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Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes
Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten

Landesvereinigung NRW

 

28.06.2012

Stadt Lüdenscheid verzögert Nutzung von Zwangsarbeiter-Biographien

Forschungsergebnis blieb unter Verschluss

Dieter Saal, langjähriger ehemaliger Stadtarchivar von Lüdenscheid, hat gegen die Verantwortlichen der Stadt Lüdenscheid schwere Vorwürfe erhoben, da diese die Forschungsergebnisse zur Situation der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter in Lüdenscheid nicht veröffentlicht haben. Dies war vor zehn Jahren angekündigt worden. Die Ergebnisse des einzigartigen Projekts, das rund 7.500 Kurzbiographien umfasste sollten - so war einst beschlossen, aber nie verwirklicht worden -, der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden, um so auf das bedrückende Schicksal der NS-Opfer hinzuweisen und diese zu ehren.

Der Leiter des Stadtarchivs Lüdenscheid, Dieter Saal, erreichte in seiner Eigenschaft als Geschäftsführer des Heimatvereins Lüdenscheid, dass dieser im Stadtarchiv Lüdenscheid eine Forschungsstelle Zwangsarbeit eingerichtet hatte. Hierbei wurde er von der Intention geleitet, dass die Schicksale der Frauen und Männer erforscht und dauerhaft dokumentiert wurden, die in der Stadt Lüdenscheid und im ehemaligen Amt Lüdenscheid in der Zeit von 1939-1945, während des Zweiten Weltkrieges, Zwangsarbeit verrichten mussten. Diese Forschungen sollten gleichfalls als Grundlage dazu dienen, damit diesen geschundenen Menschen der amtliche Nachweis erbracht werden konnte, damit diese eine von der „Stiftung Erinnerung, Verantwortung, Zukunft“ zu leistende „Entschädigung“ erhalten konnten, obwohl deren Leiden nicht zu „entschädigen“ ist. Hierzu konnte auf Betreiben von Dieter Saal der ihm bekannte Dortmunder Journalist und Publizist Ulrich Sander, Bundessprecher der VVN-BdA, gewonnen werden, einen überregional bekannten, anerkannten und ausgewiesenen Fachmann auch auf dem Gebiet der Zwangsarbeit. Sander verfügte nicht nur über hervorragende Fachkompetenz, sondern auch über eine außerordentlich große menschliche Kompetenz. Es gelang, auch dank des engagierten Einsatzes eines Arbeitsvermittlers des Arbeitsamtes Lüdenscheid, Ulrich Sander für diese AB-Maßnahme zu gewinnen und ihn mit dieser Maßnahme zu betrauen, welche letztlich vom Mai 2000 bis Dezember 2001 seitens der Arbeitsverwaltung bewilligt wurde. Hierbei handelte es sich, und das muss hervorgehoben werden, um ein in Deutschland einzigartiges Projekt. Ulrich Sander wertete die im Stadtarchiv Lüdenscheid vorhandenen Einwohnermelderegister aus, ebenso die im Stadtarchiv Lüdenscheid vorliegenden Akten des Städtischen Krankenhauses und des Amtes Lüdenscheid. Hinzu kamen Akten des Versicherungsamtes der Stadt Lüdenscheid, Karteien aus dem Archiv des Märkischen Kreises in Altena und Unterlagen aus Lüdenscheider Firmen. Von insgesamt 7.462 Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern konnte Sander Kurzbiographien erstellen. Herkunftsländer waren: UdSSR (43,5 %), Polen (17.3 %), Frankreich (10,8 %), Italien (9,6 %), Niederlande, Belgien (5,2 %), Jugoslawien (4,3 %), Tschechoslowakei (1,8 %). Je unter 0,25 % waren die Länder Bulgarien, Dänemark, Luxemburg, Norwegen, Rumänien, Spanien, Türkei, Ungarn und Staatenlose. Der Anteil der Frauen belief sich auf 37,5 %, derjenige der Männer auf 62,5 %. Das durchschnittliche Alter betrug am Tag der Ankunft 23 Jahre, die durchschnittliche Aufenthaltsdauer belief sich auf 23 Monate. Dank der Forschungen von Sander, die elektronisch vorlagen, konnten vom Stadtarchiv Lüdenscheid schnell und problemlos die erbetenen Zwangsarbeitsnachweise ausgestellt werden. Ulrich Sander hat über seine Forschungsarbeit detailliert Tagebuch geführt. Hierin schreibt er am 19. Dezember 2001: „Die Dokumentation, die im Rahmen des Projektes „Forschungsarbeit Zwangsarbeit“ des Heimatvereins Lüdenscheid geschaffen wurde, soll als Datenbank für wissenschaftliche Zwecke im Rathaus und im Museum, aber auch extern einsehbar sein bzw. wissenschaftlichen Einrichtungen zur Verfügung stehen. Und schließlich soll sie der Erinnerung an Menschen dienen, die zeitweise in unserer Mitte und in unserer Heimat lebten, denen wir Deutsche Unrecht angetan haben und in deren Schuld wir stehen, denn sie haben unter schwersten Bedingungen Werte geschaffen und bewahrt, die nicht unerheblich den wirtschaftlichen Aufstieg nach 1945 positiv mit beeinflusst haben.“

Die Museen der Stadt Lüdenscheid zeigten am Schicksal der Zwangsarbeiter/innen großes Interesse, wie aus einem Brief von Sander vom Juni 2001 an diejenigen Zwangsarbeiter/innen hervorgeht, welchen vom Stadtarchiv Lüdenscheid deren Zwangsarbeit bestätigt worden ist: „Der Leiter der Lüdenscheider Museen, Herr Dr. Trox, hat noch eine besondere Bitte an Sie. Er möchte mit dem Museum Lüdenscheids auch das Andenken an Sie und Ihre Kameradinnen und Kameraden wach halten. Deshalb sucht er Gegenstände, die an Ihre schwere Zeit in Deutschland erinnern und die im Museum ausgestellt bzw. aufbewahrt werden sollen. Wer hat Fotos, Gegenstände des täglichen Bedarfs, Kleidungsstücke, kleine kunstgewerbliche Gegenstände, Zeichnungen aus jener Zeit? Diese würden wir gern erwerben. Sie sollen würdig der Nachwelt erhalten bleiben. Bitte teilen Sie uns mit, wenn Sie uns helfen können.“

Der Deutsche Städtetag teilte seinen Mitgliedsstädten in einem Schnellbrief vom 30. Juli 2000 mit: „Die Städte sollten in den Bemühungen um eine Aufarbeitung der deutschen Vergangenheit aus der ortsgeschichtlichen Perspektive nicht nachlassen, weiterhin Erinnerungs- und Bildungsarbeit leisten und mit Besuchsprogrammen für Zwangsarbeiter nach dem Vorbild von Städten, die derartige Programme entwickelt und durchgeführt haben, zur Versöhnung beizutragen versuchen. Im Rahmen ihrer Möglichkeiten können die Städte in Einzelfällen sicher auch humanitäre Hilfe leisten.“

Die elektronisch abgespeicherte Zwangsarbeiter-Datenbank wurde im Januar 2002 vom Heimatverein Lüdenscheid an die Museen der Stadt Lüdenscheid weitergeleitet. Sie sollte zum Zwecke der Erinnerungs- und Bildungsarbeit aufbereitet werden. Und was ist nach mehr als 10 Jahren mit dieser Datenbank geschehen? Nichts! Hieran hat der inzwischen pensionierte Stadtarchivar Dieter Saal den nunmehrigen Geschichts- und Heimatverein erinnert, war es doch der vormalige Heimatverein Lüdenscheid, der das Forschungsprojekt über die Zwangsarbeit in Lüdenscheid in die Wege geleitet hat und der ein Eigeninteresse daran haben müsste, was die Museen der Stadt Lüdenscheid aus den Forschungsergebnissen machen. Eine Antwort erhielt Saal nicht. Daneben hat Saal auch Anregungen, Anfragen und Eingaben zu weiteren Themenbereichen, die er aus seiner fachlichen Sicht für die Erforschung und Darstellung der Lüdenscheider Stadtgeschichte für wichtig erachtet, an den Geschichts- und Heimatverein gerichtet und an Antworten erinnert. Hierzu nahm Dr. Dietmar Simon, der Vorsitzende des Geschichts- und Heimatvereins Lüdenscheid (GHV), in seinem Schreiben vom 3. Mai 2012 wie folgt „abschließend Stellung“: „... so dass der Vorstand des GHV schon vor längerer Zeit beschlossen hat, nicht mehr auf Anfragen, Anregungen und Eingaben Deinerseits zu reagieren...“ Das Verhalten des GHV Lüdenscheid, aber auch der Museen der Stadt Lüdenscheid ist skandalös und im Blick auf das Schicksal der Zwangsarbeiter/innen eine eklatante Missachtung ihrer Menschenwürde, die nach Artikel 1 (1) unserer Verfassung (Grundgesetz) „unantastbar“ und die „zu achten und zu schützen ... Verpflichtung aller staatlichen Gewalt (ist)“. Es ist die Menschenwürde, an der sich sämtliche Artikel unserer Verfassung orientieren. Erstmals in der deutschen Verfassungsgeschichte wurde zur unbedingten Geltung der Schutz der Menschenwürde sittliches Leitprinzip des Grundgesetzes.