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Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes
Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten

Landesvereinigung NRW

 

11.09.2011

"Den Neonazismus und den Krieg zu bekämpfen, dass sind wir dem Andenken des Widerstandes schuldig“

VVN-BdA-Bundessprecher Ulrich Sander, 11. 9. 2011, Bochum, Gedenktag für die Opfer des Faschismus

Nicht nur in Berlin, auch in Bochum ist der zweite Septembersonntag in jedem Jahr das Datum des Gedenkens und Erinnerns an die Opfer des Naziregimes und der Würdigung des Widerstandes. Auch in diesem Jahr rief die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschisten (VVN-BdA), Kreis Bochum, dazu auf, besonders der von den Nazis ermordeten Widerstandskämpfer zu gedenken. Die Kranzniederlegung und Gedenkveranstaltung fand auf dem Friedhof Freigrafendamm in Bochum-Altenbochum statt, und zwar auf dem Ehrenrundplatz am dortigen Denkmal. Aus einer Presseerklärung der VVN-BdA: „Bei Widerstand gegen die Faschisten fällt vielen Mitbürgern nur Stauffenberg und sein gescheitertes Hitlerattentat ein. In Wahrheit gab es aber überall Widerstand, auch hier in Bochum gab es mehrere Widerstandsgruppen. Anstatt stolz auf diesen Widerstand zu sein, wurde er in der BRD von Anfang an kleingeredet und/oder verschwiegen. Auf dem Friedhof Freigrafendamm gibt es eine der wenigen Gedenkstätten für diese im allgemeinen Bewusstsein vergessenen Widerstandskämpfer. Das Denkmal auf dem Ehrenrundplatz nennt namentlich die Bochumer Widerstandskämpfer Friedrich Hömberg, Josef Langner, Bernhard Nast, Moritz Pöppe, Johann Schmidtfranz, Wilhelm Schpenk und Wilhelm Thiesbürger. Alle wurden 1943/44 in Konzentrationslagern ermordet. Dieser Widerstand darf nicht vergessen werden, gerade angesichts der aktuellen Bedrohung durch die Faschisten, wie sie am 3.9.  wieder in Dortmund erlebbar war“ Der Bundessprecher der VVN-BdA Ulrich Sander sprach auf der Gedenkveranstaltung der VVN-BdA. Den Widerstand nicht zu vergessen, sondern in Erinnerung erhalten, sei Aufgabe der Antifaschisten, nachdem auch im Ruhrgebiet mit der Abschaffung der Dauerausstellungen „Widerstand und Verfolgung“ in Essen und Oberhausen bedenkliche Zeichen gesetzt wurden. Sander hielt diese Ansprache:

Liebe Freundinnen und Freunde!

wir gedenken heute

  • der 225 000 deutschen Frauen und Männer, die allein bis zu Kriegsbeginn von der Nazi-Justiz zu 600 000 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt wurden und der bis zu diesem Zeitpunkt in 86 Massenprozessen angeklagten Mitglieder demokratischer Widerstandsgruppen.

Wir gedenken

  • der 15 896 Opfer der NS-Justiz, an denen in der Zeit von 1940 bis 1945 – nach einer geheimen Mitteilung des damaligen Ministers Thierack – die Todesstrafe vollzogen wurde und der 6000 deutschen Soldaten, die im gleichen Zeitraum nach dem Militärstrafrecht zum Tode verurteilt und hingerichtet wurden.
  • der von den Nationalsozialisten ermordeten 6 093 000 jüdischen Kinder, Frauen und Männer – es waren dies 73,4 Prozent der 1938 in Europa lebenden Juden.
  • der 250 000 nichtjüdischen Häftlinge, die zwischen 1933 und 1945 in den deutschen Konzentrationslagern ihr Leben lassen mußten.
  • derer, die im weiteren Sinne Opfer der Hitlerschen Kriegspolitik geworden sind, der getöteten Soldaten, der Vermißten, derer die durch Bombenangriffe ums Leben kamen.
  • der 54 800 000 Menschen, die in der Zeit von 1939 bis 1945 in dem von Hitler und den deutschen Militaristen entfesselten Krieg umkamen.

Und wir gedenken der unzähligen Opfer in den hunderten Dörfern z.B. in Südeuropa, die von SS- und Gebirgstruppen ausgelöscht wurden mit vielen tausend Menschen darin. Morgen wird in Den Haag der Prozess beginnen – nicht etwa gegen die Täter, sondern die Bundesregierung ist so dreist gegen Italien zu klagen, weil das höchste Gericht dieses Landes es gewagt hatte, Deutschland zur Rechenschaft zu ziehen und Entschädigung zuzusprechen den Hinterbliebenen in Griechenland und Italien.

Heute wissen wir – und viele haben es schon früher immer wieder betont – daß das Verhängnis nicht am 30. Januar 1933 begann und am 8. Mai 1945 endete. Heute wissen wir wie ungeheuer groß die Mitschuld der deutschen Wirtschaft an Faschismus und Krieg, wie groß ihre Beute war. Zehn Millionen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter haben bis 1945 für dieses Land geschuftet, viele kamen ums Leben. Sie erwirtschafteten einen Profit, der sich bis 1999 auf über 100 Milliarden Mark verzinste. Nur fünf Milliarden Euro haben die Betriebe und der deutsche Staat davon zurückgezahlt.

Wir wissen aus einer Enthüllung von vor zehn Jahren auch dies: Die Generäle der Reichswehr planten schon ab 1925 den großen Völkermord, die Verbrechen der Wehrmacht wurden schon damals konzipiert: "Hemmungen irgendwelcher Art darf es nicht geben ... Die Meinung der Welt gilt wenig, wenn die Befreiung winkt ... Ein auf das Äußerste zu steigender Hass darf vor keinem Mittel der Sabotage, des Mordes und der Verseuchung zurückschrecken – Gas und Rauch, Bakterien, elektrische Fernlenkung und Zündung, Aviatik (Bomber)" gehören dazu. Das schrieben sie in einen Plan hinein, den sie Hitler 1933 vorlegen konnten, und der dann bis zum 1. September 1939 dazu führte, daß die benötigten 102 Divisionen mit bis zu drei Millionen Mann bereitstanden und Hitler binnen sechs Jahren die stärkste Landmacht des Kontinents bilden konnte.

Etliche der Reichswehroffiziere, die derartiges allergeheimst aufgeschrieben hatten, gehörten zu jenen, die Hitler 1933 zur Macht verhalfen. Als er am 3. Februar 1933 die Befehlshaber von Heer und Marine im Bendlerblock aufsuchte, sprach er mit ihnen über vieles, was sie selber längst im Sinne hatten: die "Ausrottung des Marxismus", die Umwandlung der Ergebnisse des Ersten Weltkrieges, die Hochrüstung zugunsten der Industrie und die Stärkung des "Wehrwillens" - "mit allen Mitteln"., die Erringung von neuem Lebensraum im Osten.

Nach der Kapitulation 1945 wurden die Hitlergeneräle bald wieder planend tätig. 1955 wurde die neue Wehrmacht aufgestellt, nun Bundeswehr genannt. Die Hitlergeneräle machten unmissverständlich klar, dass sie am Aufbau der Bundeswehr nur mitwirken würden, wenn folgende Forderungen erfüllt würden: "Freilassung der als ‚Kriegsverbrecher’ verurteilten Deutschen", "Einstellung jeder Diffamierung des deutschen Soldaten" und "Maßnahmen zur Umstellung der öffentlichen Meinung im In- und Ausland ... Ehrenerklärung für den deutschen Soldaten von Seiten der Bundesregierung und der Volksvertretung. Die Bedingungen wurden allesamt erfüllt.

Auch viele Jahre später setzten sich die Generäle immer wieder durch: Das Bundesverfassungsgericht ermächtigte daher die Militärs, mit der Zustimmung der einfachen Regierungsmehrheit des Bundestags Kriege zu führen und sich nicht mehr auf den Verteidigungsauftrag der Verfassung zu beschränken. Das war und ist Verfassungsbruch. Die Verteidigungspolitischen Richtlinien ab 1992 nennen als "deutsches Interesse" die "Aufrechterhaltung des freien Welthandels und des ungehinderten Zugangs zu Märkten und Rohstoffen in aller Welt". Der höchste General, Klaus Naumann, sagte damals, es gäbe nur noch zwei Währungen in der Welt, wirtschaftliche Interessen und militärische Macht, sie durchzusetzen.

Seit 1999 ist unser Land wieder ein Krieg führendes Land. Der Schwur von 1945 wurde gebrochen. Noch immer stehen wir im Krieg. Deutsche Kampfeinheiten stehen in Afghanistan, auf dem Balkan, am Horn von Afrika, im Mittelmeer. Sie stehen dort, weil die Regierung und die Militärs es wollten, wie der SPIEGEL in der aktuellen Ausgabe nachweist. Man habe die deutschen Regierenden und Militärs nicht von außen - NATO; USA - gezwungen mitzumachen, sie haben es gewollt. Ich möchte deshalb einen Satz aussprechen, der von Bert Brecht stammt: „Mögen andere von ihrer Schande sprechen, ich spreche von der meinen.“

Es sterben täglich Unschuldige; besonders die Kinder leiden in aller Welt unter den Kriegen, den Bomben, dem Hunger, dem Frieden der wie Krieg ist. Brecht sagte auch: „Ihr Friede und ihr Krieg sind wie Wind und Sturm.“ Auch wo nicht geschossen wird, ist Krieg, Krieg gegen die Kinder. In der Welt verhungern jeden Tag 18.000 Kleinkinder. Das sind 6,6 Millionen im Jahr.

Wir verlangen die Lösung aller Konflikte mit friedlichen Mitteln. Wir haben der Haltung der deutschen Regierung im UN-Sicherheitsrat zugestimmt, aber wir bekräftigten zugleich die Forderung: Nie wieder darf Krieg von deutschem Boden ausgehen. Deshalb forderten wir auch, jede Unterstützung des Krieges durch Deutschland – mittels Überflugrechten, Spürpanzern, AWACS-Flügen, Drohnen, Marineschiffen im Mittelmeer und Rotem Meer – zu unterlassen.

Aber diese Unterstützung wurde fortgesetzt. Das ist eine Schande.

Wir leben in einem Land, das eine im Großen und Ganzen gute Verfassung hat. Die Forderung nach Frieden schlug sich auch im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland nieder. Der Krieg wurde ausdrücklich geächtet. Es heißt im Artikel 26 des Grundgesetzes: „Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten, sind verfassungswidrig. Sie sind unter Strafe zu stellen.“ Aber es ist eine Schande, daß diese Verfassung nicht angewendet wird.

Am Anfang der neuen Kriege der Deutschen stand im Jahr 1999 die ungeheurliche Feststellung des Außenministers Josef Fischer: Wir haben nicht nur gesagt Nie wieder Krieg, sondern auch Nie wieder Auschwitz – und weil neue Auschwitz’ drohen, müssen man Krieg führen. Auch den Krieg in Afghanistan. Der Terroranschlag vom 11. September 2001 wurde dann auch mit einem neuen Auschwitz verglichen – sein Ursprung, Ablauf und Täterschaft sind bis heute nicht vollständig geklärt. Wir trauern um die Toten der Terroranschläge vom 11. September. Wir trauern aber genauso um die Hunderttausenden Opfer des „Antiterrorkriegs“ Mit diesen untauglichen Mitteln zur Bekämpfung des Terrorismus durch Staatsterrorismus muss endlich Schluss gemacht werden.

Wir gedenken hier heute besonders der Bochumer Widerstandskämpferinnen und Widerstandskämpfer. An sie wurde ich erinnert, als uns als VVN-BdA zur Vorbereitung des Naziaufmarsches von Dortmund Morddrohungen zukamen. Ergänzt wurde die Drohung per E-Mail mit einem Bild eines jungen „jewish“ Häftlings. Später schrieben die Nazis an unser Haus: „Buchenwald vergisst nicht“. Was hatte das zu bedeuten? Wir fanden heraus, dass der Abgebildete ein politischer jüdischer Häftling, der 17jährige Schlosserlehrling David Jakubovics aus Ungarn war, der 1944 nach Auschwitz gebracht wurde, dann aber nach Buchenwald kam. Im Juni 1944 suchte Oberingenieur Fritz H. vom Bochumer Verein das KZ Buchenwald auf, um geeignete Häftlinge für seinen NS-Musterrüstungsbetrieb, der heute zu Thyssen-Krupp gehört, abzuholen. Der junge David Jakubovics kam nach Bochum, musste furchtbar schuften. Sicherlich halfen ihm deutsche Widerstandskämpfer, um zu überleben. Er kam im Frühjahr 1945 noch einmal nach Buchenwald zurück, wurde dann nach Dachau deportiert und dann dort im April 1945 von den US-Truppen befreit. Wenn die Nazis also meinten, es werde uns wie David Jakubovics ergehen, so haben sie nicht die Rolle des Widerstandes und der alliierten Befreier bedacht. Man konnte David Jakubovics nicht klein kriegen, er hat überlebt, vielleicht lebt er ja noch? Und die Nazis werden auch jetzt nicht durchkommen. Wir haben sie nicht durchkommen lassen, als sie am letzten Wochenende mal wieder Dortmund zu „ihrer“ Stadt machen wollten. Wir hätten sie gar vertrieben, wenn ihnen die Polizei nicht wieder geholfen hätte. Und wir werden sie letztlich vertreiben. Das sind wir den Ermordeten schuldig, die wir hier ehren.

Wir erinnern daran, dass die Neonazis sich im Krieg befinden – gegen Ausländer und Muslime; sie haben den Massenmord des Rechtsextremisten Breivik in Norwegen begrüßt und selbst schon rund 150 ihrer Opfer in Deutschland ermordet. Es ist lächerlich, wenn wir derzeit zur Gewaltfreiheit aufgerufen werden von Leuten, die die Versammlungsfreiheit der Nazis schützen und Kriege in aller Welt führen. Wir verweigern diesen Politikern den Gehorsam. Wir fragen: Wo bleibt ihre Gewaltfreiheit?

Dortmund am vergangenen Wochenende – das war nicht nur beklemmend, weil wir wieder mal von der Polizei gehindert wurden, die Nazis zu vertreiben. Es war auch andererseits Mut machend. Noch nie gab es eine solche Gemeinsamkeit von jung und alt, von verschiedenen politischen Strömungen, alle geeint im Willcn, die Nazis zu vertreiben. Und viele auch gewillt, den Nazis nicht den Antikriegstag zu überlassen. Besonders die Gewerkschaften sind endlich wieder zum Antikriegstag auf den richtigen Kurs gegangen.

Seit 53 Jahren gehöre ich der Gewerkschaft an. Mit dem Friedenskampf der Gewerkschaften ging es immer auf und ab. Ab immer dann, wenn sich die Gewerkschaften dem Regierungskurs anschloss. Sehr froh war ich am Vorabend des 1. September, als ich dies in meiner Mailbox fand:

„Der DGB NRW fordert die Politik zu einem Kurswechsel in der Friedens- und Sicherheitspolitik auf. Zehn Jahre nach Beginn des Afghanistankrieges ist die Situation für die Menschen schlimmer denn je, täglich erreichen uns Meldungen über Opfer der Kampfhandlungen. Der Bundeswehreinsatz in Afghanistan muss daher so schnell wie möglich beendet und stattdessen die Zivilgesellschaft stärker unterstützt werden.

Die Neuausrichtung der Bundeswehr zur Interventionsarmee lehnen wir entschieden ab. Um den zahlreichen Krisenherden auf der Welt zu begegnen, müssen wir vielmehr auf zivile politische Konfliktlösungen und auf humanitäre Hilfe setzen. Dafür muss der Rüstungsetat verkleinert und die zivile Hilfe massiv aufgestockt werden.

Wir fordern die Bundesregierung auf, sich für eine atomwaffenfreie Welt einzusetzen. Noch immer sind über 23.000 Atomwaffen einsatzbereit. Nach wie vor befinden sich auch auf deutschem Boden Atomwaffen. Das Ende der zivilen Nutzung der Atomkraft muss auch das Ende aller Atomwaffen sein.“

Ich meine, es braucht gute Erklärungen des DGB – und eigenes Handeln!

Aber gute Erklärungen sind auch wichtig. Schlimm sind solche Erklärungen eines Wehrtechnischen Arbeitskreises der IG Metall, denen die Leitung der IG Metall nicht sofort widersprach, nämlich dass um der Arbeitsplatze Willen noch mehr gerüstet werden müsse. Ich meine: Jede Mark die mit Rüstung verdient wird, das ist Blutgeld. Jeder Gewerkschafter sollte sich darauf besinnen.

Ich meine, es ist gut, dass die Gewerkschaftsbewegung sich wieder der internationalen Friedensordnung widmet. Aber auch der Tatsache der inneren Militarisierung müssen wir uns zuwenden. Wir müssen daran erinnern, dass im Rathaus und Landratsamt all über all die Bundeswehr Einzug hielt und dort einen Stab der ZMZ, Zivilmilitärische Zusammenarbeit, einrichtete, immer bereit, die Reservisten zum Vorgehen der Bundeswehr im Äußeren und  Inneren, auch zum Streikbruch zusammen zu holen. Reservisten, das sind auch hunderttausende sehr rechte Leute. Oder hat man schon mal von Nazis gehört, die den Kriegsdienst verweigerten?

Wir erinnern auch an die Tatsache, dass die Agentur für Arbeit und das Kreiswehrersatzamt zu Werbezentralen für die Bundeswehr umgewandelt werden. Wir sagen dazu: Bundeswehr raus aus Schulen, Arbeitsagenturen und Rathäusern. Wir sagen: Kein Werben fürs Töten und Sterben!

Der 1. September mahnt: Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus. Von deutschem Boden darf kein Krieg ausgehen.