23.07.2012 „Die Weltbühne“
analysierte 1930 den Klassencharakter des Nazismus in Deutschland Als die
„Chancen des deutschen Faschismus”
beträchtlich anstiegen Über
“Die Chancen des deutschen Fascismus” stand in Carl
von Ossietzkys “Weltbühne” Nr. 35 (Seite
296) und 36/1930 (Seite 340) ein höchst bemerkenswerter
Artikel von K. L. Gerstorff, das war Fritz Sternberg,
1895-1963. Die
“Weltbühne” erschien damals im 26.
Jahrgang, zweites Halbjahr 1930. Wir fanden den Beitrag im Nachdruck:
Athenäum Verlag, Königstein / Ts. 1978. Sternberg,
der sich auch Thomas Tarn nannte, arbeiteter von 1930 bis 1933 in der
Redaktion mit. Er verfasste politische und wirtschaftspolitische
Beiträge vom Standpunkt eines linken Sozialdemokraten. In den
USA war er als Emigrant und lehrte an Hochschulen. Der Beitrag
“Die Chancen des deutschen Fascismus” bewertet den
NS-Faschismus in Deutschland in einer “Zeit seiner
stürmischen Aufwärtsentwicklung“ und der
Hinwendung des „deutschen Monopolkapitals“ zur
Partei Hitlers. Beurteilt werden das Industriekapital und die deutsche
Industriearbeiterschaft in ihren Besonderheiten. Es seien für
„den deutschen Kapitalismus ganz andre Voraussetzungen
notwendig als für den italienischen, wenn er nicht, wie
bisher, die fascistische (Schreibweise im Original – Red.)
Entwicklung nur dulden sondern sie direkt an die Macht kommen lassen
soll.“ Gerstorff/Sternberg: „Der deutsche
Kapitalismus hatte in den letzten zwölf Jahren drei schwere
Erschütterungen durchzumachen: Erstens den Sturz des
Kaisertums nach dem verlornen Krieg, zweitens die Krise bei
Liquidierung der Inflation, dritten« die heutige
Weltwirtschaftskrise. Und jedesmal war eine besondre Steigerung der
fascistischen Bewegung zu konstatieren.“ Nun stehe man vor
einer neuen Steigerung des Faschismus. Die VVN-BdA sieht sich heute
Angriffen ausgesetzt, wenn sie die Beziehungen des Kapitals zum
Faschismus benennt. Sie steht jedoch damit in der Tradition der
republikanischen und demokratischen Kräfte von
Weimar. Die
Chancen des deutschen Fascismus von K. L. Gerstorff I Es besteht
kein. Zweifel, daß der Nationalsozialismus sich zur Zeit in
einer stürmischen Aufwärtsentwicklung befindet. Und
zwar erfolgt dieser Aufstieg nicht nur in einzelnen Landesteilen
Deutschlands sondern überall, wo in der letzten Zeit Wahlen
stattgefunden haben, haben die Nationalsozialisten zum Teil sehr
erhebliche Erfolge zu verzeichnen gehabt. Nur einige Fakten: Die nationalsozialistischen
Stimmen stiegen (in Prozent): | Vorletzte Kommunalwahlen | Kommunalwahlen Nov. 1929 | Berlin | 2,8 | 5,8 | Breslau | 2,2 | 3,2 | Hannover |
3,8 | 4,9 | Altona | 1,8 | 5,8 | Kiel | 5,1 | 4,0 | Stettin | 2,6 | 3,4 | Nürnberg | 11,8 | 15,6 | Königsberg | 2,1 | 5,7 | Köln | 2,3 | 4,6 | Frankfurt
a. M. | 4,4 | 10,0 | Halle | 6,9 | 6,3 | Dresden | 0,9 | 4,7 | Leipzig | 2,5 | 4,2 | Chemnitz | 1,8 | 7,2 | Darmstadt | 1,7 | 10,4 |
In
Thüringen stiegen sie gegenüber den Landtagswahlen
von 1927 von 4,6 Prozent auf 11,3 Prozent im Dezember 1929. In Sachsen
haben sich die nationalsozialistischen Stimmen bei den letzten Wahlen
fast verdreifacht, die Nationalsozialisten sind dort stärker
geworden als die Kommunisten. Die aufstei¬gende Linie ist also
nicht zu verkennen. Und die Frage ist nur, wird diese aufsteigende
Linie anhalten, wird damit der Fascismus in Deutschland in absehbarer
Zeit zur wirklichen positiven Macht gelangen, oder was werden die
nächsten Jahre bringen? Es gibt kaum ein Presseorgan, das sich
mit dieser Frage in letzter Zeit nicht auseinandergesetzt
hätte. Was aber fehlt, ist die systematische Analyse der
heutigen ökonomischen Situation des Kapitalismus, die uns
allein über die Chancen des fascistischen Aufstiegs einigen
Aufschluß geben kann. Was bedeutet der Fascismus für
Deutschland? Er bedeutet eine derartige Zuspitzung der
Klassenkämpfe, der Klassengegensätze, daß
es die Bourgeoisie nicht mehr für möglich
hält, parlamentarisch zu herrschen, auf parlamentarischem Wege
ihre ökonomischen Machtpositionen zu behaupten, daß
sie daher auf die direkte politische Herrschaft durch das Parlament
notgedrungen verzichtet; daß sie zunächst die
direkte politische Macht aufgibt, um die ökonomische zu halten. Wenn
man sich mit dem Fascismus beschäftigt, so blickt man
zunächst meist nach Italien. Aber es ist völlig
falsch, zu glauben, daß eine deutsche fascistische
Entwicklung sich in denselben Formen vollziehen kann wie in Italien.
Das ist aus¬geschlossen. Ausgeschlossen darum, weil die
ökonomischen Machtpositionen wie die gesamten
Klassenverhältnisse in Italien völlig anders gelagert
waren und auch heute anders gelagert sind als in Deutschland. Italien
ist ein junges Industrieland; das prägt sich darin aus,
daß in seiner Wirtschaft die Industrie noch stark hinter der
Landwirtschaft zurückbleibt. Die Industriearbeiterschaft ist
nicht viel stärker als zwei Millionen, also nur ein kleiner
Bruchteil der deutschen. Auf der andern Seite ist
natürlich auch die Großindustrie noch nicht sehr
weit entwickelt. Die Großbourgeoisie, das Finanz-, das
Monopolkapital spielt daher in der italienischen Wirtschaft und Politik
eine weit geringere Rolle als in Deutschland. Die italienischen
Arbeiter hatten, als sie seinerzeit die Fabriken besetzten, es nicht
verstanden, einen Block mit der ungeheuern Zahl der von den
Großgrundbesitzern ausgebeuteten Bauern und Landarbeiter zu
schaffen. Als sie so mit den ökonomischen Schwierigkeiten
nicht fertig wurden und ihre Position wieder aufgaben, hatten sie der
Bourgeoisie doch einen solchen Schrecken eingejagt, daß diese
dem Fascismus, der sich damals zum größten Teil aus
mittelständischen und kleinbäuerlichen Elementen
zusammensetzte, die Macht überließ, der die Arbeiter
und ihre Organisationen völlig niederknüttelte. Das
deutsche Monopolkapital ist eine ganz andre ökonomische und
politische Macht als die wenigen italienischen Industriell auf der
andern Seite ist die deutsche Industriearbeiterschaft wiederum ein ganz
andrer ökonomischer und politischer Machtfaktor (oder besser
gesagt, könnte es sein). Daher sind für den deutschen
Kapitalismus ganz andre Voraussetzungen notwendig als für den
italienischen, wenn er nicht, wie bisher, die fascistische Entwicklung
nur dulden sondern sie direkt an die Macht kommen lassen soll. Der
deutsche Kapitalismus hatte in den letzten zwölf Jahren drei
schwere Erschütterungen durchzumachen: Erstens den Sturz des
Kaisertums nach dem verlornen Krieg, zweitens die Krise bei
Liquidierung der Inflation, dritten« die heutige
Weltwirtschaftskrise. Und jedesmal war eine besondre Steigerung der
fascistischen Bewegung zu konstatieren. Die
bewaffneten Freikorps, die nach Beendigung des Krieges die
revolutionäre Bewegung niederknüttelten, nannte man
damals zwar noch nicht Fascisten, aber sie hatten bereits die
fascistische Funktion: die ökonomische Position des
Kapitalismus gegenüber dem revolutionären Ansturm zu
verteidigen, dem man mit parlamentarisch-demokratischen Methoden nicht
mehr begegnen konnte. Als die Inflation die
Klassengegensätze verschärfte, die
Monopolkapitalisten riesenhafte Gewinne realisierten, die Arbeiter
jedoch nicht mehr so viel erhielten, daß sie das nackte Leben
fristen konnten, als es in Hamburg losging, als der Reichswehreinmarsch
in Sachsen begann, als sich der Kapitalismus revolutionär
bedroht sah, wuchs auch die fascistische Bewegung. Man
vergißt bei dem heutigen Anschwellen der
nationalsozialistischen Ziffern sehr leicht, daß sie schon
einmal sehr stark gestiegen und seither wieder gesunken waren. Die
Nationalsozialisten erreichten bei den Reichstagswahlen folgende
Stimmenzahlen: Wahlkreis | 4. Mai 1924 | 7. Dezbr. 1924 | 20. Mai 1928 | 1.
Ostpreußen | 87 438 | 62 248 | 8 114 | 2.
Berlin | 39 930 | 17 808 | 16 505 | 3.
Potsdam II | 56 597 | 26 273 | 17 502 | 4.
Potsdam I | 50 854 | 25 756 | 16 321 | 5.
Frankfurt a. d. O. | 40 550 | 26 524 | 8 185 | 6.
Pommern | 65 620 | 38 229 | 13 543 | 7.
Breslau | 37 905 | 13 648 | 9 258 | 8.
Liegnitz | 8 885 | 9 080 | 7 420 | 9.
Oppeln | 18 883 | 8 200 | 5 545 | 10.
Magdeburg | 43 162 | 27 304 | 15 801 | 11.
Merseburg | 62 098 | 31 425 | 19 629 | 12.
Thüringen | 109
914 | 60 297 | 40 751 | 13. Schleswig-Holstein | 55 403 | 20
433 | 31 784 | 14.
Weser-Ems | 48 993 | 33 056 | 36 267 | 15.
Osthannover | 43 427 | 22 199 | 13 573 | 16.
Südhannover-Braunschw. | 77
168 | 34 018 | 46 321 | 17. Westfalen-Nord | 37 153 | 13
639 | 12 118 | 18.
Westfalen-Süd | 19
097 | 14 320 | 19 682 | 19. Hessen-Nassau | 66 604 | 29
087 | 42 452 | 20.
Köln-Aachen | 13
322 | 5 247 | 10 598 | 21. Koblenz-Trier | 6 987 | — | 11 893 | 22.
Düsseldorf-Ost. | 38
279 | 16 624 | 19 870 | 23.
Düsseldorf-West | 19
794 | 7 265 | 10 101 | 24. Oberbayern-Schwaben | 164 564 | 55
779 | 72 083 | 25. Niederbayern | 46 246 | 16
643 | 19 861 | 26. Franken | 230 010 | 94
337 | 100 701 | 27. Pfalz | 21 071 | 8
230 | 23 288 | 28.
Dresden-Bautzen | 43
812 | 15 153 | 18 245 | 29. Leipzig | 55
317 | 13 225 | 14 601 | 30. Chemnitz-Zwickau | 70 717 | 39
205 | 41 497 | 31.
Württemberg | 50
630 | 25 277 | 21 731 | 32. Baden | 45
049 | 19 160 | 26 330 | 33. Hessen-Darmstadt | 17 893 | 8
216 | 11 281 | 34.
Hamburg | 37 757 | 14 479 | 17 761 | 35.
Mecklenburg | 92 889 | 54 562 | 9 151 | zusammen | 1 923 018 | 906
946 | 809 763 |
Man lese
diese Zahlen sehr genau, denn sie zeigen, daß die
Nationalsozialisten nicht nur in Bayern stark waren, nicht nur in
ländlichen Bezirken sondern auch in typischen
Industrierevieren, wie in Sachsen und Thüringen. Sie zeigen
weiter, daß die nationalsozialistischen Stimmen vom Mai 1924
bis Dezember 1924 um über die Hälfte
zurückgingen, und daß sie vom Dezember 1924 bis zum
Mai 1928 noch weiter, wenn auch geringfügig, gesunken sind.
Woher kam der plötzliche Absturz? Er war die Folge der
Stabilisierung, die Folge davon, daß nach dem
außerordentlichen Tiefstand der Löhne in der
Inflation die Löhne etwas stiegen (die Profile allerdings noch
mehr), daß die deutschen Produktionsziffern »liegen
wie der deutsche Außenhandel und daß es so den
Anschein gewann, als ob die schweren Nachkriegsjahre nur die Folgen des
Krieges und der Inflation seien und daß es in Deutschland
immer besser werden würde, je weiter man vom Kriege entfernt
sei. Seit 1928 verstärken sich wieder die fascistischen
Stimmen; und es ist zunächst die Frage zu beantworten: wird
der deutsche Kapitalismus aus der heutigen Krise so herauskommen wie
aus der Inflation, werden wir noch einmal einen langdauernden
Auf¬schwung erleben? Die Frage ist mit einem runden Nein zu
be¬antworten. Es ist nicht mehr zu verkennen, daß der
gesamte Weltkapitalismus in der Niedergangsepoche steht, und
daß eines seiner schwächsten Glieder, der deutsche
Kapitalismus, besonders stark davon betroffen wird. Aber
es ist klar, daß der Niedergang kein einfacher, gradliniger
Prozeß ist, daß die herrschenden Klassen sich
dagegen auf alle Weise zu wehren suchen, daß sie die
Wirkungen des Niedergangs möglichst von sich
abzuwälzen suchen. Das Charakteristische an der
wirtschaftlichen Entwicklung Deutschlands schon in den letzten
Vorkriegsjahrzehnten war die riesenhafte Konzentration und
Zentralisation des Kapitals, das immer stärkere Wachsen der
monopolistischen Organisationen, der Kartelle und das Verwachsen dieser
monopolistischen Organisationen mit dem Bankkapital zum Finanzkapital.
Was ist der wesentliche Zweck bei der Gründung dieser
monopolistischen Organisationen? Durch "geregelte" Fest¬setzung
der Preise einen besonders hohen Gewinn zu machen. Dieser Profit
muß natürlich auf Kosten andrer Wirtschaftskrise
gemacht werden, er belastet einmal natürlich die gesamten
Konsumenten, die breite Masse, vor allem die Arbeit-nehmerschaft. Hohe
Kartellpreise erhöhen ihre Lebenshaltungskosten. Aber er
belastet nicht nur diese. Die hohen Profite des Monopolkapitals werden
auch ermöglicht durch Senkung der Profite, durch Senkung der
Einkommen aller ändern kapitalistischen Schichten. Der
Monopolprofit fließt aus der Herabsetzung der Profite der
nicht monopolisierten, das heißt zum Beispiel der weiter
verarbeitenden Industrie. Im Kapitalismus setzt sich zwar immer wieder
ein Durchschnittsgewinn durch, im Monopolkapitalismus aber nur mit sehr
starken Reibungswiderständen. Das heißt, es ist
immer wieder durch längre Epochen möglich, die
Gewinne der monopolisierten Industrie über den
Durchschnittsgewinn zu erhöhen, die der nicht kartellierten
Industrie dagegen bedeutend zu senken. Die besonders
flohen Profite des Monopolkapitals beruhen weiter auf einer gewissen
Herabsetzung des Handelsprofits. In der Epoche der freien Konkurrenz
hatten gegenŸber den einzelnen Fabrikanten die
Großkaufleute eine sehr mächtige! Position. Sie
konnten die einzelnen Industriellen gegeneinander ausspielen und so den
Anteil des Handelsprofits gegenüber dem des industriellen
Profits erhöhen. In der Epoche des Monopolkapitalismus dagegen
wird der Anteil des Handelskapitals am Profit ständig
herabgedrückt. Der zersplitterte Handel ist dem in feste
Organisationsformen zusammengeballten industriellen Monopolkapitalismus
nicht mehr gewachsen. So wird der Profit des Großhandels
immer stärker herabgesetzt. Dem Kleinhandel geht es noch
schlimmer. Die Kartelle und Trusts lassen ihm vielfach den Schein der
Selbständigkeit, aus sehr einfachen ökonomischen
Erwägungen. Die großen Trustorganisationen, zum
Beispiel, könnten vielfach auch den gesamten Handelsapparat in
ihre Organi¬sationen einbeziehen. Wenn sie es in zahlreichen
Fällen nicht taten, dann aus folgendem Grunde: um auch den
gesamten Handelsapparat einzubauen, sind größere
Kapitalien notwendig, die vielfach nicht geringer sind als die
Investi¬tionen der „selbständigen"
Händler. Auf das gesamte industrielle Handelskapital
muß dann der entstehende Profit verrechnet werden. Bleibt
dagegen der Kleinhändler selbständig und ist die
monopolistische Organisation sehr stark, dann kann sie den
Handelsgewinn herabdrücken auf den Zins des Kapitals plus den
Angestelltenlohn des Kleinhändlers und behält die
Differenz zwischen Profit und Zins. Damit erhöht sich die
Profitrate des Monopolkapitals. Man wird daher den
Kleinhändler solange selbständig bestehen lassen,
solange nicht wesentliche Kapitalersparnisse durch die Einbeziehung der
Handelsorganisation in die industrielle Produktion zu machen sind. In
der Landwirtschaft hat sich im Gegensatz zur Indu¬strie der
bäuerliche Kleinbetrieb im großen Umfange erhalten,
der allerdings immer mehr in die Marktwirtschaft einbezogen wird. Hier
sind also viele Einzelbetriebe vorhanden, die genau so wie die
weiterverarbeitenden Betriebe in der Industrie die Preise nicht
„regeln" können. Und daher ist überall in
den Vereinigten Staaten genau so wie in Deutschland eine
„Schere" in der Entwicklung der Monopolpreise und der Preise
für landwirtschaftliche Produkte festzustellen! Die
Monopolpreise sind weit stärker gestiegen als die Preise
für die landwirtschaftlichen Produkte. Der Gesamtprofit ist
kaum mehr bedeutend gewachsen. Und während so nicht viel mehr
zu verteilen ist, sind die monopolistischen Organisationen in
Deutschland noch stärker gewachsen. Sie versuchen mit Erfolg
ihren Profit zu erhöhen und die Folge ist natürlich,
daß die Einkommen aller ändern Schichten nicht nur
relativ abnehmen sondern diesmal auch absolut. Das ist der
entscheidende Grund der Unruhen im gesamten bürgerlichen
Lager. In der heutigen Phase des Kapitalismus, in der der gesamte
Profit nicht mehr sehr steigt, in der die ökonomische Macht
des Monopolkapitals sich aber noch weiter erhöht, in der daher
ihr Profit unter direkter Herabsetzung des Einkommens aller
ändern kapitalistischen Staaten steigt, sind die
bürgerlichen Interessen immer schwerer unter einen Hut zu
bringen. Daher gibt es ständig im bürgerlichen Lager
neue Parteibildungen, Parteigründungen. Daher
im bürgerlichen Lager der Kampf gegen den Parlamentarismus,
der Ruf nach dem starken Mann. Daher die aufsteigende Kurve der
fascistischen Bewegung. Sie setzt sich heute aus drei Komponenten
zusammen. Erstens aus dem Teil der Bauernschaft, der direkt verelendet,
aber den Zusammenhang seiner Verelendung mit der heutigen
Niedergangsepoche des Kapitalismus, mit der Ausbeutung durch das
Monopolkapital nicht begreift, zweitens aus großen Teilen der
Angestelltenschaft und der Mittelschichten, die in ihrem Einkommen zwar
proletarisiert sind, aber vom Proletariat sich distanzieren wollen,
drittens aus Arbeiterkreisen, und zwar sowohl aus ökonomisch
zurückgebliebenen Gebieten (wie die Heimarbeit in Sachsen),
aber auch aus Arbeitern in Großbetrieben, wo ein Teil der
Arbeiter seine Unzufrieden¬heit mit der offiziellen Politik,
der sozialdemokratischen wie der kommunistischen Partei durch einen
Stimmzettel für die Nationalsozialisten beweist. Die Chancen des deutschen
Fascismus von K. L. Gerstorff II Wir
definierten den Fascismus dahin, daß die Bourgeoisie
zeitweilig auf die direkte politische Macht verzichtet, um die
ökonomischen Positionen zu halten. Es ist damit
selbstverständlich, daß der Fascismus für
die Kapitalisten die ultima ratio ist, wenn sie ihre
ökonomische Machtposition auf keinem andern Wege mehr
verteidigen zu können glau¬ben. Ist dies in absehbarer
Zeit in Deutschland der Fall? Wir haben gezeigt, daß der
deutsche Kapitalismus im Niedergang begriffen ist. Dieser Niedergang
ist die allgemeine Basis für die Analyse der fascistischen
Aussichten; aber diese Feststellung genügt noch nicht
für die konkrete Analyse der augenblicklichen Situation.
Dafür ist vielmehr wichtig, festzustellen, in welchem Tempo
der weitere Aufstieg erfolgt. Die deutschen Arbeiter leben heute, wenn
wir bedenken, daß der Lebenshaltungsindex weil höher
ist, als dies amtlich zu¬gegeben wird, weit unter dem
Friedensniveau. Und wir stehen bereits bei einem neuen Angriff des
Unternehmertums, den Lebensstandard noch mehr herabzusetzen. Im
kapitalistischen System ist diese Entwicklung zwangsläufig,
denn die Krise verschärft die Konkurrenzkämpfe der
einzelnen natio¬nalen Kapitalisten um die Weltmärkte,
und wenn man selbst fürs eigne Land die Krise etwas
erleichtern will, so muß man sie auf die Konkurrenten
abwälzen. Dies tut man durch Preisunterbietung, für
die der Lohnabbau die Voraussetzung ist. In der
Unternehmerpresse ist zu lesen, daß dem Lohnabbau ein
Preisabbau folgen soll, daß die Eisenpreise herabgesetzt
werden sollen; aber vorläufig essen die Arbeiter noch keine
Nägel. Selbstverständlich ist, daß dieser
Lohnabbau die revolutionären Stimmungen verstärkt.
Aber in welchem Umfange, das ist die Frage. Wenn wir vom Niedergang des
deutschen Kapitalismus sprechen, der heute besonders deutlich ist, so
vollzog und vollzieht sich der natürlich nicht in einer
eindeutigen Abwärtsentwicklung sondern in einer vielfach
gebrochenen Linie. Das zeigt auch sehr deutlich die Kurve der
Löhne. Die Arbeiterlöhne standen am tiefsten bei
Liquidierung der Inflation. Damals hatten die breiten Massen kaum noch
die Hüllte ihres Friedenslohnes, damals hatten sie so kaum das
physiologische Existenzminimum. Seitdem ist ein gewisser Aufstieg zu
konstatieren gewesen bis ungefähr 1928, dann eine Stagnation
und jetzt wieder ein Ab¬stieg. Die kapitalistische
Stabilisierung, der Aufstieg der Löhne wie der Exporte seit
Liquidierung der Inflation hatte in der Arbeiterbewegung dem
Reformismus einen neuen Auftrieb gegeben. Das Zeitalter der
Wirtschaftsdemokratie, so wurde erklärt, sei angebrochen, und
die Arbeiter seien politisch wie ökonomisch immer
bessergestellt. Daß die Wirtschaftsdemokratie ein fauler
Schwindel ist, daß es in der Epoche des Monopolkapitalismus
keine geben kann, das sieht die deutsche Arbeiterschaft in immer
höherm Grade ein. Aber ein recht großer Teil schenkt
immer noch denen Glau¬ben, die glauben machen wollen,
daß der Abbau der Löhne nur Folge der
augenblicklichen Weltwirtschaftskrise sei; nach ihrer
Überwindung würden die Löhne bald wieder
heraufgehen. Für viele Arbeiter ist die heutige Krisis noch
eine Stockung, die bald überwunden sein wird. Sie
sträuben sich vor der Erkenntnis, daß der
Kapitalismus bereits im Niedergang begriffen ist, und daß
dessen Tempo bald noch schneller werden wird. Da sie das von sich
weisen und für sie der Kapitalismus noch eine längere
Aufstiegszeit vor sich hat, so besteht ihre „Realpolitik"
darin, die einzige Partei in Deutschland zu sein, die Parlament und
Demokratie noch ernst nimmt. Die Reformisten besetzten die
Ministerposten, um in dieser Zeit für die Kapitalisten die
Offensive gegen die Arbeiterklasse im Parlament zu führen. Das
Ergebnis der Koalition: Panzerkreuzer, Konkordat, Erhöhung der
Agrarzölle und der indirekten Steuern und
schließlich der Bund der Sozialdemokraten mit den
Kapitalisten, um den Arbeitern klarzumachen, daß eine
große, umfangreiche Kapitalbildung einsetzen müsse.
Früher nannte man das mit dem weniger gebildeten Namen
Ausbeutung. All das ergab sich als notwendige Konsequenz, wenn man an
eine neue Aufstiegsperiode des Kapitalismus glaubte und man sich daher
verpflichtet sah, im Rahmen dieses kapitalistischen Staates Arbeit zu
leisten. Und doch ging es nicht weiter. Die Koalition zerbrach. Woran
ist sie gescheitert? Offiziell an einigen Zehnermillionen für
die Finanzierung der Arbeitslosenversicherung, die nach der Ansicht der
deutschen Volkspartei nicht aufzubringen waren. Und die erste Tat der
Brüningregierung war das Ostprogramm, dessen Finanzierung
jährlich die kleine Summe von zirka eine Viertelmilliarde
kostet. Was hätte damals geschehen müssen? Die
Sozialdemokratie hatte im Parlament kaum die Möglichkeit, die
Regierung zu stürzen, denn diese hatte vorläufig die
Majorität. Wer aber konnte die Gewerkschaften am
außerparlamentarischen Kampf hindern? Wer konnte die Arbeiter
hindern, daß sie vierzehn Tage lang beim Verlassen der
Betriebe unter der Parole demonstrierten: Geld für die
Aufrechterhaltung der Arbeitslosenversicherung ist nicht da, die
Viertelmilliarde für die Junker ist da. Niemand konnte die
deutschen Gewerkschaften daran hindern als ihr eigner Reformismus. Der
hat den Weg für außerparlamentarische
Machtkämpfe verschüttet. Und das
Monopolkapital hat natürlich die Situation voll
ausgenützt; es hat die riesenhafte Arbeitslosigkeit zur
Organisation des Generalangriffs auf den Lebensstandard der
Arbeiterschaft benutzt. Der Schiedsspruch für die
Metallindustrie ist für verbindlich erklärt worden;
dadurch wird der Lohnabbau gesetzlich sanktioniert.
Selbstverständlich ist damit das Umsichgreifen des Lohnabbaus
auf alle andern Industrien. Den ersten Lohnabbau machen die
Gewerkschaften noch als königstreue Opposition mit,
während die breiten Massen bereits dagegen zu revoltieren
beginnen. Aber der erste Lohnabbau wird nicht der letzte sein. Die
amerikanische Wirtschaftskrise vertieft sich, ein neuer
Börsenkrach ist erfolgt, die amerikanischen Preise fallen. Die
Kapitalisten der Vereinigten Staaten verfolgen
äußerst gespannt die Preissenkungskampagne des
deutschen Monopolkapitals. Die Konkurrenzkämpfe um die
Weltmärkte verschärfen sich, wenn vielleicht auch
noch nicht in den nächsten Monaten, so doch in absehbarer
Zeit. Das deutsche Institut für Konjunkturforschung, das
erklärt hatte, der tiefste Punkt der Krise sei bereits
erreicht, wird sich wieder einmal revidieren müssen. Geht aber
eine starke Exportoffensive von den Vereinigten Staaten aus, erfolgt
von dort eine starke Preissenkungskampagne, dann werden die deutschen
Kapitalisten wieder folgen müssen, dann wird ein neuer Angriff
auf die deutschen Löhne einsetzen. Er wird schwerer
durchzusetzen sein als der erste, denn die Arbeiterschaft wird nicht so
leicht darüber hinweggetäuscht werden
können, daß der Kapitalismus niedergeht und eine
lange Aufstiegsepoche nicht mehr zu erwarten ist. Das deutsche
Monopolkapital bereitet sich schon heute für diese Situation
vor. Einzelne Kapitalisten hoffen, daß die
Gewerkschaftsführer noch heute erklären werden: In
der Stunde der Gefahr lassen wir den deutschen Kapitalismus nicht im
Stich. Dem Monopolkapital aber genügt dies nicht; wenn der
Lohnabbau in brutalster Form einsetzen wird, dann werden vielleicht
noch einige Gewerkschaftsführer mitmachen, aber die Massen
nicht mehr. Also muß man ein zweites Eisen
im Feuer haben. Und das ist der Fascismus. Denn
Fascismus bedeutet, daß durch Zerschlagung der Parteien und
der Gewerkschaften der Lohn einfach diktiert werden wird. Der deutsche
Kapitalismus hat die Zermürbungstaktik gegen die
Gewerkschaften, gegen die Arbeiterschaft bisher mit gutem Erfolge
angewandt. Es ist interessant, daß auch Sozialdemokraten das
zu erkennen beginnen. In der Zeitschrift ’Der
Klassenkampf’ schreibt der zur sächsischen Linken
gehörende Abgeordnete Seydewitz, daß der Reformismus
durch seine Koalitionspolitik zum Wegbereiter des Fascismus geworden
ist. Die weitere Entwicklung ist damit klar. Das Tempo im
Prozeß der Fascisierung ist davon abhängig, wie
schnell sich die Weltwirtschaftskrise noch verstärken wird,
wie schnell und wie umfangreich sich die amerikanische Exportoffensive
auf den deutschen Kapitalismus auswirken wird, ist davon
abhängig, ob der amerikanische Stoß sehr bald kommen
wird, ohne daß vorher eine relevant in die Wagschale fallende
Erholung unsrer Wirtschaft eingetreten sein wird. Dann wird sich auch
die Unruhe im bürgerlichen Lager verstärken, dann
wird es den Mittelschichten immer schlechter gehen, dann werden sie an
die Regierung mit neuen Forderungen herantreten. Sie haben dies bereits
bei Begründung der Regierung Brüning getan, und das
Monopolkapital wirft dieser bereits vor, daß sie den
Mittelschichten zu viel bewilligt habe. Das ist der Grund, warum
Duisberg, der Farbenkönig, jüngst erklärte,
daß die Industrie sich stärker politisieren
müsse, was auf gut Deutsch heißt, daß sie
sich durch politische Maßnahmen nichts von ihrem
Monopolprofit wegnehmen lassen will: Wenn aber das Monopolkapital
infolge der Zuspitzung der Situation den Mittelschichten noch etwas
zukommen lassen muß, so wird es natürlich versuchen,
das durch verstärkte Ausbeutung der Arbeiterklasse
herauszuholen. Dann werden, wie Zentrum und Demokraten in trauter
Einigkeit erklärten, drakonische Maßnahmen
einsetzen. Die reformistischen Illusionen werden dann der deutschen
Arbeiterschaft durch die Wirklichkeit sehr bald ausgetrieben werden.
Aber es ist zu primitiv, einfach anzunehmen, daß die Antwort
auf die starke absolute Verschlechterung der Lage nur
revolutionäre Massenaktion sein könne. Die Massen
können, wenn die Kommunisten diese historische Situation nicht
oder nicht genügend zu organisieren verstehen, darauf mit
völliger Passivität, mit einzelnen explosiven
Regungen und auch mit einem teilweisen Überlaufen zur
fascistischen Prätorianergarde antworten. Mehr als
zwölf Millionen Industriearbeiter gibt es in Deutschland,
reichlich fünf Millionen Mitglieder der freien Gewerkschaften,
eine reichliche Million organisierter Sozialdemokraten,
hundertfünfzigtausend organisierte Kommunisten. Um die
Millionen Gewerkschaftsmitglieder handelt es sich. Werden diese
Millionen, bewußt organisiert, in den Kampf geführt,
so ist. ihr Sieg gewiß. Ihnen muß klargemacht
werden, daß die Gewerkschaften nicht mehr allein die Aufgabe
haben können, unter Anerkennung der Zwangsschlichtung
ständig in den Abbau der Löhne einzuwilligen. Denn
solange die Gewerkschaften sich auf die Basis des Paktierens stellen,
solange sie die gesetzliche Schlichtung anerkennen, müssen in
der augenblicklichen Situation die Löhne abgebaut werden. Der
Kapitalismus ist ja keine Wohltätigkeitsgesellschaft sondern
gehorcht seiner ökonomischen
Gesetzmäßigkeit. Die Arbeiter müssen
erkennen, daß Gewerkschaften heute in der Niedergangsepoche
des Kapitalismus die Arbeiterschaft zum politischen Kampf gegen das
gesamte System zu organisieren haben. Wenn die Arbeiterschaft das nicht
erkennt, dann werden wir mit einem starken Wachstum des Fascismus und
im weitern mit einer völligen Zerschlagung der
Arbeiterorganisation rechnen müssen. Wenn sie aber erkennt,
daß die ökonomischen Kämpfe, wenn sie
wirklich aus- gefochten werden, zu politischen Kämpfen
führen müssen, und dabei der Kampf gegen das gesamte
System zu organi¬sieren ist, dann und nur dann ist die
aufwärtsstrebende fascistische Welle zu hemmen. Nicht
zwischen Fascismus und Demokratie wird daher der weitere Kampf gehen
sondern, wenn überhaupt ein Kampf geführt werden
wird, dann zwischen dem Fascismus als Prätorianergarde des
Monopolkapitals und der Arbeiterschaft, die den Sozialismus erobern
will. Es ist das Zeichen einer herrschenden Klasse, daß sie
die kommende ökonomische Entwicklung in ihren großen
Zügen erkennt, und daß sie mit ihren politischen
Maßnahmen nicht darauf antwortet, bis sie eingetreten ist. Im
Gegenteil, daß sie sie politisch vordiskontiert. Die
herrschenden Klassen, die die starke Zuspitzung der
ökonomischen Gegensätze vor dem Kriege
spürten, haben nicht darauf geantwortet, bis diese zu
ökonomischen Explosio¬nen führten sondern sie
haben sie durch den imperialistischen Krieg politisch vordiskontiert,
während die beherrschte Klasse, die Arbeiterschaft, sich
überraschen ließ. Es ist ein
Zeichen des kapitalistischen Niedergangs, daß es der
herrschenden Klasse immer schwerer wird, sich ein klares Bild der
kommenden ökonomischen Entwicklung zu machen und die weitere
Entwicklung in politischen Maßnahmen vorwegzunehmen.
Vielleicht glückt es ihr noch einmal. In dieser historischen
Situation ist die bisher beherrschte Klasse, die Arbeiterschaft, um so
mehr verpflichtet, die weitere Entwicklung ungetrübt zu
erkennen, um ihre politischen Maßnahmen danach zu treffen.
Gelingt dies der Arbeiterschaft, dann wird zum erstenmal in der
Geschichte Westeuropas die beherrschte Klasse zum Subjekt der
Geschichte, dann wird sie im Kampf gegen den Fascismus Sieger bleiben. |