19.07.2012 Das letzte Tabu wird geknackt Kapitalverbrechen von VVN-Geschichtsgruppen erforscht Georg Chodinski (antifa) sprach mit Ulrich Sander (Geschichtskommission der VVN-BdA NRW) Dass
es einen engen Zusammenhang zwischen Faschismus und Kapital als
Förderer und Profiteure des Faschismus gab, wird von Medien und
bürgerlicher Wissenschaft als Tabu behandelt. Dieses Tabu zu
knacken, dazu hat die VVN-BdA NRW ein Buch herausgebracht, dessen Titel
lautet „Von Arisierung bis Zwangsarbeit – Verbrechen der
Wirtschaft an Rhein und Ruhr 1933-1945“. Das Buch basiert auf
einer dreijährigen Recherche der Geschichtskommission in
Nordrhein-Westfalen. Der Bundeskongress der VVN-BdA hat voriges Jahr
beschlossen, allen Landesvereinigungen die Ausweitung der Rallye
„Spurensuche Verbrechen der Wirtschaft 1933-1945“
vorzuschlagen. G. C.: In
den Verfassungsschutzberichten in Bayern und Baden-Württemberg
wird der VVN-BdA vorgeworfen, sie agiere "auf der Basis des klassischen
kommunistischen Faschismusverständnisses, das einen untrennbaren
Zusammenhang zwischen Faschismus und Kapitalismus herstellt". Das ist
falsch, weil es in der VVN-BdA unterschiedliche Zugänge zum
Antifaschismus gibt. Es ist allerdings historisch durchaus korrekt,
dass es einen engen Zusammenhang zwischen Faschismus und Kapital als
Förderer und Profiteure des Faschismus gab. Dazu habt Ihr jetzt
ein Buch geschrieben; dessen Titel lautet „Von Arisierung bis
Zwangsarbeit – Verbrechen der Wirtschaft an Rhein und Ruhr
1933-1945“. U. S.: Ja,
und wir möchten auch, dass bald ähnliche Bücher zur
Geschichte an Neckar, an Elbe und Oder und anderen Flüssen
erscheinen. Unser Buch basiert auf einer dreijährigen Recherche in
Nordrhein-Westfalen, und der Bundeskongress der VVN-BdA hat voriges
Jahr beschlossen, allen Landesvereinigungen die Ausweitung der Rallye
„Spurensuche Verbrechen der Wirtschaft 1933-1945“
vorzuschlagen. G. C.: Was ist das denn? U. S.: Die
Tatorte der Verbrechen der ökonomischen Eliten in der Zeit von
Faschismus und Krieg werden recherchiert, die Hintergründe
ermittelt und Warnungen ausgesprochen: Nie wieder! Und zwar ganz
konkret örtlich und regional. In NRW haben wir rund 30 solcher
Tatorte gefunden, und wir publizieren nun dazu in unserem Buch und auf
unserer WebSite und regen an, dass Straßen mit belasteten Namen
umbenannt werden und informative Warntafeln aufgestellt werden. Es gibt
noch tausende weiterer Tatorte, wenn man nur an die Zwangsarbeiterlager
denkt. G. C.: Gibt es dazu schon Ergebnisse? U. S.: In
Köln fingen schon Anfang der neunziger Jahre Erinnerungsarbeiter
damit an und sicherten eine Warntafel vor der Villa des Bankiers und
Barons von Schröder am Stadtwaldgürtel, der dort am 5. Januar
1933 mit Hitler und von Papen alles perfekt machte zur
Machtübertragung am 30. Januar 1933. Weitere Tafeln entstanden in
Leverkusen zu IG Farben, in Herten gleich mehrere zum Bergbau. In
anderen Städten wurden vom Stadtrat Warntafeln vor Emil Kirdorf
und Fritz Thyssen beschlossen. Viele Bürgeranträge warten
noch auf Bearbeitung. G. C.:
Was wird aus den Recherchen? Es haben doch 30 Aktivisten der VVN-BdA
mitgearbeitet und ferner haben die Historiker Thomas Kuczynski, Kurt
Pätzold, Ulrich Schneider und Manfred Weisbecker Beiträge zum
Buch beigesteuert. U. S.:
Letztere haben gründliche Analysen geliefert zum Beispiel zur
Notwendigkeit, nach der Ausstellung Verbrechen der Wehrmacht nun die
Ausstellung Verbrechen der Wirtschaft vorzulegen und an der
Entschädigung der Opfer der NS-Zwangsarbeit dranzubleiben. G. C.: Sollen wir uns die Arbeit mit der Ausstellung aufhalsen? U. S.:
Wir sind so kühn. Allerdings bekommen wir es mit unserem
bisherigen Kollektiv nicht hin – es sind ja leider während
der Recherchen unsere Mitstreiter Jupp Angenfort, Manfred Demmer, Hans
Heinrich Holland und Klaus Kunold verstorben. Wir brauchen also
Unterstützung. Die Arbeit an Mahnorten geht auch in NRW weiter.
Auch neue Erkenntnisse – so zu den furchtbaren Verbrechen des
Abschiebens der Zwangsarbeiter auf Todesmärsche und in Todeslager
durch ihre „Arbeitgeber“ in den letzten Kriegsmonaten -
kamen erst nach Erscheinen des Buches hinzu. G. C.:
Wir berührten „das letzte Tabu“ schrieb die Junge
Welt, und benannten die eigentlichen „Kapitalverbrechen“
dieser Zeit, so das Neue Deutschland. U. S.:
Der Tabubruch ist den Herrschenden sehr unbequem. Es soll in der
heutigen Krise nicht warnend auf die damaligen Krisenauswege des
Kapitals hingewiesen werden. Auch die Autoren süddeutscher
Verfassungsschutzberichte wissen, dass der heutige prokapitalistische
Krisenausweg nur mit autoritären Mitteln, mit antidemokratischen
Regelungen möglich ist. 1932/1933 entschied sich das Kapital so,
wie es sich entschied. Es wollte Krieg. Wir meinen: Der Kapitalismus
muss nicht zum Faschismus führen, aber bei uns ist es geschehen.
Und somit kann es wieder geschehen. Daher heißt es aufzupassen
und aufklären. G. C.:
Und was antworten wir nun Autoren der Verfassungsschutzberichte aus
Bayern und Baden-Württemberg, die jede antifaschistische
Kapitalismuskritik irgendwie verfassungsfeindlich finden? U. S.:
Zum Beispiel sollen sie sich den sozialdemokratischen
„Vorwärts“ vom Abend des 30. Januar 1933 ansehen. Er
titelte: „Hitler-Papen-Kabinett – „Feine Leute“
und drei Nazis - Kabinett des Großkapitals“,
Zwischenüberschrift: „Kapitalistische Reaktion“. G. C.:
Ermutigung erfuhrt Ihr dagegen von solchen Autoren und Werken wie
Gustav Luntowski »Hitler und die Herren an der Ruh“ und
Adam Tooze „Ökonomie der Zerstörung. Geschichte der
Wirtschaft im Nationalsozialismus“. U. S.:
Zahlreiche Medien und Wissenschaftler haben dem englischen Forscher
Tooze Respekt gezollt. Weniger Anerkennung bekam jedoch Prof.
Luntowski, ehemals Stadtarchivar von Dortmund. Obgleich der erstmals in
den privaten Archiven der Herren an der Ruhr forschen durfte. Tooze und
Luntowski räumen auf mit der Behauptung, die ökonomischen
Eliten hätten sich erst nach dem 30. Januar 1933 mit dem
Faschismus abgefunden und arrangiert. Und dies geschah zugunsten
schlichter Gier nach Profit, nach Eroberung von Märkten und Raub
per Arisierung und Zwangsarbeit. G. C.:
Schließlich möchte ich fragen: Welchen praktischen Nutzen
können die Bürgerinnen und Bürger aus Euren Recherchen
ziehen? U. S.: Sie
können beispielsweise erfahren, was hinter so
selbstverständlichen Markennamen steckt wie Evonik oder Siku oder
BMW. Viele Tausend Anhänger von Borussia Dortmund tragen das
Evonik-Trikot, auf dem eigentlich Evonik-Degussa stehen müsste, um
die Vorläuferfirmen Degussa und Degesch mit zu benennen, die
für den Raub des Zahngoldes der NS-Opfer und für Lieferung
von Zyklon B, dem Gas, mit dem Millionen umgebracht wurden,
verantwortlich waren. Und Siku-Spielzeugautos befinden sich in fast
allen Kinderzimmern. Und Haribo macht nicht nur Kinder froh, sondern
der Name steht – wie bei Siku – für Firmen, die nie
einen Cent für die Entschädigung ihrer Zwangsarbeiter gezahlt
haben. Und BMW ist in Händen der Quandtfamilie, die sich ebenfalls
nicht an der Entschädigung beteiligt hat. Es geht um
Aufklärung im Alltag und um mehr Nachdenklichkeit und Wachsamkeit. Sander, Ulrich (Hg.): Von Arisierung bis Zwangsarbeit. Verbrechen der Wirtschaft an Rhein und Ruhr 1933 bis 1945, Köln: PapyRossa Verlag 2012, 347 S., 18 s/w-Abb., ISBN 978-3-89438-489-0, 16,90 Euro. Zu beziehen bei nrw@vvn-bda.de. Aus: antifa, Berlin, Juli/August 2010 |