkungsmöglichkeiten zurückgeworfen. Wie
schon im 19. Jahrhundert vor der Reichsgründung wurde es sozusagen
zum „Kapital ohne Raum“ – wenn 1926 ein Roman von
Hans Grimm mit dem Namen „Volk ohne Raum“ erschien und zum
Bestseller wurde, dann war das die ideologische Widerspiegelung dieses
Sachverhalts. Das deutsche Kapital in seinen verschiedenen
Fraktionen hat nie seine Expansionsabsichten aufgegeben. Die Weimarer
Republik wurde von ihm nach der Maßgabe behandelt, ob sie diesem
Ziel im Weg stand oder bei seiner Erreichung behilflich sein konnte. Es
kam zu Differenzierungen: Führende Vertreter der Chemie- und
Elektroindustrie – zum Beispiel Robert Bosch – hatten im
Kaiserreich die als linksliberal geltende „Deutsche
Fortschrittspartei“ (gegründet 1910) unterstützt. Jetzt
hieß sie „Deutsche Demokratische Partei“, zu ihren
Führern gehörte Theodor Heuss. Im Laufe der Zeit bestimmte
sie ihre Haltung zur Republik immer ausschließlicher unter dem
Gesichtspunkt, inwieweit diese einer Neuaufnahme der 1918 gescheiterten
Absichten nützlich war.8 Konsequenterweise benannte sie sich 1930
in „Deutsche Staatspartei“ um. Die Interessen der
Montanindustrie wurden von der Deutschen Volkspartei, der Partei Gustav
Stresemanns, vertreten. Das war die Nationalliberale Partei des
Kaiserreichs gewesen. Im Ersten Weltkrieg war Stresemann ein
Annexionspolitiker. Jetzt wurde er zu dem, was man damals einen
„Vernunftrepublikaner“ nannte: ein ehemaliger Monarchist,
der wusste, dass es vorerst anders versucht werden musste und dass die
alten außenpolitischen Ziele mit veränderten Mitteln zu
verfolgen waren, zum Beispiel durch Verständigung mit dem Westen
– Frankreich –, um irgendwann freie Hand im Osten zu haben.
Und rechts außen stand die unverändert monarchistische
Deutschnationale Volkspartei, die Partei der Großgrundbesitzer
und der hohen Beamten. Der Antikommunismus war eine Gemeinsamkeit aller
bürgerlichen Parteien mit der NSDAP. Wer ihn am rigorosesten
verfocht – und das waren die Nazis –, hatte den anderen
Parteien gegenüber einen Vorteil. 1929 war die Schonzeit der
Demokratie vorbei. Der Reichsverband der Deutschen Industrie (RDI)
– die Vorgängerorganisation des heutigen Bundesverbandes der
Deutschen Industrie (BDI) – veröffentlichte in diesem Jahr
eine Denkschrift: „Aufstieg oder Niedergang?“. Das war das
Lambsdorff-Papier der Weimarer Republik, allerdings viel weiter gehend.
Seine Ziele waren: umfassender Sozialabbau, und die SPD, die seit 1928
den Kanzler stellte, musste raus aus der Regierung. So geschah es 1930.
Heinrich Brüning sollte das Programm des RDI umsetzen. Auf
demokratische Weise ging das nicht mehr. Jetzt wurde mit
Notverordnungen, die nicht vom Reichstag beschlossen worden waren,
regiert. So gesehen, ist die Weimarer Demokratie 1930 schon zu Ende,
und konsequenterweise schließt ihr Historiker Arthur Rosenberg
mit diesem Jahr auch sein Buch „Geschichte der Weimarer
Republik“. Heinrich Brüning hat den Abbau von
Sozialleistungen und die Ruinierung der öffentlichen Haushalte
– besonders der Gemeinden – tatkräftig betrieben und
in der Weltwirtschaftskrise, die 1929 ausgebrochen war, die Talfahrt
der Ökonomie beschleunigt. Für seine Politik hatte er nie
eine Mehrheit (es sei denn die Tolerierung durch die ungeliebte SPD),
deshalb war er auf Dauer für die Zwecke des Großkapitals
– neben den Ruhrbaronen, der Chemie- und Elektroindustrie auch
die Banken – ungeeignet. Pläne zur Beseitigung der Weimarer
Republik wurden für diese jetzt dringlicher. Nach 1930 sind
Spenden von Industriellen an die NSDAP häufiger geworden. Dabei
fällt auf, dass diese nicht nur aus Deutschland kamen, sondern
auch von ausländischen Kapitalisten, z. B. vom Interessenverband
der französischen Schwerindustrie Comité des Forges und den
britischen Vickers-Werken und dem Schweden Ivar Kreuger. Ihnen ging es
natürlich nicht um die internationalen Expansionsinteressen des
mit ihnen konkurrierenden deutschen Kapitals, sondern um den Kampf
gegen die Arbeiterbewegung, insbesondere den so genannten
Bolschewismus. Führende deutsche Industrielle und der Medienmogul
Alfred Hugenberg setzten zunächst eher auf die beiden
nächsten Nachfolger Brünings: Franz von Papen und Kurt von
Schleicher sollten den Übergang von der Republik zu einer Diktatur
vorbereiten. Die nationalsozialistische Bewegung konnte eine
Massenbasis bieten. In einer Rede vor dem Düsseldorfer
Industrieclub am 26. Januar 1932 warb Hitler um größere
Unterstützung. Auf seine Anregung hin gründete der eher
mittelständische Unternehmer Wilhelm Keppler, seit 1927 Mitglied
der NSDAP, im April 1932 einen „Studienkreis für
Wirtschaftsfragen“, den so genannten Keppler-Kreis, aus dem nach
dem 30. Januar 1933 der „Freundeskreis Reichsführer
SS“ hervorging. Ziel war die Erweiterung von Kontakten zur
Industrie. Durch seinen großen Sieg in der Reichstagswahl vom 31.
Juli 1932 wurde Hitler als Partner attraktiver. Aber in der
nächsten Wahl, am 6. November 1932, erlitt die NSDAP einen
Rückschlag. Es war denkbar, dass die so genannte
nationalsozialistische Bewegung ihren Höhepunkt überschritten
hatte. Darauf kam es zur so genannten
„Industrielleneingabe“ vom 19. November 1932, die die
Ernennung Hitlers zum Reichskanzler forderte. Einer der Unterzeichner
war der frühere Präsident der Reichsbank, Hjalmar Schacht,
der dieses Amt später auch unter Hitler – von 1933 bis 1939
– versah und 1934 bis 1937 Reichswirtschaftsminister war. Am 4.
Januar trafen sich Keppler, Schacht und der mittlerweile als Kanzler
durch Schleicher ersetzte Franz von Papen in der Wohnung des
Kölner Bankiers Kurt von Schröder und einigten sich darauf,
Schleicher zu stürzen und durch eine Koalition Hitler-Hugenberg
abzulösen. Das war die Vorbereitung der Entscheidung Hindenburgs
am 30. Januar 1933, Hitler zum Reichskanzler zu ernennen. Was folgte,
war dann nur noch eine Art Verwaltungsakt: Hitler wurde nicht
gewählt, sondern ernannt. Das sollte uns dazu veranlassen, den
Staatsapparat der Weimarer Republik etwas genauer ansehen. 1918 – 1933: Nach zwei gescheiterten Revolutionen Zu
den Besonderheiten der deutschen Geschichte gehört das Scheitern
von zwei Revolutionen: 1848 und 1918. Das ist der Unterschied zu
Großbritannien, den USA und Frankreich: dort hatten Revolutionen
stattgefunden, aus denen bürgerliche Demokratien hervorgingen. In
Deutschland schlug dies 1848 fehl: das Bürgertum vertraute sich ab
1866 Bismarck an. Die Staatsgewalt ging in Deutschland nicht vom Volk
aus, sondern von den Fürsten, die sich auf den adeligen
Großgrundbesitz und das sich zunehmend monopolisierende
Großkapital stützten. Das Scheitern der Novemberrevolution
1918/1919 – und damit das Versagen der Sozialdemokratie –
bestand nicht darin, dass aus ihr noch nicht der Sozialismus
hervorging, sondern dass drei Aufgaben, deren Bewältigung
möglich gewesen wäre, nicht gelöst wurden: Erstens:
die Entflechtung der Monopole. Es bestand auf Reichsebene eine
Kommission, die mehr beabsichtigte: die Sozialisierungskommission. Sie
brachte keine Ergebnisse. Zweitens: eine Bodenreform. Der Großgrundbesitz im Osten blieb unangetastet. Drittens:
eine Demokratisierung der Verwaltung und der Justiz. Der von
Monarchisten geprägte Staatsapparat blieb erhalten, auch in der
Justiz. Ein Teil der Machtfülle des Kaisers fiel an den
Reichspräsidenten. Der Artikel 48 der Reichsverfassung von 1919
verschaffte ihm eine Art Diktaturgewalt im von ihm selbst zu
definierenden Ausnahmezustand. Wie im Kaiserreich wurde der Kanzler
nicht vom Reichstag gewählt, wenngleich er, war er einmal im Amt,
anders als 1871 – 1918, des Vertrauens des Parlaments bedurfte.
Über die Ernennung aber entschied der Reichspräsident allein.
Das war ab 1925 der Monarchist und Junker Paul von Hindenburg. Die
Ernennung Hitlers durch ihn am 30. Januar 1933, vorbereitet von
Vertretern der Industrie und der Großgrundbesitzer, genügte,
um eine seit dem 6. November 1932 angeschlagene faschistische Bewegung
an die Schalthebel der Macht zu bringen. Deshalb war der 30. Januar
1933 nicht eine Machtergreifung durch die NSDAP oder gar eine
„nationale Revolution“, sondern eine Machtübertragung. Und heute? Zum Schluss wollen wir die damalige Situation mit der heutigen vergleichen. Gewiss,
Bonn war nicht Weimar, auch die heutige so genannte Berliner Republik
ist es nicht. Es besteht keine aktuelle Gefahr einer
Machtübertragung an eine faschistische Bewegung, die es in der
Stärke der NSDAP gegenwärtig nicht gibt. Kontinuität
besteht auf einem anderen Feld. Hierzu ein Zitat: „Es ist
zu erreichen die Gründung eines mitteleuropäischen
Wirtschaftsverbandes durch gemeinsame Zollabmachungen, unter
Einschluß von Frankreich, Belgien, Holland, Dänemark,
Österreich-Ungarn und eventuell Italien, Schweden und Norwegen.
Dieser Verband, wohl ohne gemeinsame konstitutionelle Spitze, unter
äußerlicher Gleichberechtigung seiner Mitglieder, aber
tatsächlich unter deutscher Führung, muss die wirtschaftliche
Vorherrschaft Deutschlands in Mitteleuropa stabilisieren.“9 So
steht es in der Kriegszieldenkschrift des Reichskanzlers Theobald von
Bethmann Hollweg vom September 1914. Was da gefordert wurde: ein von
Deutschland geführtes Europa, ist heute erreicht, allerdings nicht
als Alleinherrschaft, sondern in einer Art Ko-Dominium mit einem
wirtschaftlich schwächeren Partner, Frankreich. Auch Hitler hat
das gewollt und er wollte noch mehr: Vernichtung des Bolschewismus im
Osten und – in der Hauptstoßrichtung der deutschen
Außenpolitik – dorthin. Teilweise ist auch das erreicht.
Die Sowjetunion besteht nicht mehr. Dies aber wurde nicht durch
die Bundesrepublik herbeigeführt, sondern in
Juniorpartnerschaft mit den USA. An die Stelle der fehlgeschlagenen
territorialen Eroberungen im Osten tritt die erfolgreiche Wahrnehmung
wirtschaftlicher Interessen. Das deutsche Kapital benötigt
heute keinen Faschismus, um international seine Interessen
durchzusetzen. Als es 1933 Hitler rief, verfolgte es allerdings
noch einen zweiten Zweck: Zerschlagung der Arbeiterbewegung, nicht nur
der kommunistischen, sondern auch der sozialdemokratischen und der
Gewerkschaften. Der gegenwärtige Außenminister hat in seiner
Oppositionszeit tatsächlich gefordert, die Gewerkschaften zu
„entmachten“. Er schrieb ihnen damit eine Stärke zu,
die sie in Wirklichkeit gar nicht haben – ebenso wenig wie 1929,
als der Reichsverband der Deutschen Industrie dasselbe wollte. Um sie
klein zu halten, stehen heute andere Mittel zur Verfügung als
1933: Schwächung durch Arbeitslosigkeit, Einbindung in Varianten
der Sozialpartnerschaft, bei der immer weniger für große
Teile der abhängig Arbeitenden herausspringt als noch bis Mitte
der siebziger Jahre. Es gibt Sozialabbau nach dem Rezept Brünings,
aber da dies noch auf einem höheren materiellen Niveau geschieht
als vor 1933, ist die Situation nur bedingt vergleichbar. In zwei
Ländern aber, wo unter deutscher Vorherrschaft das materielle
Niveau niedriger ist als in der Bundesrepublik, in Griechenland und
Ungarn, gibt es faschistische Massenparteien. In Deutschland
selbst sitzt die NPD immerhin in zwei Landtagen. Ein Teil des
Staatsapparats, der angebliche Verfassungsschutz, hat sie über
seine V-Leute weniger bekämpft als gefördert und sogar
finanziert. Ihre Mitglieder und besonders diejenigen der „Freien
Kameradschaften“ sind jung. Sie bemühen sich um die
Gründung von „national befreiten Zonen“. Und es gab
oder gibt den so genannten „Nationalsozialistischen
Untergrund“ (NSU). Er ist vergleichbar den völkischen
Terrorgruppen, die Anfang der zwanziger Jahre Mordanschläge
verübten. Damals war es die Justiz, die auf dem rechten Auge blind
war, heute ist es der Inlandsgeheimdienst, der den NSU geflissentlich
übersah. Eine Unterstützung der Faschisten durch die
Industrie wie in Deutschland seit 1930, vor allem aber seit 1932, gibt
es heute nicht, denn das wären zurzeit Investitionen, die nicht
rentieren. Aber am Beispiel der Weimarer Republik haben wir ja gesehen,
dass sich das ganz schnell ändern kann, wenn nötig. Die NSDAP
war dort zeitweise, ab 1923, verboten und bis 1929 eine Splitterpartei.
Gewiss gab es da den einen oder anderen Geldgeber, etwa den
Klavierfabrikanten Bechstein, aber die strategische Unterstützung
kam erst dann, als mit anderen Varianten zur Zerstörung der
Demokratie vorgearbeitet worden war. Heute wird die Demokratie nicht
zerschlagen, sondern unterlaufen: durch die Herrschaft der so genannten
„Märkte“. Der britische Soziologe Colin Crouch spricht
von „Postdemokratie“, also von nachdemokratischen
Zuständen. Da braucht man gegenwärtig keinen Faschismus. Aber
er ist eine Politik, die immer noch anwendbar ist, wenn andere Formen
bürgerlicher Herrschaft nicht mehr funktionieren, wie 1967 bis
1974 in Griechenland und 1973 bis 1990 in Chile. Es ist noch alles da,
was bei Bedarf benötigt wird: Teile des Staatsapparats, die sogar
in Schönwetterperioden es mit Faschisten gehalten haben, eine
Nazipartei, zwar schwach, aber aktiv, und eine Unternehmerklasse mit
ihren verschiedenen Handlungsmöglichkeiten. Diese einzelnen
Elemente sind zurzeit weitgehend voneinander getrennt, denn es lohnt
gegenwärtig nicht, sie miteinander kurzzuschließen. Aber es
bleibt ihre gemeinsame Grundlage, der Kapitalismus. Und wozu das
Kapital imstande war, ist und bleiben wird, so lange es besteht, hat
Karl Marx vor 146 Jahren, einen britischen Gewerkschafter (Thomas
Joseph Dunning) zitierend, in Worten dargelegt, die am Schluss hier
wiederholt seien: „Das Kapital hat einen Horror vor
Abwesenheit von Profit oder sehr kleinem Profit, wie die Natur vor der
Leere. Mit entsprechendem Profit wird Kapital kühn. Zehn Prozent
sicher, und man kann es überall anwenden; 20 Prozent, es wird
lebhaft; 50 Prozent, positiv waghalsig; für 100 Prozent stampft es
alle menschlichen Gesetze unter seinen Fuß; 300 Prozent und es
existiert kein Verbrechen, das es nicht riskiert, selbst auf Gefahr des
Galgens.“10 1) Keynes, John Maynard: Allgemeine Theorie der
Beschäftigung, des Zinses und des Geldes. Ins Deutsche
übersetzt von Fritz Waeger. 5. Aufl. Berlin 1974. S. IX 2)
Kellner, Friedrich: „Vernebelt, verdunkelt sind alle
Hirne“. Tagebücher 1929-1945. Herausgegeben von Sascha
Feuchert, Robert Martin Kellner, Erwin Leibfried, Jörg Riecke und
Markus Roth. Unter Mitarbeit von Elisabeth Thurvold und Diana Nusko
sowie Nassrin Sadeghi und Birgit M. Körner. 2. Bde. Göttingen
2011 3) Reschke, Oliver: Der Kampf der Nationalsozialisten um den
roten Friedrichshain 1925-1933. Berlin 2004; Ders: Der Kampf um die
Macht in einem Berliner Arbeiterbezirk. Nationalsozialisten am
Prenzlauer Berg 1925-1933. Berlin 2008 4) Fülberth, Georg, und
Karl-Heinz Horstfeld: Ockershausen und die große Welt. „Die
Schlacht am Bachweg“ 1931. In: Ockershausen in Wort und Bild.
Marburger Schriften zur Stadtgeschichte 26. Marburg 1988. S. 450-453 5)
Fülberth, Johannes: „… wird mit Brachialgewalt
durchgefochten“. Bewaffnete Konflikte mit Todesfolge vor Gericht.
Berlin 1929 bis 1932/1933. 2. Aufl. Köln 2012. S. 138/139 6) Max Horkheimer: Die Juden und Europa. In: Gesammelte Werke. Band 4. Frankfurt am Main 1988, S. 308/309 7) Hobsbawm, Eric: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts. 3. Aufl. München 1999. S. 47 8) Siehe Reinhard Opitz: Der deutsche Sozialliberalismus 1917-1933. Köln 1973 9)
Die Septemberdenkschrift Bethmann Hollwegs. In: Aus Politik und
Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung das parlament. B 19/63. S
41-44. Hier: S. 43. Hierzu und zum folgenden vgl. auch: Fülberth,
Eröffnungsbilanz des gesamtdeutschen Kapitalismus, a.a.O., S. 135
f. Eine Materialsammlung zur historischen Kontinuität bis 1945
ist: Opitz, Reinhard (Hrsg.): Europastrategien des deutschen Kapitals
1900-1945. 2. Aufl. Bonn 1994 10) Marx, Karl: Das Kapital. Erster Band. In: Marx/Engels, Werke (MEW) Band 23. Berlin 1975. S. 788 |