20.11.2012 "Der Verfassungsschutz hat über Jahre die kriminellen Machenschaften der Neofaschisten finanziert und gedeckt" Ansprache
des Landesgeschäftsführers der VVN-BdA NRW, Jürgen
Schuh, zur Gedenkveranstaltung des 71. Jahrestages der Judendeportation
im Rheinland 1941, Bergisch-Gladbach am 10. November 2012 Wir
gedenken hier derjenigen 2.011 Mitbürgerinnen und Mitbürger
jüdischen Glaubens aus dem Raum Köln, die 1941 in Viehwaggons
ins Ghetto und von da in die Gaskammern oder in die Arbeitslager zur
Profitmaximierung deutscher Konzerne verbracht wurden. Wir
gedenken aber auch der vielen namenlosen Opfer – darunter lange
Zeit der Sinti und Roma – die bis heute weder Anerkennung noch
Entschädigung erfahren haben. Wir gedenken hier
an dieser Stelle derjenigen, die bereits 1932 warnten: „Wer
Hindenburg wählt, wählt Hitler! Wer Hitler wählt,
wählt den Krieg!“ Der Arbeiterwiderstand zahlte den
höchsten Blutzoll im Widerstand. Im Standardwerk „Widerstand
als Hochverrat“ vom Verlag K.G. Saur heißt es:
“Politisch motivierter Widerstand war…zu 75 Prozent
kommunistischer, zu 10 Prozent sozialdemokratischer und nur zu 3
Prozent christlich-bürgerlicher Widerstand.“ Alle jene, ob Christen, Sozialdemokraten, Bibelforscher, Kommunisten: Alle, die sich der faschistischen Barbarei unter Einsatz ihres Lebens entgegenstellten, verdienen unsere Hochachtung. Die Zeilen von Kurt Tucholsky könnten ihnen allen gewidmet sein: “Denn
nichts ist schwerer und nichts erfordert mehr Charakter, als sich im
offenen Gegensatz zu seiner Zeit zu befinden und laut zu sagen:
NEIN!“ Sie haben NEIN gesagt. Jetzt ist es uns, den
Nachgeborenen, ihr Vermächtnis verantwortungsvoll zu
übernehmen. Mir geht es nicht um eine
„Gedenkrede“ allgemeiner Art. Die Worthülsen, die an
solchen Tagen offiziell verbreitet werden, wie „Wir gedenken der
Opfer…“ sind nur zu leicht Sprechblasen ähnlich.
Gedenken an mehr als 50 Millionen Opfer muss das „Wehren“
einschließen. Bertolt Brecht’s Aphorismus “Der
Schoß ist fruchtbar nach, aus dem das kroch!“ gewinnt in
diesen Tagen brennende Aktualität. Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde, Kolleginnen und Kollegen Das
zehn Jahre lange mörderische Wirken des
„Nationalsozialistischen Untergrunds“ unter Beobachtung des
Verfassungsschutzes, unter Mitwirkung seiner
„Vertrauensleute“ – so werden die V-Leute –
also die vom Staat bezahlten Neonazis genannt, muss jeden alarmieren. Der
Verfassungsschutz hat über Jahre die kriminellen Machenschaften
der Neofaschisten finanziert und gedeckt und hat in der letzten Phase
belastende Unterlagen geschreddert. Wenn heute in Köln-Chorweiler
vor der Bundeszentrale des Verfassungsschutzes viele Bürgerinnen
und Bürger für dessen Auflösung demonstrieren, ist das
eine längst überfällige Entscheidung. Dieser
Geheimdienst, der sich jeder parlamentarischen Kontrolle entzieht, ist
nicht zu reformieren. Dieser Geheimdienst maßt sich derweilen
auch Bildungsaufträge in Schulen und Hochschulen an. Die
verheerende Rolle von Geheimdiensten haben wir zwischen 1933 und 1945
kennengelernt. Die brauchen wir 2012 nicht noch einmal. Da sind die
Parlamente – wenn sie sich nicht noch einmal wie 1933 selbst
abschaffen wollen - gefordert. Ein kleiner Blick zurück in die Geschichte ist vielleicht sinnvoll. Erinnern
möchte ich an den Mitverfasser und Kommentator der Nürnberger
Rassegesetzgebung, Hans-Maria Globke. Dieses Gesetz war die juristische
Grundlage für die Diskriminierung, die den Weg zum millionenfachen
Mord wies. Dieser Schreibtischmörder wurde unter Adenauer 1.
Staatssekretär. Das stellt eine Verhöhnung von Millionen
Ermordeter dar. Der Verfassungsschutzpräsident ab 1956 war
Hubert Schrübbers. Er war während des Faschismus
Generalstaatsanwalt beim NS-Sondergericht in Hamm und ist
verantwortlich für zahlreiche Terrorurteile gegen Antifaschisten
und zeichnete sich wieder durch die gnadenlose Verfolgung von
Antifaschisten in der Adenauer-Ära aus. Das prägt diesen
Geheimdienst bis heute. Dieser Verfassungsschutz, der jetzt ein
„Aussteigerprogramm für Linke“ anbietet - ein
Anwerbeprogramm für Spitzel -, hat mit seinem V-Mann-System einen
NPD-Verbotsantrag der damaligen Bundesregierung vereitelt und
finanziert über die Bezahlung seiner „V-Männer“
einen großen Teil des Apparates der NPD. Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Freundinnen und Freunde, die
aktuelle Lage in Deutschland und in Europa ist Veranlassung,
darüber nachzudenken, dass Faschisten und Rassisten in allen
europäischen Parlamenten, in zahlreichen deutschen Landtagen und
in ungezählten Kommunalparlamenten Sitz und Stimme haben. Rassismus
und Neofaschismus im Nadelstreifen haben längst in der Mitte
unserer Gesellschaft Platz genommen. In den sogenannten
„Volksparteien“ können sich Rassisten wie Sarrazin und
zahllose andere sicher fühlen. Das ist der Boden, auf dem
Neofaschismus gedeiht. Der neofaschistische Terror, der in
unseren Städten seit 1990 ca. 200 Mordopfer gefordert hat, wurde
von der Bundesregierung auf 49 Tote heruntergerechnet. Seit 2001
wurden mit Bundesgeldern Projekte gefördert, die dem immer
stärkeren Anstieg rechter Gewalt und dem weiteren Vordringen der
Neonazis entgegenwirken sollten. Familienministerin Christina
Schröder entschied, Mittel aus diesem Programm in den Kampf gegen
„Linksextremismus“ umzuleiten. Sie führte aber auch
gleich noch einen „Gesinnungs-TÜV“ ein. Alle Projekte
gegen Rechts, die staatliche Gelder erhalten, müssen sich nun zur
„freiheitlich-demokratischen Grundordnung“ bekennen und
sich verpflichten, alle Kooperationspartner auf ihre Verfassungstreue
zu überprüfen. In politischen Kreisen wird ständig
verbreitet, man könne da nichts machen. Es ist nicht eine Frage
des „Könnens“ sondern des „Wollens“. Nach
Artikel 139 Grundgesetz, der die Fortgeltung des Verbots der NSDAP
betrifft, . sind alle Nachfolge- und Tarnorganisationen verboten und
aufzulösen. Dieser Artikel 139 ist nie vom Parlament gelöscht
worden. Der ehemalige Präsident des
Bundesverfassungsgerichts und spätere Bundespräsident Roman
Herzog hatte aber erklärt: “Mit dem Abschluss der sogenannten Entnazifizierung ist Artikel 139 obsolet geworden“. Die
„Entnazifizierung“ war für Roman Herzog abgeschlossen
und damit war die juristische Grundlage beseitigt, faschistische
Strukturen aufzulösen. Mit einem Federstrich entsorgte Roman
Herzog den antifaschistischen Auftrag des Grundgesetzes. Dass sich die
„Deutsche Nationalzeitung“ „an der Spitze des
höchsten deutschen Gerichtes keinen geeigneteren Fachmann als
Prof. Herzog“ vorstellen konnte, versteht sich. Aber auch
die rot-grüne NRW-Landesregierung verhält sich in Sachen
Neofaschismus sehr wiedersprüchlich. Innenminister Jäger hat
sich nun dazu durchgerungen, kriminelle Vereinigungen wie
Neonazi-Kameradschaften zu verbieten. Aber gleichzeitig setzt er seine
Polizei ständig gegen Antifaschisten in Marsch, die die
ständigen Neonazi-Zusammenrottungen in unseren Städten nicht
mehr hinnehmen wollen. Da wird von Innenminister Jäger in
einer Neuauflage der Broschüre „ANDI 3“ die Losung der
VVN-BdA „Faschismus ist keine Meinung sondern ein
Verbrechen“ als Aufforderung zum Gesetzesbruch diffamiert. In
dieser Broschüre, die an den Schulen verteilt wird, heißt
es, mit dieser Losung würden die „Linksextremisten“
ihrem politischen Gegner alle demokratischen Rechte absprechen. Genau das tun wir im Falle der Neonazis! Die Politik muss eine klare Antwort geben: Ist
neofaschistische Propaganda, ist Volksverhetzung, ist
Ausländerfeindlichkeit und Antisemitismus von der Landesverfassung
bzw. dem Grundgesetz als „schützenswertes Gut“ gedeckt
und müssen dafür Tag für Tag
Polizeieinsatzhundertschaften gegen Antifaschist/innen in Marsch
gesetzt werden? Der erste Ministerpräsident des
Landes NRW Dr. Rudolf Amelunxen (damals Zentrum), erklärte auf dem
Gründungskongress der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes
am 26. Oktober 1946 in Düsseldorf vor 500 Delegierten: “In
der Ausübung der Toleranz darf und muss nur eine Ausnahme gemacht
werden, nämlich die, dass es keine Freiheit gibt für die
Mörder der Freiheit. Wir kennen diese und werden alles tun, um sie
nicht noch einmal zum Zuge kommen zu lassen!“ 1933 haben
die Faschisten ihr Recht auf die Straße geltend gemacht. Die
entsetzlichen Ergebnisse sind bekannt. Nach den gemachten historischen
Erfahrungen sprechen wir hier und heute ausdrücklich Neofaschisten
aller Schattierungen das Recht zu demonstrieren und das Recht auf
Meinungsäußerung ab! Selbst wenn wir uns damit nach Meinung
von Polizei, Justiz und Politik strafbar machen. Das sind wir den
Millionen Opfern schuldig. Freie Meinungsäußerung für Faschisten hat Millionen Menschen das Leben gekostet. Das darf sich nicht wiederholen! Es bleibt dabei: Faschismus ist keine Meinung sondern ein Verbrechen! |