Logo VVN/BdA NRW

Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes
Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten

Landesvereinigung NRW

 

23.07.2012

„Die Weltbühne“ analysierte 1930 den Klassencharakter des Nazismus in Deutschland

Als die „Chancen des deutschen Faschismus” beträchtlich anstiegen

Über “Die Chancen des deutschen Fascismus” stand in Carl von Ossietzkys “Weltbühne” Nr. 35 (Seite 296) und 36/1930 (Seite 340) ein höchst bemerkenswerter Artikel von K. L. Gerstorff, das war Fritz Sternberg, 1895-1963.   Die “Weltbühne” erschien damals im 26. Jahrgang, zweites Halbjahr 1930. Wir fanden den Beitrag im Nachdruck: Athenäum Verlag, Königstein / Ts. 1978. Sternberg, der sich auch Thomas Tarn nannte, arbeiteter von 1930 bis 1933 in der Redaktion mit. Er verfasste politische und wirtschaftspolitische Beiträge vom Standpunkt eines linken Sozialdemokraten. In den USA war er als Emigrant und lehrte an Hochschulen. Der Beitrag “Die Chancen des deutschen Fascismus” bewertet den NS-Faschismus in Deutschland in einer “Zeit seiner stürmischen Aufwärtsentwicklung“ und der Hinwendung des „deutschen Monopolkapitals“ zur Partei Hitlers. Beurteilt werden das Industriekapital und die deutsche Industriearbeiterschaft in ihren Besonderheiten. Es seien für „den deutschen Kapitalismus ganz andre Voraussetzungen notwendig als für den italienischen, wenn er nicht, wie bisher, die fascistische (Schreibweise im Original – Red.) Entwicklung nur dulden sondern sie direkt an die Macht kommen lassen soll.“ Gerstorff/Sternberg: „Der deutsche Kapitalismus hatte in den letzten zwölf Jahren drei schwere Erschütterungen durchzumachen: Erstens den Sturz des Kaisertums nach dem verlornen Krieg, zweitens die Krise bei Liquidierung der Inflation, dritten« die heutige Weltwirtschaftskrise. Und jedesmal war eine besondre Steigerung der fascistischen Bewegung zu konstatieren.“ Nun stehe man vor einer neuen Steigerung des Faschismus. Die VVN-BdA sieht sich heute Angriffen ausgesetzt, wenn sie die Beziehungen des Kapitals zum Faschismus benennt. Sie steht jedoch damit in der Tradition der republikanischen und demokratischen Kräfte von Weimar. 

Die Chancen des deutschen Fascismus

von K. L. Gerstorff

I

Es besteht kein. Zweifel, daß der Nationalsozialismus sich zur Zeit in einer stürmischen Aufwärtsentwicklung befindet. Und zwar erfolgt dieser Aufstieg nicht nur in einzelnen Landesteilen Deutschlands sondern überall, wo in der letzten Zeit Wahlen stattgefunden haben, haben die Nationalsozialisten zum Teil sehr erhebliche Erfolge zu verzeichnen gehabt. Nur einige Fakten:

Die nationalsozialistischen Stimmen stiegen (in Prozent):

Vorletzte
Kommunalwahlen

Kommunalwahlen
Nov. 1929

Berlin

2,8

5,8

Breslau

2,2

3,2

Hannover

3,8

4,9

Altona

1,8

5,8

Kiel

5,1

4,0

Stettin

2,6

3,4

Nürnberg

11,8

15,6

Königsberg

2,1

5,7

Köln

2,3

4,6

Frankfurt a. M.

4,4

10,0

Halle

6,9

6,3

Dresden

0,9

4,7

Leipzig

2,5

4,2

Chemnitz

1,8

7,2

Darmstadt

1,7

10,4

In Thüringen stiegen sie gegenüber den Landtagswahlen von 1927 von 4,6 Prozent auf 11,3 Prozent im Dezember 1929. In Sachsen haben sich die nationalsozialistischen Stimmen bei den letzten Wahlen fast verdreifacht, die Nationalsozialisten sind dort stärker geworden als die Kommunisten. Die aufstei¬gende Linie ist also nicht zu verkennen. Und die Frage ist nur, wird diese aufsteigende Linie anhalten, wird damit der Fascismus in Deutschland in absehbarer Zeit zur wirklichen positiven Macht gelangen, oder was werden die nächsten Jahre bringen? Es gibt kaum ein Presseorgan, das sich mit dieser Frage in letzter Zeit nicht auseinandergesetzt hätte. Was aber fehlt, ist die systematische Analyse der heutigen ökonomischen Situation des Kapitalismus, die uns allein über die Chancen des fascistischen Aufstiegs einigen Aufschluß geben kann. Was bedeutet der Fascismus für Deutschland? Er bedeutet eine derartige Zuspitzung der Klassenkämpfe, der Klassengegensätze, daß es die Bourgeoisie nicht mehr für möglich hält, parlamentarisch zu herrschen, auf parlamentarischem Wege ihre ökonomischen Machtpositionen zu behaupten, daß sie daher auf die direkte politische Herrschaft durch das Parlament notgedrungen verzichtet; daß sie zunächst die direkte politische Macht aufgibt, um die ökonomische zu halten.

Wenn man sich mit dem Fascismus beschäftigt, so blickt man zunächst meist nach Italien. Aber es ist völlig falsch, zu glauben, daß eine deutsche fascistische Entwicklung sich in denselben Formen vollziehen kann wie in Italien. Das ist aus¬geschlossen. Ausgeschlossen darum, weil die ökonomischen Machtpositionen wie die gesamten Klassenverhältnisse in Italien völlig anders gelagert waren und auch heute anders gelagert sind als in Deutschland. Italien ist ein junges Industrieland; das prägt sich darin aus, daß in seiner Wirtschaft die Industrie noch stark hinter der Landwirtschaft zurückbleibt. Die Industriearbeiterschaft ist nicht viel stärker als zwei Millionen, also nur ein kleiner Bruchteil der deutschen. Auf der  andern Seite ist natürlich auch die Großindustrie noch nicht sehr weit entwickelt. Die Großbourgeoisie, das Finanz-, das Monopolkapital spielt daher in der italienischen Wirtschaft und Politik eine weit geringere Rolle als in Deutschland. Die italienischen Arbeiter hatten, als sie seinerzeit die Fabriken besetzten, es nicht verstanden, einen Block mit der ungeheuern Zahl der von den Großgrundbesitzern ausgebeuteten Bauern und Landarbeiter zu schaffen. Als sie so mit den ökonomischen Schwierigkeiten nicht fertig wurden und ihre Position wieder aufgaben, hatten sie der Bourgeoisie doch einen solchen Schrecken eingejagt, daß diese dem Fascismus, der sich damals zum größten Teil aus mittelständischen und kleinbäuerlichen Elementen zusammensetzte, die Macht überließ, der die Arbeiter und ihre Organisationen völlig niederknüttelte.

Das deutsche Monopolkapital ist eine ganz andre ökonomische und politische Macht als die wenigen italienischen Industriell auf der andern Seite ist die deutsche Industriearbeiterschaft wiederum ein ganz andrer ökonomischer und politischer Machtfaktor (oder besser gesagt, könnte es sein). Daher sind für den deutschen Kapitalismus ganz andre Voraussetzungen notwendig als für den italienischen, wenn er nicht, wie bisher, die fascistische Entwicklung nur dulden sondern sie direkt an die Macht kommen lassen soll. Der deutsche Kapitalismus hatte in den letzten zwölf Jahren drei schwere Erschütterungen durchzumachen: Erstens den Sturz des Kaisertums nach dem verlornen Krieg, zweitens die Krise bei Liquidierung der Inflation, dritten« die heutige Weltwirtschaftskrise. Und jedesmal war eine besondre Steigerung der fascistischen Bewegung zu konstatieren.

Die bewaffneten Freikorps, die nach Beendigung des Krieges die revolutionäre Bewegung niederknüttelten, nannte man damals zwar noch nicht Fascisten, aber sie hatten bereits die fascistische Funktion: die ökonomische Position des Kapitalismus gegenüber dem revolutionären Ansturm zu verteidigen, dem man mit parlamentarisch-demokratischen Methoden nicht mehr begegnen konnte.

Als die Inflation die Klassengegensätze verschärfte, die Monopolkapitalisten riesenhafte Gewinne realisierten, die Arbeiter jedoch nicht mehr so viel erhielten, daß sie das nackte Leben fristen konnten, als es in Hamburg losging, als der Reichswehreinmarsch in Sachsen begann, als sich der Kapitalismus revolutionär bedroht sah, wuchs auch die fascistische Bewegung. Man vergißt bei dem heutigen Anschwellen der nationalsozialistischen Ziffern sehr leicht, daß sie schon einmal sehr stark gestiegen und seither wieder gesunken waren. Die Nationalsozialisten erreichten bei den Reichstagswahlen folgende Stimmenzahlen:

Wahlkreis

4. Mai 1924

7. Dezbr. 1924

20. Mai 1928

1. Ostpreußen

87 438

62 248

8 114

2. Berlin

39 930 

17 808

16 505

3. Potsdam II 

56 597

26 273

17 502

4. Potsdam I

50 854

25 756

16 321

5. Frankfurt a. d. O. 

40 550

26 524

8 185

6. Pommern

65 620

38 229

13 543

7. Breslau

37 905

13 648

9 258

8. Liegnitz

8 885

9 080

7 420

9. Oppeln

18 883

8 200

5 545

10. Magdeburg

43 162

27 304

15 801

11. Merseburg

62 098

31 425

19 629

12. Thüringen

109 914

60 297

40 751

13. Schleswig-Holstein

55 403

20 433

31 784

14. Weser-Ems

48 993

33 056

36 267

15. Osthannover

43 427

22 199

13 573

16. Südhannover-Braunschw.

77 168

34 018

46 321

17. Westfalen-Nord

37 153

13 639

12 118

18. Westfalen-Süd

19 097

14 320

19 682

19. Hessen-Nassau

66 604

29 087

42 452

20. Köln-Aachen

13 322

5 247

10 598

21. Koblenz-Trier

6 987

11 893

22. Düsseldorf-Ost.

38 279

16 624

19 870

23. Düsseldorf-West

19 794

7 265

10 101

24. Oberbayern-Schwaben

164 564

55 779

72 083

25. Niederbayern

46 246

16 643

19 861

26. Franken

230 010

94 337

100 701

27. Pfalz

21 071

8 230

23 288

28. Dresden-Bautzen

43 812

15 153

18 245

29. Leipzig

55 317

13 225

14 601

30. Chemnitz-Zwickau

70 717

39 205

41 497

31. Württemberg

50 630

25 277

21 731

32. Baden

45 049

19 160

26 330

33. Hessen-Darmstadt

17 893

8 216

11 281

34. Hamburg

37 757

14 479

17 761

35. Mecklenburg

92 889

54 562

9 151

zusammen

1 923 018

906 946

809 763

Man lese diese Zahlen sehr genau, denn sie zeigen, daß die Nationalsozialisten nicht nur in Bayern stark waren, nicht nur in ländlichen Bezirken sondern auch in typischen Industrierevieren, wie in Sachsen und Thüringen. Sie zeigen weiter, daß die nationalsozialistischen Stimmen vom Mai 1924 bis Dezember 1924 um über die Hälfte zurückgingen, und daß sie vom Dezember 1924 bis zum Mai 1928 noch weiter, wenn auch geringfügig, gesunken sind. Woher kam der plötzliche Absturz? Er war die Folge der Stabilisierung, die Folge davon, daß nach dem außerordentlichen Tiefstand der Löhne in der Inflation die Löhne etwas stiegen (die Profile allerdings noch mehr), daß die deutschen Produktionsziffern »liegen wie der deutsche Außenhandel und daß es so den Anschein gewann, als ob die schweren Nachkriegsjahre nur die Folgen des Krieges und der Inflation seien und daß es in Deutschland immer besser werden würde, je weiter man vom Kriege entfernt sei. Seit 1928 verstärken sich wieder die fascistischen Stimmen; und es ist zunächst die Frage zu beantworten: wird der deutsche Kapitalismus aus der heutigen Krise so herauskommen wie aus der Inflation, werden wir noch einmal einen langdauernden Auf¬schwung erleben? Die Frage ist mit einem runden Nein zu be¬antworten. Es ist nicht mehr zu verkennen, daß der gesamte Weltkapitalismus in der Niedergangsepoche steht, und daß eines seiner schwächsten Glieder, der deutsche Kapitalismus, besonders stark davon betroffen wird.

Aber es ist klar, daß der Niedergang kein einfacher, gradliniger Prozeß ist, daß die herrschenden Klassen sich dagegen auf alle Weise zu wehren suchen, daß sie die Wirkungen des Niedergangs möglichst von sich abzuwälzen suchen. Das Charakteristische an der wirtschaftlichen Entwicklung Deutschlands schon in den letzten Vorkriegsjahrzehnten war die riesenhafte Konzentration und Zentralisation des Kapitals, das immer stärkere Wachsen der monopolistischen Organisationen, der Kartelle und das Verwachsen dieser monopolistischen Organisationen mit dem Bankkapital zum Finanzkapital. Was ist der wesentliche Zweck bei der Gründung dieser monopolistischen Organisationen? Durch "geregelte" Fest¬setzung der Preise einen besonders hohen Gewinn zu machen. Dieser Profit muß natürlich auf Kosten andrer Wirtschaftskrise gemacht werden, er belastet einmal natürlich die gesamten Konsumenten, die breite Masse, vor allem die Arbeit-nehmerschaft. Hohe Kartellpreise erhöhen ihre Lebenshaltungskosten. Aber er belastet nicht nur diese. Die hohen Profite des Monopolkapitals werden auch ermöglicht durch Senkung der Profite, durch Senkung der Einkommen aller ändern kapitalistischen Schichten. Der Monopolprofit fließt aus der Herabsetzung der Profite der nicht monopolisierten, das heißt zum Beispiel der weiter verarbeitenden Industrie. Im Kapitalismus setzt sich zwar immer wieder ein Durchschnittsgewinn durch, im Monopolkapitalismus aber nur mit sehr starken Reibungswiderständen. Das heißt, es ist immer wieder durch längre Epochen möglich, die Gewinne der monopolisierten Industrie über den Durchschnittsgewinn zu erhöhen, die der nicht kartellierten Industrie dagegen bedeutend zu senken.

Die besonders flohen Profite des Monopolkapitals beruhen weiter auf einer gewissen Herabsetzung des Handelsprofits. In der Epoche der freien Konkurrenz hatten gegen¬über den einzelnen Fabrikanten die Großkaufleute eine sehr mächtige! Position. Sie konnten die einzelnen Industriellen gegeneinander ausspielen und so den Anteil des Handelsprofits gegenüber dem des industriellen Profits erhöhen. In der Epoche des Monopolkapitalismus dagegen wird der Anteil des Handelskapitals am Profit ständig herabgedrückt. Der zersplitterte Handel ist dem in feste Organisationsformen zusammengeballten industriellen Monopolkapitalismus nicht mehr gewachsen. So wird der Profit des Großhandels immer stärker herabgesetzt. Dem Kleinhandel geht es noch schlimmer. Die Kartelle und Trusts lassen ihm vielfach den Schein der Selbständigkeit, aus sehr einfachen ökonomischen Erwägungen. Die großen Trustorganisationen, zum Beispiel, könnten vielfach auch den gesamten Handelsapparat in ihre Organi¬sationen einbeziehen. Wenn sie es in zahlreichen Fällen nicht taten, dann aus folgendem Grunde: um auch den gesamten Handelsapparat einzubauen, sind größere Kapitalien notwendig, die vielfach nicht geringer sind als die Investi¬tionen der „selbständigen" Händler. Auf das gesamte industrielle Handelskapital muß dann der entstehende Profit verrechnet werden. Bleibt dagegen der Kleinhändler selbständig und ist die monopolistische Organisation sehr stark, dann kann sie den Handelsgewinn herabdrücken auf den Zins des Kapitals plus den Angestelltenlohn des Kleinhändlers und behält die Differenz zwischen Profit und Zins. Damit erhöht sich die Profitrate des Monopolkapitals. Man wird daher den Kleinhändler solange selbständig bestehen lassen, solange nicht wesentliche Kapitalersparnisse durch die Einbeziehung der Handelsorganisation in die industrielle Produktion zu machen sind.

In der Landwirtschaft hat sich im Gegensatz zur Indu¬strie der bäuerliche Kleinbetrieb im großen Umfange erhalten, der allerdings immer mehr in die Marktwirtschaft einbezogen wird. Hier sind also viele Einzelbetriebe vorhanden, die genau so wie die weiterverarbeitenden Betriebe in der Industrie die Preise nicht „regeln" können. Und daher ist überall in den Vereinigten Staaten genau so wie in Deutschland eine „Schere" in der Entwicklung der Monopolpreise und der Preise für landwirtschaftliche Produkte festzustellen! Die Monopolpreise sind weit stärker gestiegen als die Preise für die landwirtschaftlichen Produkte. Der Gesamtprofit ist kaum mehr bedeutend gewachsen. Und während so nicht viel mehr zu verteilen ist, sind die monopolistischen Organisationen in Deutschland noch stärker gewachsen. Sie versuchen mit Erfolg ihren Profit zu erhöhen und die Folge ist natürlich, daß die Einkommen aller ändern Schichten nicht nur relativ abnehmen sondern diesmal auch absolut. Das ist der entscheidende Grund der Unruhen im gesamten bürgerlichen Lager. In der heutigen Phase des Kapitalismus, in der der gesamte Profit nicht mehr sehr steigt, in der die ökonomische Macht des Monopolkapitals sich aber noch weiter erhöht, in der daher ihr Profit unter direkter Herabsetzung des Einkommens aller ändern kapitalistischen Staaten steigt, sind die bürgerlichen Interessen immer schwerer unter einen Hut zu bringen. Daher gibt es ständig im bürgerlichen Lager neue Parteibildungen, Parteigründungen.

Daher im bürgerlichen Lager der Kampf gegen den Parlamentarismus, der Ruf nach dem starken Mann. Daher die aufsteigende Kurve der fascistischen Bewegung. Sie setzt sich heute aus drei Komponenten zusammen. Erstens aus dem Teil der Bauernschaft, der direkt verelendet, aber den Zusammenhang seiner Verelendung mit der heutigen Niedergangsepoche des Kapitalismus, mit der Ausbeutung durch das Monopolkapital nicht begreift, zweitens aus großen Teilen der Angestelltenschaft und der Mittelschichten, die in ihrem Einkommen zwar proletarisiert sind, aber vom Proletariat sich distanzieren wollen, drittens aus Arbeiterkreisen, und zwar sowohl aus ökonomisch zurückgebliebenen Gebieten (wie die Heimarbeit in Sachsen), aber auch aus Arbeitern in Großbetrieben, wo ein Teil der Arbeiter seine Unzufrieden¬heit mit der offiziellen Politik, der sozialdemokratischen wie der kommunistischen Partei durch einen Stimmzettel für die Nationalsozialisten beweist.

Die Chancen des deutschen Fascismus

von K. L. Gerstorff

II

Wir definierten den Fascismus dahin, daß die Bourgeoisie zeitweilig auf die direkte politische Macht verzichtet, um die ökonomischen Positionen zu halten. Es ist damit selbstverständlich, daß der Fascismus für die Kapitalisten die ultima ratio ist, wenn sie ihre ökonomische Machtposition auf keinem andern Wege mehr verteidigen zu können glau¬ben. Ist dies in absehbarer Zeit in Deutschland der Fall? Wir haben gezeigt, daß der deutsche Kapitalismus im Niedergang begriffen ist. Dieser Niedergang ist die allgemeine Basis für die Analyse der fascistischen Aussichten; aber diese Feststellung genügt noch nicht für die konkrete Analyse der augenblicklichen Situation. Dafür ist vielmehr wichtig, festzustellen, in welchem Tempo der weitere Aufstieg erfolgt. Die deutschen Arbeiter leben heute, wenn wir bedenken, daß der Lebenshaltungsindex weil höher ist, als dies amtlich zu¬gegeben wird, weit unter dem Friedensniveau. Und wir stehen bereits bei einem neuen Angriff des Unternehmertums, den Lebensstandard noch mehr herabzusetzen. Im kapitalistischen System ist diese Entwicklung zwangsläufig, denn die Krise verschärft die Konkurrenzkämpfe der einzelnen natio¬nalen Kapitalisten um die Weltmärkte, und wenn man selbst fürs eigne Land die Krise etwas erleichtern will, so muß man sie auf die Konkurrenten abwälzen. Dies tut man durch Preisunterbietung, für die der Lohnabbau die Voraussetzung ist.

In der Unternehmerpresse ist zu lesen, daß dem Lohnabbau ein Preisabbau folgen soll, daß die Eisenpreise herabgesetzt werden sollen; aber vorläufig essen die Arbeiter noch keine Nägel. Selbstverständlich ist, daß dieser Lohnabbau die revolutionären Stimmungen verstärkt. Aber in welchem Umfange, das ist die Frage. Wenn wir vom Niedergang des deutschen Kapitalismus sprechen, der heute besonders deutlich ist, so vollzog und vollzieht sich der natürlich nicht in einer eindeutigen Abwärtsentwicklung sondern in einer vielfach gebrochenen Linie. Das zeigt auch sehr deutlich die Kurve der Löhne. Die Arbeiterlöhne standen am tiefsten bei Liquidierung der Inflation. Damals hatten die breiten Massen kaum noch die Hüllte ihres Friedenslohnes, damals hatten sie so kaum das physiologische Existenzminimum. Seitdem ist ein gewisser Aufstieg zu konstatieren gewesen bis ungefähr 1928, dann eine Stagnation und jetzt wieder ein Ab¬stieg. Die kapitalistische Stabilisierung, der Aufstieg der Löhne wie der Exporte seit Liquidierung der Inflation hatte in der Arbeiterbewegung dem Reformismus einen neuen Auftrieb gegeben. Das Zeitalter der Wirtschaftsdemokratie, so wurde erklärt, sei angebrochen, und die Arbeiter seien politisch wie ökonomisch immer bessergestellt. Daß die Wirtschaftsdemokratie ein fauler Schwindel ist, daß es in der Epoche des Monopolkapitalismus keine geben kann, das sieht die deutsche Arbeiterschaft in immer höherm Grade ein. Aber ein recht großer Teil schenkt immer noch denen Glau¬ben, die glauben machen wollen, daß der Abbau der Löhne nur Folge der augenblicklichen Weltwirtschaftskrise sei; nach ihrer Überwindung würden die Löhne bald wieder heraufgehen. Für viele Arbeiter ist die heutige Krisis noch eine Stockung, die bald überwunden sein wird. Sie sträuben sich vor der Erkenntnis, daß der Kapitalismus bereits im Niedergang begriffen ist, und daß dessen Tempo bald noch schneller werden wird. Da sie das von sich weisen und für sie der Kapitalismus noch eine längere Aufstiegszeit vor sich hat, so besteht ihre „Realpolitik" darin, die einzige Partei in Deutschland zu sein, die Parlament und Demokratie noch ernst nimmt. Die Reformisten besetzten die Ministerposten, um in dieser Zeit für die Kapitalisten die Offensive gegen die Arbeiterklasse im Parlament zu führen. Das Ergebnis der Koalition: Panzerkreuzer, Konkordat, Erhöhung der Agrarzölle und der indirekten Steuern und schließlich der Bund der Sozialdemokraten mit den Kapitalisten, um den Arbeitern klarzumachen, daß eine große, umfangreiche Kapitalbildung einsetzen müsse. Früher nannte man das mit dem weniger gebildeten Namen Ausbeutung. All das ergab sich als notwendige Konsequenz, wenn man an eine neue Aufstiegsperiode des Kapitalismus glaubte und man sich daher verpflichtet sah, im Rahmen dieses kapitalistischen Staates Arbeit zu leisten. Und doch ging es nicht weiter. Die Koalition zerbrach. Woran ist sie gescheitert? Offiziell an einigen Zehnermillionen für die Finanzierung der Arbeitslosenversicherung, die nach der Ansicht der deutschen Volkspartei nicht aufzubringen waren. Und die erste Tat der Brüningregierung war das Ostprogramm, dessen Finanzierung jährlich die kleine Summe von zirka eine Viertelmilliarde kostet. Was hätte damals geschehen müssen? Die Sozialdemokratie hatte im Parlament kaum die Möglichkeit, die Regierung zu stürzen, denn diese hatte vorläufig die Majorität. Wer aber konnte die Gewerkschaften am außerparlamentarischen Kampf hindern? Wer konnte die Arbeiter hindern, daß sie vierzehn Tage lang beim Verlassen der Betriebe unter der Parole demonstrierten: Geld für die Aufrechterhaltung der Arbeitslosenversicherung ist nicht da, die Viertelmilliarde für die Junker ist da. Niemand konnte die deutschen Gewerkschaften daran hindern als ihr eigner Reformismus. Der hat den Weg für außerparlamentarische Machtkämpfe verschüttet.

Und das Monopolkapital hat natürlich die Situation voll ausgenützt; es hat die riesenhafte Arbeitslosigkeit zur Organisation des Generalangriffs auf den Lebensstandard der Arbeiterschaft benutzt. Der Schiedsspruch für die Metallindustrie ist für verbindlich erklärt worden; dadurch wird der Lohnabbau gesetzlich sanktioniert. Selbstverständlich ist damit das Umsichgreifen des Lohnabbaus auf alle andern Industrien. Den ersten Lohnabbau machen die Gewerkschaften noch als königstreue Opposition mit, während die breiten Massen bereits dagegen zu revoltieren beginnen. Aber der erste Lohnabbau wird nicht der letzte sein. Die amerikanische Wirtschaftskrise vertieft sich, ein neuer Börsenkrach ist erfolgt, die amerikanischen Preise fallen. Die Kapitalisten der Vereinigten Staaten verfolgen äußerst gespannt die Preissenkungskampagne des deutschen Monopolkapitals. Die Konkurrenzkämpfe um die Weltmärkte verschärfen sich, wenn vielleicht auch noch nicht in den nächsten Monaten, so doch in absehbarer Zeit. Das deutsche Institut für Konjunkturforschung, das erklärt hatte, der tiefste Punkt der Krise sei bereits erreicht, wird sich wieder einmal revidieren müssen. Geht aber eine starke Exportoffensive von den Vereinigten Staaten aus, erfolgt von dort eine starke Preissenkungskampagne, dann werden die deutschen Kapitalisten wieder folgen müssen, dann wird ein neuer Angriff auf die deutschen Löhne einsetzen. Er wird schwerer durchzusetzen sein als der erste, denn die Arbeiterschaft wird nicht so leicht darüber hinweggetäuscht werden können, daß der Kapitalismus niedergeht und eine lange Aufstiegsepoche nicht mehr zu erwarten ist. Das deutsche Monopolkapital bereitet sich schon heute für diese Situation vor. Einzelne Kapitalisten hoffen, daß die Gewerkschaftsführer noch heute erklären werden: In der Stunde der Gefahr lassen wir den deutschen Kapitalismus nicht im Stich. Dem Monopolkapital aber genügt dies nicht; wenn der Lohnabbau in brutalster Form einsetzen wird, dann werden vielleicht noch einige Gewerkschaftsführer mitmachen, aber die Massen nicht mehr.

Also muß man ein zweites Eisen im Feuer haben. Und das ist der Fascismus.

Denn Fascismus bedeutet, daß durch Zerschlagung der Parteien und der Gewerkschaften der Lohn einfach diktiert werden wird. Der deutsche Kapitalismus hat die Zermürbungstaktik gegen die Gewerkschaften, gegen die Arbeiterschaft bisher mit gutem Erfolge angewandt. Es ist interessant, daß auch Sozialdemokraten das zu erkennen beginnen. In der Zeitschrift ’Der Klassenkampf’ schreibt der zur sächsischen Linken gehörende Abgeordnete Seydewitz, daß der Reformismus durch seine Koalitionspolitik zum Wegbereiter des Fascismus geworden ist. Die weitere Entwicklung ist damit klar. Das Tempo im Prozeß der Fascisierung ist davon abhängig, wie schnell sich die Weltwirtschaftskrise noch verstärken wird, wie schnell und wie umfangreich sich die amerikanische Exportoffensive auf den deutschen Kapitalismus auswirken wird, ist davon abhängig, ob der amerikanische Stoß sehr bald kommen wird, ohne daß vorher eine relevant in die Wagschale fallende Erholung unsrer Wirtschaft eingetreten sein wird. Dann wird sich auch die Unruhe im bürgerlichen Lager verstärken, dann wird es den Mittelschichten immer schlechter gehen, dann werden sie an die Regierung mit neuen Forderungen herantreten. Sie haben dies bereits bei Begründung der Regierung Brüning getan, und das Monopolkapital wirft dieser bereits vor, daß sie den Mittelschichten zu viel bewilligt habe. Das ist der Grund, warum Duisberg, der Farbenkönig, jüngst erklärte, daß die Industrie sich stärker politisieren müsse, was auf gut Deutsch heißt, daß sie sich durch politische Maßnahmen nichts von ihrem Monopolprofit wegnehmen lassen will: Wenn aber das Monopolkapital infolge der Zuspitzung der Situation den Mittelschichten noch etwas zukommen lassen muß, so wird es natürlich versuchen, das durch verstärkte Ausbeutung der Arbeiterklasse herauszuholen. Dann werden, wie Zentrum und Demokraten in trauter Einigkeit erklärten, drakonische Maßnahmen einsetzen. Die reformistischen Illusionen werden dann der deutschen Arbeiterschaft durch die Wirklichkeit sehr bald ausgetrieben werden. Aber es ist zu primitiv, einfach anzunehmen, daß die Antwort auf die starke absolute Verschlechterung der Lage nur revolutionäre Massenaktion sein könne. Die Massen können, wenn die Kommunisten diese historische Situation nicht oder nicht genügend zu organisieren verstehen, darauf mit völliger Passivität, mit einzelnen explosiven Regungen und auch mit einem teilweisen Überlaufen zur fascistischen Prätorianergarde antworten. Mehr als zwölf Millionen Industriearbeiter gibt es in Deutschland, reichlich fünf Millionen Mitglieder der freien Gewerkschaften, eine reichliche Million organisierter Sozialdemokraten, hundertfünfzigtausend organisierte Kommunisten. Um die Millionen Gewerkschaftsmitglieder handelt es sich. Werden diese Millionen, bewußt organisiert, in den Kampf geführt, so ist. ihr Sieg gewiß. Ihnen muß klargemacht werden, daß die Gewerkschaften nicht mehr allein die Aufgabe haben können, unter Anerkennung der Zwangsschlichtung ständig in den Abbau der Löhne einzuwilligen. Denn solange die Gewerkschaften sich auf die Basis des Paktierens stellen, solange sie die gesetzliche Schlichtung anerkennen, müssen in der augenblicklichen Situation die Löhne abgebaut werden. Der Kapitalismus ist ja keine Wohltätigkeitsgesellschaft sondern gehorcht seiner ökonomischen Gesetzmäßigkeit. Die Arbeiter müssen erkennen, daß Gewerkschaften heute in der Niedergangsepoche des Kapitalismus die Arbeiterschaft zum politischen Kampf gegen das gesamte System zu organisieren haben. Wenn die Arbeiterschaft das nicht erkennt, dann werden wir mit einem starken Wachstum des Fascismus und im weitern mit einer völligen Zerschlagung der Arbeiterorganisation rechnen müssen. Wenn sie aber erkennt, daß die ökonomischen Kämpfe, wenn sie wirklich aus- gefochten werden, zu politischen Kämpfen führen müssen, und dabei der Kampf gegen das gesamte System zu organi¬sieren ist, dann und nur dann ist die aufwärtsstrebende fascistische Welle zu hemmen.

Nicht zwischen Fascismus und Demokratie wird daher der weitere Kampf gehen sondern, wenn überhaupt ein Kampf geführt werden wird, dann zwischen dem Fascismus als Prätorianergarde des Monopolkapitals und der Arbeiterschaft, die den Sozialismus erobern will. Es ist das Zeichen einer herrschenden Klasse, daß sie die kommende ökonomische Entwicklung in ihren großen Zügen erkennt, und daß sie mit ihren politischen Maßnahmen nicht darauf antwortet, bis sie eingetreten ist. Im Gegenteil, daß sie sie politisch vordiskontiert. Die herrschenden Klassen, die die starke Zuspitzung der ökonomischen Gegensätze vor dem Kriege spürten, haben nicht darauf geantwortet, bis diese zu ökonomischen Explosio¬nen führten sondern sie haben sie durch den imperialistischen Krieg politisch vordiskontiert, während die beherrschte Klasse, die Arbeiterschaft, sich überraschen ließ.

Es ist ein Zeichen des kapitalistischen Niedergangs, daß es der herrschenden Klasse immer schwerer wird, sich ein klares Bild der kommenden ökonomischen Entwicklung zu machen und die weitere Entwicklung in politischen Maßnahmen vorwegzunehmen. Vielleicht glückt es ihr noch einmal. In dieser historischen Situation ist die bisher beherrschte Klasse, die Arbeiterschaft, um so mehr verpflichtet, die weitere Entwicklung ungetrübt zu erkennen, um ihre politischen Maßnahmen danach zu treffen. Gelingt dies der Arbeiterschaft, dann wird zum erstenmal in der Geschichte Westeuropas die beherrschte Klasse zum Subjekt der Geschichte, dann wird sie im Kampf gegen den Fascismus Sieger bleiben.