30.01.2013 "Kinder des Widerstandes": Wir mischen uns ein! Hinterbliebene von NS-Opfern melden sich zu Wort Traute
Sander (70) aus Dortmund ist Mitglied des Geschäftsführenden
Landesausschusses der VVN-BdA NRW. In den Räumen der
Dauerausstellung der Duisburger VVN über den Widerstand in der
Stadt 1933-1945 hielt sie am 29. Januar 2012 ein Referat über die
Arbeit der Gruppe "Kinder des Widerstandes", die inzwischen 80
Mitstreiter/innen in der ganzen Bundesrepublik gefunden hat. Traute
Sander stellte die Gruppe vor: "Unsere Eltern gehörten zu den
wenigen, die sich gegen die Nazis wehrten. Sie gehörten in den
50er Jahren zu denen, die gegen die Wiederaufrüstung der
Bundesrepublik aufstanden und von denen viele wieder verfolgt wurden.
Wir sind seit den 50er Jahren in der Friedensbewegung aktiv, und die
gängigen Sprechblasen bei offiziösen Anlässen an die
Adresse der Widerstandskämpferinnen und Widerstandskämpfer,
ihr Kampf und ihr Opfer sei unvergessen, reichten uns nicht." Sie
sagte weiter: "Kinder des Widerstandes": Wir mischen uns ein! - Hinterbliebene von NS-Opfern fordern ihr Recht Wer sind wir? Unsere
Gruppe entstand auf Initiative von vier Frauen - vor ca. einem
Jahr - alle vier sind Töchter von
Widerstandskämpfern und –kämpferinnen. Und zwar
sind das Alice Czyborra (Gingold), Traute Sander (Burmester), Inge
Trambowsky (Kutz) und Klara Tuchscherer (Schabrod). Sie werden
unterstützt von der Vereinigung der Verfolgten des
Naziregimes-Bund der Antifaschist/innen. In der VVN waren nach dem
Krieg viele Widerstandskämpferinnen organisiert, sie sind z.B.
als Zeitzeugen in die Schulen gegangen, – aber jetzt sind
nur noch wenige dazu in der Lage und am Leben. Es kommen aber weiterhin
viele Anfragen und deshalb haben wir uns verantwortlich dafür
gefühlt, in ihrem Sinne weiterzumachen. Die
„Kinder des Widerstandes“ wollen dem antifaschistischen
Kampf ein persönliches Gesicht geben, zeigen was Widerstand,
Verfolgung, Inhaftierung, Folter und Terror für den einzelnen
Menschen und dessen Familien bedeutete. Und zwar vor 1945. Darüber
können wir alle aus unseren Familien berichten. Mein Vater ist
z.B. mit 17 Jahren verhaftet worden, weil er Flugblätter verteilt
hat, – damit hat sich sein ganzes Leben geändert, er wollte
eigentlich studieren und Lehrer werden. Das wurde nichts. Er war
erst im Gefängnis (über Weihnachten ans Bett angekettet) und
anschließend wurde er zur Wehrmacht geschickt – als
sogenannter 999er - das war ein Straf-Bataillon, die Soldaten
wurden grausam behandelt. Nach 1945 waren unsere Eltern und
Großeltern empört darüber, dass Altnazis auf allen
Ebenen z.B. Richter, Staatsanwälte, Minister – sogar als
Staatsoberhaupt – wieder in Amt und Würden kamen. Sie waren
empört darüber, dass es erneut zu einer Wiederbewaffnung kam.
Viele unserer Eltern und Großeltern wurden in der Zeit des Kalten
Krieges nochmals verfolgt. Mein Vater wollte für seine erlittenen
Qualen eine Wiedergutmachung bekommen. Dafür musste er zu dem
einzigen Arzt, der ein Gutachten in Hamburg erstellen konnte, das war
ein Naziarzt. Seine Wiedergutmachung wurde abgelehnt. Gestattet
mir, dies genauer zu schildern. Der Nazi-Mediziner Prof. Hans
Bürger-Prinz, der nach dem Krieg in Hamburg der allein
zuständige Gutachter in Wiedergutmachungsfällen war,
bescheinigte meinem Vater, daß ihm keine Entschädigung
zukomme, denn – so wörtlich - »der Kläger
nahm die Risiken einer Verfolgung im Sinne einer mehr oder weniger
bewußt gewählten Selbstbewährung im Einsatz für
die Idee auf sich, unterscheidet sich darin also gegenüber der
unausweichlich Situationen eines rassisch Verfolgten«. Der
Kommunist Artur Burmester war also selbst schuld, er hätte den
Widerstand unterlassen sollen, dann hätten ihm die Nazis nichts
angetan. In der dreieinhalbjährigen Haft wurde er
mißhandelt, getreten, gefoltert, um
»Geständnisse« von ihm zu erzwingen. Die Täter
wurden nicht bestraft, sie hatten nach 1945 ein Recht auf
Weiterbeschäftigung. Die Organisation des Artur Burmester war die
Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes. Sie war in Hamburg in den
sechziger Jahren verboten, so auch in einigen anderen
Bundesländern. So ging man mit den Widerstandskämpfern um. Warum jetzt? Weil viel Unkenntnis über den Widerstand im Faschismus besteht und die Geschichte oft verfälscht wird. Es
wird oft gesagt: Das ist soweit weg und spielt heute keine Rolle mehr.
Der Meinung sind wird nicht. Es hat Menschen gegeben, die aus
unterschiedlichen Beweggründen Widerstand geleistet haben und
darauf können wir stolz sein und müssen daraus lernen nicht
zu schweigen und uns einzumischen. Weil die Zeitzeugen nicht mehr unter uns sind und wir in ihrem Sinne weitermachen wollen. Die
VVN-BdA setzt sich dafür ein, dass eine Wiedergutmachung für
die so Benachteiligten erfolgen muss. Vor allem geht es um die
Rehabilitierung der Opfer des Kalten Krieges. Ende der sechziger Jahre
gab es zwar ein Strafrechtsänderungsgesetz, das zahlreichen
Verfolgungen ein Ende setzte, eine Rehabilitierung der Betroffenen
erfolgte jedoch nicht. Und schließlich: Weil die Nazis immer mehr und aggressiver werden: Ich
komme z.B. aus Dortmund. Wir setzen uns seit Jahren mit den
Neofaschisten auseinander. Auch nach dem Verbot der Kameradschaften hat
sich jetzt die sogenannte Rechte neu etabliert. Gedenkveranstaltungen
– wie vor ein paar Tagen für die ermordeten Sinti und Roma
– müssen unter Polizeischutz durchgeführt werden. Die
Politiker haben viele Versprechungen und Erklärungen nach den
NSU-Morden abgegeben, aber geschehen ist bisher nichts. Wir
müssen wachsam bleiben. Was wird aus dem Prozeß gegen
Beate Zschäpe? Was wird aus dem Verbot der NPD? Was wollen wir? Unsere Gruppe möchte der Ausgrenzung unserer Eltern und Großeltern aus der Gedenkarbeit entgegenwirken. Die
verschiedenen politischen Richtungen des Widerstandes müssen
weiterhin aufgezeigt werden. Der Arbeiterwiderstand hat besonders hier
im Ruhrgebiet eine große Rolle gespielt. Diese richtige
geschichtliche Sicht muss erhalten bleiben. Wir als Nachkommen wollen die Erfahrungen und Einschätzungen im Kampf gegen Faschismus und Neofaschismus weitergeben. Wir
möchten weiterhin in Schulen und bei öffentlichen
Veranstaltungen unsere Sicht des Widerstandes darstellen. Das haben wir
im vergangenen Jahr erfolgreich getan. Viele unserer Eltern sind
nach 1945 weiter diskriminiert worden. Wir setzen uns dafür ein,
dass sie ihre Würde und Anerkennung zurückerhalten. Wir
sind gerade aufgrund der Ungerechtigkeit gegen eine Ziehung eines
Schlussstriches unter die Geschichte. Dazu hat auch das
Bundesverfassungsgericht bemerkenswertes ausgesagt. Das
Bundesverfassungsgericht hat in seinem Beschluss vom 4. November 2009
erklärt: "Angesichts des einzigartigen Unrechts und des
Schreckens, die die nationalsozialistische Herrschaft über Europa
und weite Teile der Welt gebracht hat", sind das Grundgesetz und die
Entstehung der Bundesrepublik Deutschland "geradezu als Gegenentwurf"
zum nationalsozialistischen Regime zu verstehen.“ "Das bewusste
Absetzen von der Unrechtsherrschaft des Nationalsozialismus war
historisch zentrales Anliegen aller an der Entstehung wie
Inkraftsetzung des Grundgesetzes beteiligten Kräfte." (Aus den
Leitsätzen zum Beschluss des Ersten Senats vom 04.11.2009 - 1 BvR
2150/08). Die Gegnerschaft zur Naziherrschaft ist demnach Verfassungsgebot und Staatsdoktrin. Dem sehen wir uns verpflichtet. Seit
jüngster Zeit gibt es eine Reihe von Dokumentationen, die
belegen, was die VVN seit den 60er Jahren nachgewiesen hat: In
der Bundesrepublik konnten Eliten der Nazizeit wieder tätig
werden, Einfluss nehmen und dabei weiterhin gegen Antifaschisten
vorgehen. Ich ging bereits kurz darauf ein. Es war ganz konkret so: Gerichte
verfolgten Teilnehmer des Arbeiterwiderstandes, vornehmlich des
kommunistischen Widerstandes, um sie - auch unter Hinweis auf
Vorstrafen aus politischen Prozessen von 1933 bis 1945 - wegen ihrer
politischen Tätigkeit erneut einzusperren und ihnen die Rechte auf
Entschädigung abzusprechen. Das alles war nicht nur ungerecht, es
hat auch bei den Angehörigen Spuren hinterlassen. Auch die
Kinder und Enkel der Betroffenen hatten - infolge der Leiden ihrer
Verwandten - mitzuleiden: Denn die Familien der Opfer litten bisweilen
materielle Not, die Kinder und Enkel, also die aus der 2. und 3.
Generation, waren betroffen von psychischen Schäden und
Traumatisierungen, sie waren im Bildungswesen, in Schule und
Gesellschaft Diskriminierungen bis hin zu Berufsverboten ausgesetzt.
Sie galten als Kinder von "Vorbestraften". Die jetzt bekannt gewordenen
personellen Kontinuitäten aus der Zeit vor und nach 1945
müssen zu Konsequenzen führen. Doch die Gelegenheiten, die
sich dazu bieten, werden nicht genutzt. Der Umgang des Deutschen
Bundestages mit dem Antrag "Widerstand von Kommunistinnen und
Kommunisten gegen das NS-Regime" (Drucksache 17/2201), eingebracht von
der Fraktion DIE LINKE am 16. 6. 2010, ist ein Skandal, ja ein Schlag
ins Gesicht der NS-Opfer. Ohne mündliche Aussprache, nur mit
schriftlichen Wortbeiträgen, die seitens der CDU, CSU und FDP,
aber auch der SPD den Geist der Restauration und des Kalten Krieges
atmeten, wurde der Antrag am 11. November 2010 zu später Stunde
beerdigt. Die CDU/CSU-Reaktion ist unfassbar und, sprachlich und
argumentativ stark in der Nähe von rechtsextremen Organisationen. Auch
in der Erinnerungsarbeit der Gedenkstätten für Opfer des
NS-Unrechts werden die Vertreter der 2. und 3. Generation oftmals
abgewiesen. Man erklärt ihnen indirekt: Euer Anspruch auf
Mitsprache in der Gedenkarbeit ist verwirkt. Genugtuung darüber,
dass Zeitzeugen sich nicht mehr einmischen können, ist
unverkennbar. Doch, wir mischen uns ein. (Dies ist eine Aussage aus der
Erklärung der „Kinder des Widerstandes“, Langfassung
unter www.nrw.vvn-bda.de) Unverkennbar ist übrigens die
Ungleichbehandlung der Nachfolgegenerationen. Die Kinder der
Vertriebenen führen nunmehr deren Verbände und werden vom
Staat finanziell und auch sonst gefördert. Die Opfer der Nazis
werden nicht so günstig behandelt. Daher danken wir, die in
der VVN-BdA vereinigten Angehörigen der 2. und 3. Generation, dem
Bundesverband Information und Beratung für NS-Verfolgte
dafür, dass er sich ihrer Sorgen und Nöte angenommen hat. Sie
danken den Vertretern der LINKEN und der GRÜNEN, die sich in der
schriftlichen Debatte des Bundestages vom 11. 11. 10 vorbildlich
verhalten haben. Diese Bemühungen sollten fortgesetzt werden. In
einem Brief an die Mitstreiter von „Kinder des
Widerstandes“ in der ganzen Republik haben wir kürzlich
„Eine Bitte an Alle“ formuliert: „Schreibt
es auf! Es geht Wertvolles verloren, wenn wir dies nicht tun. Nur wir
können noch dem Widerstand ein persönliches Gesicht geben.
Wenn wir uns auch auf NRW beschränken, so sind wir trotzdem an
einer Zusammenarbeit und Austausch sehr interessiert. Aber gut
wäre es wenn in jedem Bundesland die Geschichte der
Widerstandskämpfer aus Sicht der Angehörigen weitergegeben
würde. … Genau deshalb haben wir uns für ein Sammeln
von persönlichen Berichten entschieden und evtl. werden wir auch
einige "Kinder" interviewen. Die anderen aufgezählten
Aktivitäten wollen wir dabei nicht vernachlässigen. In der
Zeit der Verharmlosung der Neonazis ist es notwendig sich zu wehren und
einiges klar zu stellen.“ „Einiges klar zu
stellen“ – darum ging es einigen von uns auch schon, als
wir die Aktion 65 plus in Dortmund mit gründeten. Zum
Naziaufmarsch Anfang September 2008 riefen wir erstmals als ältere
Generation zu Blockaden auf – und damit änderte sich das
ganze Herangehen an den Protest und Umgehen mit den Nazis in der Stadt.
Ich gestatte mir, den Aufruf von 65 plus zu zitieren: Wir haben es erlebt. Nie wieder. Bombennächte.
Ständige Angst. Hausdurchsuchungen. Die Eltern im KZ. Verwandte
sterben im Krieg. Nachbarn mit dem gelben Stern werden abgeholt. Nachts träumen wir davon. Die Nachfolger der Nazibande, die das verschuldete, erheben wieder ihr Haupt. Jahr
für Jahr kommen sie nach Dortmund. Sie rufen „Nie wieder
Krieg“ und fügen hinzu: „... nach unserem Sieg, dem
Sieg des ‚nationalen Sozialismus’“. Das Maß ist voll. Sie reden von Frieden, Antikapitalismus, ja Sozialismus. Das
taten Hitler und Goebbels auch. Es kam zum furchtbarsten aller Kriege.
Zur schlimmsten Form des Kapitalismus: Nicht nur Ausbeutung durch
Arbeit, sondern Vernichtung durch Arbeit. Es kam zur Versklavung und
zum Holocaust. Wir sehen nicht mehr
zu. Wir Älteren, die Aktion 65 plus, werden den Nazis am 6. 9.
entgegentreten. Wir werden sie blockieren. Das
ist nicht strafbar, wie unser Polizeipräsident verbreiten
lässt. Sträflich wäre es, die Nazis gewähren zu
lassen. Das wäre grundgesetzwidrig (Artikel 139). Auch
die jungen Menschen sind bei unserer Aktion erwünscht. Wir werden
gewaltlos handeln. Wer das auch tun will, ist willkommen. Schließen
möchte ich mit einer sehr wahren Aussage von Peter Gingold, dem
Widerstandskämpfer und Vater von unserer Mitstreiterin Alice
Czyborra, die als kleines jüdisches Kind in Frankreich im Versteck
überlebte. Er sagte: „1933
wäre verhindert worden, wenn alle Hitlergegner die Einheitsfront
geschaffen hätten. Dass sie nicht zustande kam, dafür gab es
(…) nur eine einzige Entschuldigung: Sie hatten keine Erfahrung,
was Faschismus bedeutet, wenn er einmal an der Macht ist. Aber heute
haben wir alle diese Erfahrung. Heute muss jeder wissen, was Faschismus
bedeutet. Für alle zukünftigen Generationen gibt es keine
Entschuldigung mehr, wenn sie den Faschismus nicht
verhindern.“ (Peter Gingold in seinen Lebenserinnerungen,
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