29.06.2011
Facetten einer Nötigung
Die LINKE, der Antisemitismus
und der Nahost-Konflikt
Es begann mit 16 Blatt Papier, auf denen die Autoren
Sebastian Voigt und Samuel Salzkorn ihre Behauptungen ausbreiteten,
dass in der Linkspartei antisemitische Positionen »immer
dominanter« würden und »der antizionistische Antisemitismus« in
der LINKEN »zu einer weitgehend konsensfähigen Position« geworden
sei. Der zuerst von der »Frankfurter Rundschau« (18. Mai) als
»Studie« vorgestellte Text war hinsichtlich seiner Behauptungen
völlig belegfrei, hatte allerdings – das hätte von vornherein
auffallen dürfen – keinen wissenschaftlichen, sondern einen rein
ideologischen Zweck: Überschrift »Antisemiten als
Koalitionspartner?«, Schlusssatz: »Antisemiten können keine
Koalitionspartner sein.« Als politisches Pamphlet war er so
geradezu prädestiniert, von Union und FDP im Bundestag in einer
Aktuellen Stunde (25. Mai) gegen die Linkspartei eingesetzt zu
werden, dabei auch SPD und Grüne gegen etwaige missliebige
Farbenspiele zu domestizieren.
Von Jürgen Reents *
In dieser Bundestagsdebatte fiel die LINKE noch nicht darauf
herein. Ihre Abgeordnete Luc Jochimsen mühte sich in den ihrer
Fraktion zustehenden fünf Minuten außerordentlich tapfer und gegen
viel Gebrüll, den weitgehend niveaulosen elf Redeaufgeboten der
anderen Fraktionen Verstand entgegenzuhalten. In die aufgestellte
Falle tappte die LINKE erst zwei Wochen später mit einem Beschluss
ihrer Bundestagsfraktion, in dem sie gegenüber der israelischen
Regierung kritische Positionen und Aktionen, die teilweise aus der
Linkspartei heraus mitgetragen werden, selbst in die Nähe des
Antisemitismus brachte. Der Nötigung folgte die verzögerte
Bereitschaft, sich nötigen zu lassen.
Die Frage ist, ob und wie die Linkspartei aus dieser Falle wieder
herauskommt. Offenbar wird die Idee verfolgt, den am 7. Juni
beschlossenen Drei-Punkte-Katalog gegen Antisemitismus, der für
dessen Bekämpfung schlicht untauglich ist, auf einer nächsten
Fraktionssitzung durch einen zweiten Katalog mit jenen Punkten
fortzuschreiben, in denen die Fraktion den Vorwurf des
Antisemitismus »inflationär« gebraucht sieht. Die beabsichtigte
politische Demontage, die inzwischen zu einer Selbstdemontage zu
werden droht, lässt sich mit solchen Überlegungen kaum kontern.
Falsches wird so nicht aus der Welt geschafft. Überdies beflügeln
solche Kataloge nur eine – von der jeweils eigenen Sicht geleitete
– Suche nach Fehlstellen.
Offenbar braucht die LINKE eine Art Auszeit (man könnte auch
sagen: eine Papier- und Mikrofonpause), in der sie zunächst
gründlich über alle Aspekte nachdenkt, die mit den Themen
Antisemitismus und Nahost-Konflikt zu tun haben. Es gibt längst zu
viele Erklärungen auf diesem Feld, die auf zu viel ideologischer
Erregung und auf zu wenigen Argumenten gründen.
Muss die LINKE sich mit dem Problem des Antisemitismus auch in
eigenen Reihen befassen? Ja, aber auf andere Art und Weise. Der
Grüne Volker Beck – der neben Edelgard Bulmahn und Sebastian
Edathy von der SPD auch nachdenklichere Töne ins Bundestagstribunal
gegen die LINKE mischte – machte in seiner Plenarrede auf das
gesamtgesellschaftliche Problem antisemitischer Ressentiments
aufmerksam und sagte: »Ich finde, wir alle sollten selbstkritisch
sein und sagen: Auch in unseren Parteien hat es Problemfälle
gegeben.«
Die LINKE muss sich zum Beispiel fragen, warum es Monate dauerte,
bis ein auf der Website des Duisburger Kreisverbandes geschmuggeltes
antisemitisches Pamphlet entdeckt und Strafanzige dagegen gestellt
wurde. War es nur Nachlässigkeit, dass niemand der Verantwortlichen
hin und wieder mal auf den eigenen Webserver schaut, was dort so
angeboten wird? Oder gab es in eigenen Reihen eine »Ach, nicht so
wichtig«Reaktion? Diese Fragen sind bislang unbeantwortet und man
hört nicht, dass auf ihre Beantwortung gedrängt wird. Und die
LINKE steht zum Beispiel vor der Frage, was es mit einigen durch die
Medien und den eigenen Streit geisternden Zitaten auf sich hat,
denen zufolge das Existenzrecht Israels eine »läppische« Frage
sei und ähnliche Gedankenlosigkeiten. Die konkrete Aufklärung und
ggf. Zurückweisung untragbarer Ressentiments musste bislang
weitgehend vermisst werden.
Die LINKE hat dagegen keinen Grund, am ideologischen
Koordinatenverschub des Antisemitismus-Vorwurfs mitzuwirken. Medial
wird inzwischen der Eindruck erweckt, als sei sie der Stoßtrupp des
Antisemitismus in unserem Land. Christian Bommarius kommentierte in
der »Berliner Zeitung« in dieser Woche: »In keiner Partei sind
mehr antirassistische Israelkritiker zu Hause als in der Linken«
und überschrieb dies schnappig mit »Kostümierte Antisemiten«.
Lorenz Maroldt, Chefredakteur des »Tagesspiegel«, gastierte auf
der Website der »Zeit« mit der absurden Auskunft, dass die Masse
antisemitischer Äußerungen »bedrohlich gewachsen« und zur
»flächendeckenden Entwicklung« in der Partei geworden sei.
Am deutlichsten zugespitzt (besser: verplattet) hat die Debatte
nun Michael Wolffsohn, der an der Bundeswehr-Hochschule in München
Neuere Geschichte lehrt. In der »Financial Times Deutschland«
schrieb er: »Die Juden … identifizieren sich mit dem Kern der
kapitalistischen Philosophie: Aufstieg durch Leistung und Belohnung
von Leistung.« Ihre »grundsätzliche Identifizierung mit
Liberalismus und Kapitalismus lässt sich nicht abstreiten. Sie ist
eine Tatsache. Nur im liberal-kapitalistischen System konnten und
können sich Juden frei entfalten …«. Das ist nicht nur eine
äußerst gelinde Definition dessen, was den »Kern der
kapitalistischen Philosophie« ausmacht, sondern vor allem eine
recht krude Zuordnung einer kompletten Religionsgemeinschaft oder
Ethnie – wie auch immer der Professor es hier meint – zu einer
spezifischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Der Jude als
kapitalistisches Naturell, woran erinnert das nur?
Seine Nähe zu völkischer Betrachtungsweise veranlasst den
Professor und FTD-Autor zu einer im eigenen Gedankengebäude
logischen These. Die lautet: »Die Juden sahen und sehen sich als
Teil der ›Bourgeoisie‹. Die wiederum sahen und sehen die
traditionelle Linke ebenso wie die Partei Die Linke marxistisch
formuliert als ›Klassenfeind‹.« Folglich: »Die Linke ist
antisemitisch. Sie muss es sein, wenn sie links sein will. Wer nicht
antisemitisch sein möchte, hat im Prinzip in der Partei nichts zu
suchen.«
Wolffsohn mag ein Ausnahmetalent solcher Argumentation sein, doch
die Unterstellung, dass der Antisemitismus im Antikapitalismus der
LINKEN keime, versteckt sich in vielen Varianten. Die Wahrheit liegt
auf der anderen Seite: Die Verknüpfung von Judenhass und sozialer,
antikapitalistischer Demagogie ist ein Geschöpf der Nazis.
Im Dezember 1984 bereiste ich mit einer Bundestagsdelegation der
Grünen einige Länder im Nahen Osten. Unsere Stationen waren
Libanon, Syrien, Jordanien, die Westbank und Israel. In Amman
verbrachten wir den ganzen Abend des 24. Dezember mit Jassir Arafat
und anderen PLO-Vertretern. Nach unserer Einreise über die Westbank
nach Israel wurden wir in der Tageszeitung »Ma'ariv« mit einer
Karikatur begrüßt. Sie zeigte einen die Straße querenden Grünen
mit einem Rucksack, aus dem Arafat lugte, die Hand zum
Victory-Zeichen emporstreckend – gegenüber eine Ampel, an der ein
Mann mit KZ-Kleidung und Judenstern aufblinkte. Die Botschaft war
eindeutig: Mit Arafat im Gepäck auf dem Weg zu neuer
Judenvernichtung.
Das Grundmuster dieser Botschaft hat sich über alle Jahre
erhalten. Arafat wurde später vom Terroristen zum
Verhandlungspartner begnadigt (wie nicht anders Nelson Mandela in
Südafrika), man ließ ihn jedoch mit leeren Händen, bis er durch
andere, die man nun als Schurken brandmarkte, ersetzt werden konnte.
Indes beruht die Weigerung Israels, sich aus den seit 1967 besetzten
und zum Teil widerrechtlich annektierten Gebieten zurückzuziehen,
auf eben dieser Unterstellung: Die Errichtung eines souveränen
palästinensischen Staates würde die Existenz Israels gefährden
und seine jüdische Bevölkerung erneut der Gefahr der Vernichtung
aussetzen.
Im Kern ist es diese Unterstellung, die Behauptung fundamentaler
Israelfeindlichkeit und eines arabischen bzw. palästinensischen
Antisemitimus, die auch die Haltung der in der westlichen Welt
dominierenden Staaten prägt. Sie weigern sich, der israelischen
Besetzung palästinensischer Gebiete, dem Landraub, dem Bau
illegaler Siedlungen und allerlei Militärwillkür seitens der mal
konservativen, mal sozialdemokratischen Besatzungsregimes wirksam
entgegenzutreten. Zwar kann auf mehrere UN-Resolutionen verwiesen
werden, die einen Rückzug Israels von fremdem Territorium verlangen
und das Recht auf palästinensische Staatsbildung an der Seite
Israels bekräftigen, doch erweist sich dies bislang als völlig
folgenlos.
Eine prinzipielle Gegnerschaft gegen die Existenz des
israelischen Staates findet sich bei den umgebenden arabischen
Staaten nicht mehr, auch nicht in der Mehrheit der
palästinensischen Bevölkerung in Westjordan und Gaza. Man ist
längst auf ein friedliches Nebeneinander in der Region bedacht, zu
dem aber gehört, dass Israel endlich seine 44 Jahre dauernde
Besetzung und Besiedlung palästinensischer Gebiete aufgibt und ein
souveräner Staat Palästina neben Israel entstehen kann. Die
Vorenthaltung dieses Rechts durch Israel lässt die Gewaltspirale
nicht zur Ruhe kommen und treibt immer wieder zu blutiger
Radikalisirung auf mehreren Seiten an. Die in Gaza derzeit
dominierende Hamas, deren Programm von israel- und judenfeindlichem
Denken getragen ist, konnte ihre Unterstützung bei Teilen der
palästinensischen Bevölkerung schließlich finden, weil der
staatlichen Emanzipation der Palästinenser von israelischer
Besatzung und Bedrängung der Erfolg bis heute versagt wurde.
Die LINKE hat sich dem Druck und der Nötigung, gegenüber
völkerrechtswidrigen Maßnahmen der israelischen Politik letztlich
nachsichtig zu sein, bislang nicht gebeugt. Dies weiter auszuhalten,
ist nicht für den realen Verlauf im Nahen Osten relevant, aber für
das Selbstverständnis dieser Partei und ihre Bündnisfähigkeit
nicht zuletzt mit Partnern in Israel und Palästina, die für
Gerechtigkeit streiten und von denen sich nicht wenige ausgesprochen
kritisch zur aktuellen Antisemitismus- und Israel-Debatte zu Wort
gemeldet haben.
Die Befürchtung eines Paradigmenwechsels, der nicht Resultat
eines vermeintlichen Wahrheitsgehalts der medialen Beschuldigungen,
sondern der Einordnung ins außenpolitische Raster der westlichen
Dominanz ist, kam erstmals auf, als Gregor Gysi vor drei Jahren auf
einer Veranstaltung der Rosa-Luxemburg-Stiftung den Begriff der
»Staatsräson« als »nicht einfach nur eine konservative Marotte«
für die LINKE enttabuisierte und das Verhältnis zu Israel als ein
solches der »Staatsräson« definierte.
Eine der Fragen, die Gysi damals in seinem Referat auch aufwarf,
lautete, »wie weit antisemitische Einstellungen den arabischen
Antizionismus prägen«. Und er beantwortete sie mit einem Bezug auf
die – namentlich vor der israelischen Staatsgründung 1948 von
linken Juden und Arabern vertretene – Befürwortung eines
bi-nationalen Staates wie folgt: »Wer nur einen Staat für
Jüdinnen und Juden, Palästinenserinnen und Palästinenser mit
demokratischer Struktur will, akzeptierte damit heute, dass die
Palästinenserinnen und Palästinenser die Mehrheit stellten, alles
besetzten und die Verfolgungen, Unterdrückungen und Pogrome gegen
Jüdinnen und Juden wie seit Tausenden von Jahren wieder begännen,
nicht zu verhindern wären.«
Die Frage eines solchen Staates ist nach über 60-jähriger
Existenz des israelischen und gleich langer Nichtexistenz eines
palästinensischen Staates obsolet, vielleicht für einige
Gegenstand ferner Träume, so wie es der eines nicht mehr national
organisierten Europas ist. In Gysis Antwort aber lag der Verdacht
der Wiederholung des Holocaust durch die Palästinenser bzw. Araber.
Die LINKE hat über etliche Fragen nachzudenken. Sie sollte sie
rational, mit mehr Vernunft klären.
* Jürgen Reents, Jahrgang 1949, ist Chefredakteur des ND.
Aus: Neues Deutschland, 25. Juni 2011
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