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Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes
Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten

Landesvereinigung NRW

 

29.06.2011

Auch jetzt gilt: Einen Schlussstrich darf es nicht geben

Für eine neue Initiative und eine zusätzliche finanzielle Anstrengung von Wirtschaft, Staat und Gesellschaft zugunsten der Zwangsarbeiter

Ende Mai 2011 war es zehn Jahre her, da die Entschädigungsfrage für Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter eine Regelung fand. Dieser damals heftig umstrittene Vorgang ist heute schon wieder fast vergessen. Die Verbrechen der deutschen Wirtschaft, verübt an ca. 15 Millionen Verschleppten und Versklavten, wurden damals kaum, heute fast gar nicht thematisiert –ja sie wurden wieder tabuisiert. Wer im Zusammenhang mit der Erinnerungsarbeit auch Kapitalismuskritik übt, die Schuld der ökonomischen Eliten thematisiert, sieht sich schnell als Extremist abgestempelt, kann womöglich in Verfassungsschutzberichten auftauchen. Dass vor zehn Jahren sich nur zwei Prozent der Wirtschaft an den Entschädigungsleistungen, die viel zu gering waren, beteiligte, das belegt bis heute jene Ängstlichkeit in „der Wirtschaft“, die sich in der Furcht, das leidige Thema könnte wieder hochgespült werden und neue – berechtigte! - Forderungen auslösen, ausdrückt. Jetzt, um den 70. Jahrestag des Überfalls auf die UdSSR herum, wird zudem an die ausgebliebene Entschädigung für Kriegsgefangene erinnert.

Somit war es sensationell, was sich in wenigen Medien am Montag, 28. Juni 2010 widerspiegelte: Unter der Überschrift „Chef des Gesamtverbandes der Deutschen Versicherungswirtschaft ruft zu erneuter Initiative für überlebende NS-Verfolgte auf“ berichtete die Süddeutsche Zeitung über eine bemerkenswerte Rede, die verdient festgehalten zu werden, damit sie nicht ohne Konsequenz bleibt.

Über die Rede des Vertreters der Versicherungswirtschaft, ferner über einen Dankesbrief von Ulla Jelpke MdB an die VVN-BdA und über eine Bilanz der Entwicklung, gezogen von Prof. Thomas Kuczynski soll hier informiert werden.

Auch jetzt gilt: Einen Schlussstrich darf es nicht geben

Für eine neue Initiative und eine zusätzliche finanzielle Anstrengung von Wirtschaft, Staat und Gesellschaft zugunsten der Zwangsarbeiter

Ende Mai 2011 war es zehn Jahre her, da die Entschädigungsfrage für Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter eine Regelung fand. Dieser damals heftig umstrittene Vorgang ist heute schon wieder fast vergessen. Die Verbrechen der deutschen Wirtschaft, verübt an ca. 15 Millionen Verschleppten und Versklavten, wurden damals kaum, heute fast gar nicht thematisiert -ja sie wurden wieder tabuisiert. Wer im Zusammenhang mit der Erinnerungsarbeit auch Kapitalismuskritik übt, die Schuld der ökonomischen Eliten thematisiert, sieht sich schnell als Extremist abgestempelt, kann womöglich in Verfassungsschutzberichten auftauchen. Dass vor zehn Jahren sich nur zwei Prozent der Wirtschaft an den Entschädigungsleistungen, die viel zu gering waren, beteiligte, das belegt bis heute jene Ängstlichkeit in "der Wirtschaft", die sich in der Furcht, das leidige Thema könnte wieder hochgespült werden und neue - berechtigte! - Forderungen auslösen, ausdrückt. Jetzt, um den 70. Jahrestag des Überfalls auf die UdSSR herum, wird zudem an die ausgebliebene Entschädigung für Kriegsgefangene erinnert.

Somit war es sensationell, was sich in wenigen Medien am Montag, 28. Juni 2010 widerspiegelte: Unter der Überschrift "Chef des Gesamtverbandes der Deutschen Versicherungswirtschaft ruft zu erneuter Initiative für überlebende NS-Verfolgte auf" berichtete die Süddeutsche Zeitung über eine bemerkenswerte Rede, die verdient festgehalten zu werden, damit sie nicht konsequenzlos bleibt.

Der Bericht über die Rede. "Der stellvertretende Vorsitzende des Kuratoriums der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft", Dr. Jörg Freiherr Frank von Fürstenwerth, der zugleich Vorsitzender der Hauptgeschäftsführung und geschäftsführendes Präsidiumsmitglied des Gesamtverbandes der Deutschen Versicherungswirtschaft e.V. ist, hat anlässlich des Festaktes zum zehnjährigen bestehen der Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" eine viel beachtete Rede gehalten. Dr. von Fürstenwerth führte u.a. aus:

"Meine große Sorge ist aber, dass all das Erreichte gefährdet ist, wenn es nicht gelingt, in gemeinsamer Verantwortung von Wirtschaft, Gesellschaft und Politik den letzten Überlebenden der Shoah, den letzten Überlebenden von KZ-Haft und anderen unmenschlichen Verbrechen es zu ermöglichen, ihre letzten Lebensjahre in Würde zu verbringen. Und wir müssen dies schnell tun. Das Zeitfenster, ein letztes Mal die Not der Überlebenden zu lindern, ihnen ein letztes Mal ein kleines Stück mehr an Gerechtigkeit zukommen zu lassen, ist sehr, sehr eng. (…) Warum sollte uns angesichts der aktuellen Not vieler Opfer nicht noch einmal solch ein gemeinsames Einstehen für unsere historische Verantwortung gelingen?

Wir brauchen eine neue Initiative, eine zusätzliche finanzielle Anstrengung von Wirtschaft, Staat und Gesellschaft, ein solches Projekt zu stemmen; auf freiwilliger Basis, aufgrund unserer inneren Überzeugung, Verantwortung zu übernehmen. Die Stiftung kann dies aus den ihr verbliebenen Mitteln nicht leisten, aber sie könnte, aufbauend auf ihren jetzigen Programmen, später bei der Umsetzung helfen."

Dazu wurde von einem Stiftungsmitglied angemerkt: "Der Bundesverband Information & Beratung für NS-Verfolgte e.V., dem auch die VVN-BdA angehört, unterstützt Herrn Dr. von Fürstenwerth nachdrücklich in seinen Bemühungen, den Überlebenden des Nazi-Terrors ein Alt werden in Würde zu ermöglichen und wird alles in seiner Macht stehende dafür tun, dass diese Initiative schnell erfolgreich ist."

Noch ein Blick zurück

Ulrich Sander gehörte vor über zehn Jahren zur Verhandlungs- und Aktionsgruppegruppe der Opferverbände, als es um die Entschädigungsfrage ging.

Ulla Jelpke MdB vom Stiftungskuratorium schrieb ihm damals (30. Mai 2001):

"Es ist mir in diesem Augenblick ein persönliches Bedürfnis, mich bei allen Freundinnen und Freunden, bei allen Mitkämpferinnen und Mitkämpfern zu bedanken, ohne deren langen und beharrlichen Einsatz wir nie so weit gekommen wären. Ich nenne hier - stellvertretend für viele - Alfred Hausser und seine MitstreiterInnen in der Interessengemeinschaft ehemaliger Zwangsarbeiter unter dem NS-Regime, Kurt Goldstein vom Auschwitz-Komitee, Ulrich Sander und andere in der VVN, Hans-Jochen Vogel und den Verein gegen das Vergessen, Lothar Evers, Andreas Plake und die Beratungsstelle für NS-Verfolgte in Köln, Dr. Karl Brozik von der Jewish Claims Conference, Bartosz Jalowiecki von der polnischen Partnerstiftung, Jiri Sitler aus der Tschechischen Republik.

Manche, die mir wichtig waren und ohne deren mühevollen, langen Kampf wir nie so weit gekommen wären, sind inzwischen verstorben, zum Beispiel Hans Frankenthal, der Auschwitz überlebte, aber wenige Monate vor Inkrafttreten des Entschädigungsgesetzes verstarb. 60.000 Überlebende sind nach Auskunft der Opferorganisationen während des monatelangen Gezerres um die Rechtssicherheit für die Wirtschaft seit Verabschiedung des Entschädigungsgesetzes verstorben. 200 weitere sterben jeden Tag.

Ich bedanke mich auch bei den vielen Initiativen, zum Beispiel dem Bündnis, das die Protestaktionen vor dem Haus der deutschen Wirtschaft in Berlin in den letzten Wochen organisiert hat, bei HistorikerInnen, Antifa-Gruppen, Gewerkschaften und anderen, die geholfen haben, die Erinnerung an die Täter und ihre Opfer wieder zu wecken und wach zu halten.

Ihnen allen möchte ich danken. Für ihre Hilfe, für ihre kritischen Anregungen, für ihre Anregungen und Forderungen auch an meine parlamentarische Arbeit. Wir haben jetzt gemeinsam ein erstes Ziel erreicht. Die Zahlungen können beginnen.

Vieles bleibt jetzt noch zu tun. Alles Geld, auch die Zinsen der Wirtschaft, gehören den Opfern. Die Antragsfristen für die Opfer müssen verlängert werden, die Hilfe für sie bei der Nachweisbeschaffung organisiert werden. Wenn sie keine Belege finden, muß geklärt werden, welche anderen Möglichkeiten der Glaubhaftmachung für ihr Leid sie haben.

Schon jetzt haben sich mehr Opfer gemeldet, als bei Verabschiedung des Gesetzes erwartet wurde. Das wirft neue Probleme auf. Für die Überlebenden im sogenannten "Rest der Welt", also nichtjüdische Opfer außerhalb Osteuropas, reicht mit großer Wahrscheinlichkeit der zur Verfügung gestellte Beitrag nicht aus. Dann muß die Entschädigungssumme erhöht werden.

Trotzdem werden am Ende viele Überlebende vermutlich überhaupt kein Geld erhalten. Weil sie keine Belege finden und auch keine Zeugen mehr da sind. Weil sie nicht deportiert wurden, das Gesetz aber Deportation verlangt, damit überhaupt eine Zahlung erfolgt. Oder weil sie irgendwo in dem bürokratischen Prozeß der Antragstellung, Nachweisbeschaffung usw. nicht mehr weiter kommen.

Ihnen allen schulden wir es, weiter zu kämpfen. Einen Schlußstrich darf es nicht geben. Weder finanziell, noch moralisch, noch politisch.

Gegen jeden Schlussstrich wendet sich auch - damals wir heute - Prof. Thomas Kuczynski.

Er berichtet in einer Rede Mitte Mai über das Ringen vor zehn Jahren und über die Aufgaben die blieben.

Die Rede sei hier teilweise dokumentiert.

Junge Welt, 12.05.2011 / Analyse / Seite 10

Ablaß zu Ausverkaufspreisen

Entschädigungsansprüche für Zwangsarbeit im "Dritten Reich".

Aus der Rede auf der Festveranstaltung "Zehn Jahre Gedenkstätte Ahrensbök" am 8. Mai 2011.

Von Thomas Kuczynski

… Wir dokumentieren die Rede, die der Wirtschaftswissenschaftler Prof. Thomas Kuczynski dort zum Thema Zwangsarbeiterentschädigung gehalten hat, deren juristische Regelung sich in diesen Tagen ebenfalls zum zehnten Mal jährt.

Vor zehn Jahren auch wurde ein juristischer Schlußstrich unter das Thema

Zwangsarbeit gezogen und damit die erregte Debatte zu den Entschädigungszahlungen an die im Zweiten Weltkrieg nach Deutschland verschleppten Zwangsarbeitskräfte beendet. An dieser Debatte war ich insofern beteiligt, als ich damals in einem Gutachten nachgewiesen hatte, was den ehemaligen Zwangsarbeitskräften vorenthalten worden war und was ihnen dementsprechend als Entschädigung zustünde.

Diese Beteiligung war wohl auch Ursache dafür, daß ich die ehrenvolle Anfrage erhalten hatte, ob ich am heutigen Tage einen Festvortrag zum Thema "Ablaß zu Ausverkaufspreisen. Entschädigungsansprüche für Zwangsarbeit im ‚Dritten Reich'" halten könne. Für diese Einladung und für die Gelegenheit, zu dem von den Veranstaltern formulierten Vortragsthema sprechen zu dürfen, möchte ich Ihnen sehr herzlich danken.

In dem Gutachten hatte ich nachgewiesen, daß den ehemaligen Zwangsarbeitskräften Löhne in Höhe von über sechzehn Milliarden Reichsmark vorenthalten worden waren, also umgerechnet rund 180 Milliarden D-Mark bzw. heutzutage 90 Milliarden Euro. Ich kann diesen Nachweis hier nicht in allen Einzelheiten referieren. Jedoch können Sie das und manches zu den Hintergründen der Verhandlungen in einem kleinen Büchlein nachlesen (Thomas Kuczynski, Brosamen vom Herrentisch. Hintergründe der Entschädigungszahlungen an die im Zweiten Weltkrieg nach Deutschland).

Der Ausgangspunkt des Gutachtens war im Grunde der gleiche wie der von Hans Frankenthal, der als KZ-Häftling den Aufbau des Buna-Werkes der IG Farben in Auschwitz überlebt hatte. Er hatte als Grundforderung bei allen Entschädigungsverhandlungen in Sachen Zwangsarbeit formuliert: "Den ehemaligen Sklavenarbeitern steht zumindest der bis heute nicht ausbezahlte Arbeitslohn zu." Zumindest, denn bei einer so formulierten Forderung wird von all dem abgesehen, was nach bürgerlichem Recht als Schmerzensgeld bezeichnet wird.

Die von Frankenthal formulierte Mindestforderung ist einleuchtend und ihre Basis so einfach, daß sie all jenen, die Löhne oder Gehälter empfangen bzw. zahlen müssen, verständlich sein sollte: Was die Zwangsarbeitskräfte damals zu wenig ausbezahlt bekommen haben, muß ihnen jetzt nachgezahlt werden. So hatte es auch der Jurist Burkhard Heß 1996 formuliert: "[…] maßgebend ist der Lohn, den ein deutscher Arbeiter an der Stelle des ausländischen Zwangsarbeiters verdient hätte."

Was ich damals nicht wußte, ist, daß diese Forderung schon fünfzig Jahre früher erhoben worden war, und zwar von einem Mann, der damals gar nicht so weit weg von hier wohnte, nämlich in Lübeck, also in Schleswig-Holstein. Norbert Wollheim, damals Vorsitzender des Verbandes der Jüdischen Gemeinden Nordwestdeutschlands, hatte als KZ-Häftling Nr. 107984 fast zwei Jahre als Schweißer für die IG Farben in Auschwitz-Monowitz gearbeitet und war daher der Meinung, daß die IG ihm den damals nicht gezahlten Lohn schuldig geblieben war, er also zu ihren Gläubigern zählte. Der Streitwert im nach dem Kläger benannten Wollheim-Prozeß wurde auf 10000 D-Mark angesetzt, und diese Summe hatte einen sehr realen Bezug. Wollheim hatte in dem Schriftsatz erstens eine Haftzeit von 22 Monaten und zweitens eine Wochenarbeitszeit von 72 Stunden (also 312 Stunden je Monat) genannt, sich drittens auf den 1950 für gelernte Schweißer gezahlten Stundenlohn (1,40 DM) bezogen und viertens nur für die Zeit ab 1. Juli 1951 Verzugszinsen verlangt. Die Multiplikation der Ausgangsdaten (22 Monate×312 Stunden pro Monat×1,40 DM pro Stunde) ergibt eine ausstehende Lohnsumme von exakt 9609,60 DM, also rund 10000 DM. Ergo hatte Wollheim genau dieselbe Rechnung aufgemacht wie knapp fünfzig Jahre später sein Mithäftling Frankenthal: Den ehemaligen Sklavenarbeitern steht zumindest der bis heute nicht ausbezahlte Arbeitslohn zu.

Dabei war er sich über die seiner Notiz innewohnende Sprengkraft durchaus im klaren, denn er schloß sie mit dem Bemerken ab: "Sollte es gelingen, ein obsiegendes Urteil im Sinne dieser [seiner] Ansprüche gegen die I.G. Farben zu erlangen, so dürfte damit ein wichtiges Präjudiz hinsichtlich aller Ansprüche geschaffen sein, die unterbezahlte Häftlinge gegen ihre früheren Arbeitgeber geltend machen können."

Wie recht Wollheim damit hatte, zeigt die Interpretation des in erster Instanz vom Kläger gewonnenen Prozesses durch die auf Seiten der Industrie argumentierende Presse. Die Wirtschaftszeitung/Deutsche Zeitung hatte nämlich am 11. Juli 1953 unter dem Titel "Wer soll wiedergutmachen? Anmerkungen zu einem Frankfurter Fehlurteil" die Politiker gewarnt: Wenn das Wollheim-Urteil Rechtskraft erhielte und zum Präzedenzfall würde, dann müßte man es auf "vier bis fünf Millionen Kriegsgefangene, Internierte, KZ-Häftlinge und andere Zwangsarbeiter" hochrechnen, woraus sich ein Schadensersatzvolumen von 60 bis 80 Milliarden Mark ergäbe. Ohne diese Rechnung im einzelnen zu analysieren, ist klar: Die deutsche Industrie wußte insgesamt ziemlich genau, welche Beträge sie schuldig geblieben war, um welche Beträge es bei künftigen Entschädigungsverhandlungen gehen würde oder zumindest gehen müßte.

Und wieder offenbart sich eine verblüffende Parallele zu den 1999 (nicht) verhandelten Summen: Wird bei dem 1953 in der Wirtschaftspresse befürchteten Schadensersatzvolumen die seither stattgefundene Geldentwertung berücksichtigt, so wäre 1999 um über 200 Milliarden D-Mark zu verhandeln gewesen. Insofern ist es schon bemerkenswert, wenn der 1999 unmittelbar beteiligte US-Staatssekretär Eizenstat die in meinem Gutachten genannte Summe als "nicht nachvollziehbare Forderung von 180 Milliarden DM" bezeichnet hat, ein Mann übrigens, der zuvor als stellvertretender Finanzminister mit solchen Summen tagtäglich Umgang gehabt hatte.

Vor Verhandlungsbeginn (1998) war von den Opfern als Minimum des Anstands eine Zahlung von 10000 D-Mark pro Kopf bezeichnet worden. Inzwischen ist weitgehend anerkannt, daß die Zahl der während des Krieges auf dem Territorium des "Großdeutschen Reichs" zur Zwangsarbeit verpflichteten Menschen etwa 15 Millionen betrug. Die sich daraus ergebende Gesamtentschädigung wäre also mit 150 Milliarden nicht so sehr verschieden gewesen von den berechneten 180. Von der deutschen Wirtschaft und der deutschen Regierung gezahlt wurden aber schließlich nur etwas mehr als acht Milliarden. Warum?

Ich möchte vor allem zu sechs Aspekten etwas sagen.

Zahlungsunwillige Industrie

Erstens hat niemand versucht, über den Einzelfall hinausgehend, die in den Akten vorhandenen Daten über Beschäftigte und Löhne unter Berücksichtigung der Steuern, Abgaben und sonstigen Abzüge analytisch auszuwerten. Aber für die Firma Daimler-Benz beispielsweise waren all diese Daten seit Jahrzehnten bekannt. Werden sie buchhalterisch zusammengestellt und mit einem entsprechenden Inflationssatz multipliziert, so ergibt sich, daß der Konzern im Jahre 1999 für eine reguläre Entschädigung knapp 16000 D-Mark pro Zwangsarbeitskraft hätte zahlen müssen, insgesamt über 1,2 Milliarden D-Mark. Wer meint, diese Zahlung hätte den Nachfolgekonzern in den Bankrott getrieben oder zumindest Arbeitsplätze gefährdet, möge sich erinnern, daß er im Jahre 1998 einen Gesamtgewinn von über zehn Milliarden DM erzielt hatte. Der Konzern hätte also für eine angemessene Entschädigung weniger als sieben Wochen Gewinn verwenden müssen. Das hätte ihn nicht in den Bankrott getrieben und auch keinen Arbeitsplatz gefährdet, es hätte die Dividende der Aktionäre ein wenig geschmälert und nicht einmal die nächste Großfusion verzögert. Mehr wäre nicht passiert.

Im übrigen ist natürlich - damals wie heute - festzustellen: Wenn an der Jahreswende 1999/2000 im Kampf um die Übernahme eines (!) Konzerns Beträge von schließlich über 400 Milliarden Mark gezahlt worden sind, dann kann gar keine Rede davon sein, daß nicht genügend Geld vorhanden war, um 180 Milliarden an Entschädigungen zu zahlen. Eine solche gemeinsame (!) Zahlung hätte die Firmen, wie am Beispiel Daimler-Benz gesehen, keineswegs in den Ruin getrieben. Gewiß, die 400 Milliarden für Mannesmann wurden für ein hochprofitables Unternehmen gezahlt, an dem einige Millionen Besitzerinnen und Besitzer von Mobiltelefonen hingen. Die Entschädigungen wären an einige Millionen ehemaliger Zwangsarbeitskräfte gegangen, die zwar während des Krieges sehr profitabel waren, nicht mehr jedoch zu Zeiten der Verhandlungen. Das aber war der einzige Unterschied, und insofern hätten die Erben bzw. Rechtsnachfolger der Zwangsarbeitgeber nicht behaupten dürfen, sie könnten nicht zahlen, sondern ihre Behauptung hätte wahrheitsgemäß lauten müssen: Wir wollen nicht zahlen. Alles andere war Heuchelei.

Die Toten zählen nicht

Zweitens sind auf keiner Seite die Toten berücksichtigt worden. Aber die Entschädigungsansprüche waren aus den wirtschaftlichen Resultaten der geleisteten Zwangsarbeit abzuleiten, und zwar unabhängig davon, ob die Anspruchsberechtigten noch am Leben sind oder nicht. Ein anderes Herangehen hätte die Zahlungspflichtigen aus der Verantwortung gerade denen gegenüber entlassen, die nicht zuletzt wegen der ihnen während ihrer Zwangsarbeitszeit in Deutschland zugefügten physischen und psychischen Schäden inzwischen verstorben oder gar schon während dieser Zeit umgekommen waren. Ein anderes Herangehen hätte, um es ganz deutlich zu formulieren, die Zahlungspflichtigen nachträglich dafür belohnt, daß auf dem Wege der "Vernichtung durch Arbeit" viele der Zwangsarbeitskräfte mittelbar und unmittelbar umgebracht worden bzw. an den späteren Folgen schon verstorben sind. Im Gutachten selbst wurde zu einem möglichen Zahlungsmodus vermerkt: Ein sehr großer Prozentsatz der Anspruchsberechtigten ist zwischenzeitlich verstorben. Das ändert aber nichts an der Tatsache, daß durch Zwangsarbeit "erwirtschaftete" Einnahmen und Gewinne prinzipiell als Hehlergewinne zu betrachten und zurückzuzahlen sind. Unseres Erachtens ist diese Seite des Problems nur in der Weise zu lösen, daß die gesamte Entschädigungssumme der von der Bundesregierung vorgeschlagenen Stiftungsinitiative deutscher Unternehmen: Erinnerung, Verantwortung und Zukunft zur Verfügung gestellt wird. Aus dem Fonds Erinnerung und Verantwortung werden die unmittelbar Anspruchsberechtigten entschädigt. Dagegen sollten in die Stiftung Erinnerung und Zukunft nur jene Teile der Entschädigungssumme eingebracht werden, die den verstorbenen Anspruchsberechtigten nicht mehr ausgezahlt werden können. Durch ein solches Vorgehen bliebe überdies der Vorrang des Entschädigungsfonds gegenüber der Stiftung gewahrt; auch wird damit verhindert, daß die Stiftung als "moralische Geste" den Betroffenen gegenüber erscheint, denn sie basiert in der Tat nur auf den nicht mehr direkt auszahlbaren Entschädigungsbeträgen.

Aber die ansonsten auf keiner Gedenkveranstaltung vergessenen Toten, sie spielten bei keiner der miteinander verhandelnden Parteien eine Rolle. Und da von den ehemaligen Zwangsarbeitskräften zum Zeitpunkt der Verhandlungen nur noch jede fünfte am Leben war, reduzierte sich der nicht verhandelte Betrag um achtzig Prozent.

Eine Infamie

Drittens erhielten die außerhalb der Industrie"eingesetzten" Zwangsarbeitskräfte nur ausnahmsweise eine Entschädigung. Ich nenne als Fallbeispiel die polnischen Zwangsarbeitskräfte in der deutschen Landwirtschaft, denn zu dieser Fallgruppe hatte sich der Vertreter der Bundesregierung in besonders infamer Weise geäußert: Nach Auffassung des Grafen Lambsdorff sei es seit Jahrzehnten üblich gewesen, polnische Wanderarbeiter in der ostdeutschen Landwirtschaft zu beschäftigen, so daß von Zwang gar keine Rede sein könne. Das Merkwürdige ist nur: Während 1938 keine 70000 Polen in der deutschen Wirtschaft arbeiteten, darunter auch im Bergbau, in der Bauwirtschaft und anderen Wirtschaftsbereichen, waren Ende September 1940 allein in der Landwirtschaft rund 470000 "Zivilpolen aus dem Generalgouvernement und den neuen Ostgebieten" eingesetzt. In den Folgejahren stieg die Zahl von über 650000 auf knapp 1,2 Millionen. Diese etwa Verzwanzigfachung hielt der Graf für etwas "Übliches", ihre Gründe schienen ihm und seinen Beratern - darunter ehemals honorige und heute beamtete Historiker - nicht hinterfragenswert.

Dasselbe traf auf die halbe Million Mädchen und Frauen zu, die nach einem Wort der unvergessenen Annekatrein Mendel Zwangsarbeit im Kinderzimmer zu leisten hatten, und auf viele andere Bereiche von Wirtschaft und Gesellschaft. Da die Hälfte der ehemaligen Zwangsarbeitskräfte damals außerhalb der Industrie"eingesetzt" war, reduzierte sich der nicht verhandelte Betrag um weitere fünfzig Prozent.

Viertens blieben die völkerrechtswidrig in der Rüstungsindustrie "eingesetzten" Kriegsgefangenen von jeglicher Entschädigung ausgeschlossen.

Fünftens ließen sich die Vertreter der Opfer auseinanderdividieren. Einer Studie über Zwangsarbeit in Baden ist zu entnehmen, daß die Einführung der"Leistungsernährung" für indische Gefangene bei der Emmendinger Firma Ramie daran scheiterte, daß die Männer eine Brotzulage mit der Bemerkung ablehnten: alle oder keiner. Das geschah allerdings während des Krieges, als Solidarität das wichtigste Überlebensmittel war, weitaus wichtiger als Brot und andere Lebensmittel. In den Verhandlungen erhielten die deutschen Vertreter von Staat und Wirtschaft nicht diese ihnen gebührende Antwort. Statt dessen stritten die auf der Opferseite Beteiligten über Abstufungen zwischen verschiedenen Kategorien und beteiligten sich auf diese Weise an einem unwürdigen Kuhhandel. Es waren keine Helden, die am Verhandlungstisch saßen, sondern kühl rechnende Juristen und Politiker. Ein Überlebender hat die Entschädigungen, die er erhalten sollte, zu Recht als "das Letzte an Beleidigung" bezeichnet (The Final Insult), und viele andere haben sie genau als das empfunden.

Sechstens, und das ist ein besonders bedrückendes Kapitel in dieser Geschichte, das Verhalten der Masse der deutschen Bevölkerung. Die deutschen Konzerne und ihre Regierung hätten niemals mit einer solchen Unverfrorenheit vorgehen können, wenn eine Bevölkerungsmehrheit dieses Landes erklärt hätte: Schluß jetzt mit diesem würdelosen Gezerre auf Kosten der Opfer, die verdammte Industrie soll endlich zahlen. Aber es war eine verschwindende Minderheit, die so dachte und es auch sagte. Die ganz überwiegende Mehrheit wollte endlich einen "Schlußstrich unter die Vergangenheit" und erklärte: Was kann ich für das, was meine Eltern oder Großeltern getan haben?

So gern sie das vom Großvater gebaute Haus erbten - sofern es schuldenfrei war - , so ungern erinnerten sie sich jenes historischen Erbes, das ihnen ihre Eltern und Großeltern in Gestalt unbezahlter Rechnungen, darunter nicht gezahlter Entschädigungen, hinterlassen hatten. Diese nahezu vollständige Abwesenheit antifaschistischen Bewußtseins in der deutschen Bevölkerung war es, die den deutschen Konzernen und ihrer Regierung ein derartiges Vorgehen ermöglichte.

Volk der kalten Herzen

Daran änderten auch die in den Jahren 1998 bis 2001 geführten Auseinandersetzungen nichts, obwohl der Tenor in den Medien ein partiell durchaus anderer gewesen war, insbesondere in Teilen der lokalen Presse. Woche für Woche berichteten sie über kleine und große Firmen, über kommunale wie private, über Sozial- und Pflegedienste, kirchliche wie kommunale, Lehr- und Forschungseinrichtungen usw. usf., die noch heute existieren und zu deren "Personal" damals regelmäßig Zwangsarbeitskräfte zählten. Wenn der Historiker Ulrich Herbert meinte: "Wir suchen noch immer nach einer einzigen Firma, die damals keine Zwangsarbeiter beschäftigt hat", so hatte er zwar recht, aber auch das ließ einen Großteil der Bevölkerung kalt.

In Anspielung auf Wilhelm Hauffs Märchen "Das kalte Herz" und eher zu- als überspitzend, schrieb die aus dem mexikanischen Exil zurückgekehrte Schriftstellerin Anna Seghers im Juni 1947, sie lebe "hier im Volk der kalten Herzen". Von diesen kalten Herzen wurde im Geiste des gewöhnlichen Faschismus oder auch des Extremismus aus der Mitte der Gesellschaft in den an Stammtischen geführten Entschädigungsdebatten entweder gemeint, daß die meisten der ehemaligen Zwangsarbeitskräfte aus Osteuropa stammten, also "sowieso bloß Russen und Polacken" seien, oder aber es wurde einfach behauptet, daß das "alles Juden" seien.

Einzelne, übrigens aus allen im Bundestag vertretenen Parteien, sprachen gegen die Stammtischparolen des gewöhnlichen Faschismus und für eine anständige Entschädigung der ehemaligen Zwangsarbeitskräfte, organisierten antifaschistische Aktionen auch auf diesem Feld usw. Sie waren übrigens nicht nur im Parlament aktiv, sondern auch und vor allem in Redaktionsstuben und Betriebsräten, in örtlichen Initiativen und Antifagruppen - leider mit sehr geringem Erfolg, denn das Gros der deutschen Bevölkerung strebte keine Entschädigungszahlung an, sondern einen Schlußstrich.

Gerade weil sich diese Mehrheit damals faktisch durchgesetzt hatte, sind solche Einrichtungen wie die Gedenkstätte Ahrensbök und die vielen anderen in diesem Lande von enormer Bedeutung. Sie sind es nicht nur im Sinne einer mahnenden und erinnernden Gedenkkultur, sondern auch und vor allem, um aus dieser Arbeit heraus einen aktiven Einfluß auf das politische Denken und Handeln in der Gegenwart zu nehmen.