11.06.2011; aktualisiert 21.06.2011
Israelkritik ist kein Antisemitismus
Bemerkungen zum Kniefall der
Fraktion der LINKEN vor der deutschen Staatsräson
Ein wichtiges Thema der Friedensbewegung ist
Palästina. „Der Weg zur Zweistaatlichkeit - Die politische
Gegenoffensive der israelischen Regierung und eine dreiste ‚Antisemitismus’-Kampagne“.
Darüber wird am 19. Juni beim Kasseler Friedensratschlag beraten.
Hierzu hat Dr. Peter Strutynski, Sprecher des Friedensratschlages,
einen Artikel geschrieben. Zugleich des weiteren siehe: Moshe
Zuckermann in der jW: http://www.jungewelt.de/2011/06-11/049.php.
Verbreitet wird auch ein Aufruf gegen die Blockade.
Wortlaut des Artikels von Peter Strutynski:
Vor kurzem kochte wieder ein Streit in der Linkspartei hoch, der
so unnötig ist wie manch anderes ideologische Gefecht in der linken
Szene. Doch immer wenn es um den Vorwurf des Antisemitismus geht,
werden die Akteure des ideologischen Streits besonders nervös.
Verständlich einerseits, weil der Antisemitismus-Vorwurf auf Grund
der deutschen Geschichte wohl die schlimmste Keule darstellt, mit
der sich politische Widersacher hier zu Lande schlagen lassen.
Andererseits aber gerade auf der Linken vollkommen unverständlich,
da es keinerlei historische, theoretische und weltanschauliche
Berührungspunkte zwischen antisemitischen und
sozialistisch-kommunistischen Anschauungen gibt. Antijudaismus,
Judenfeindschaft und andere rassistische Ideologien haben sich noch
nie im Arsenal einer emanzipatorischen Aufklärungsphilosophie
befunden.
Der Mainstream-Diskurs von FAZ bis zur taz versucht seit geraumer
Zeit der ungeliebten Linkspartei alle möglichen Stolpersteine und
Fallen in den Weg zu stellen, um sie zumindest wieder aus den
westdeutschen Landtagen zu vertreiben. Die uneingeschränkte
Solidarität mit den USA und mit Israel gehört zu den Kernelementen
(west-)deutscher Außenpolitik, die von Kanzlerin Merkel anlässlich
ihrer Knesset-Rede zum 60-jährigen Bestehen des Staates Israel zur
"Staatsräson" erhoben wurde und damit so etwas wie
Verfassungsrang erhalten hat. Dumm nur, dass es auf Seiten der
Linken eine Reihe von Leuten in "höheren Ämtern" gibt,
die auf Teufel komm raus nach Anschlussfähigkeit zu den etablierten
Kräften dieser Republik suchen, sei's weil sie von der Gedankenwelt
der Bourgeosie angesteckt wurden, sei's weil sie darin einen
realpolitischen Zugang zur Regierungsfähigkeit mit den Parteien des
herrschenden Blocks vermuten. Beide Wege, die freiwillige Anpassung
an die herrschende Ideologie und das realpolitische Kalkül der
"Machtpolitiker", enden in einer Sackgasse, in der die
Linke als gesellschaftspolitische Alternative zum herrschenden
kapitalistischen Weltsystem zerrieben wird.
Das Verhältnis zu Israel ist das Stöckchen, das der Linken von
wem auch immer (den Herrschenden, den ihnen verbundenen Medien, den
sich links fühlenden "Antideutschen") gereicht wird, um
es artig zu überspringen oder eben beim Sprungversuch auf die Nase
zu fallen. Dabei gäbe es souveränere Arten, den verlangten
Treueschwur auf Israel abzulegen, ohne sich dabei den Absichten der
Gegner zu unterwerfen. Wer die Geschichte des
israelisch-palästinensischen Konflikts in der zweiten Hälfte des
20. Jahrhunderts zur Kenntnis nehmen wollte, müsste begreifen, dass
es im historischen Palästina nur zwei Möglichkeiten des
Zusammenlebens der beiden Völker gibt: In einem Staat zusammen -
dann allerdings in einem säkularisierten demokratischen
Gemeinwesen, in dem alle Bürger/innen mit denselben
Staatsbürgerrechten ausgestatte sind, oder in zwei Staaten, einem
israelischen und einem palästinensischen Staat, so wie es der
UN-Teilungsplan von 1947 vorgesehen hatte. Die Tragödie besteht
darin, dass Israel zum Staat wurde, während ein palästinensischer
Staat bis heute nicht zu Stande kam.
Hinzu kommt, dass in den 44 Jahren seit dem Sechstagekrieg (1967)
Israel alles unternommen hat, um eine Staatslösung für die
Palästinenser zu untergraben. Die Siedlungspolitik und die
andauernde Besatzung haben dazu geführt, dass die Gründung eines
lebensfähigen palästinensischen Staates in den Grenzen von 1967
derzeit nur schwer möglich erscheint. Da die USA, die Europäische
Union und die Bundesregierung in all diesen Jahren nichts, aber auch
gar nichts unternommen haben, um den Palästinensern zu ihrem Recht
zu verhelfen, da die Vereinten Nationen seit 44 Jahren vergeblich
darauf hoffen, dass Israel irgendeine der vielen Resolutionen des
UN-Sicherheitsrats erfüllt, und da jedes Jahr, das unverrichteter
Dinge verstreicht, den Alptraum für die Palästinenser noch
unerträglicher macht, sind politische Initiativen, die sich der
Sache der Palästinenser annehmen, nur zu begrüßen. Nicht alle
dieser Initiativen mögen zum Ziel führen, manche sind nur
symbolischer Art und mögen an der harten Realität zerschellen,
wieder andere mögen wirkungslos verpuffen: Sie aber mit einem
faktischen Verbot zu belegen, wie es die Linksfraktion mit ihrem
Beschluss vom 7. Juni 2011 getan hat, und sie im Kontext des
Beschlusses in die Nähe des Antisemitismus-Verdachts zu bringen,
bedeutet das Ende jeglicher seriösen inhaltlichen
Auseinandersetzung um gangbare Wege zum Frieden im Nahen Osten.
An einem Beispiel möchte ich das verdeutlichen: Die
Linksfraktion verbietet in ihrem Beschluss eine Teilnahme an der
für dieses Jahr (im Juli) geplanten Gaza-Hilfsflotte. Eine
Begründung hierfür wird nicht gegeben. Das wäre der Fraktion auch
sehr schwer gefallen, denn noch in dem Nahost-Positionspapier vom
April 2011 wird die Abriegelung des Gaza-Streifens als besonders
schwerwiegendes Problem beschrieben: "Dennoch stellt die
israelische Besatzung, die noch immer bestehende Abriegelung des
Gazastreifens, die zu einem systematischen Mangel an
Nahrungsmitteln, Brennstoffen und an elementaren technischen Mitteln
führt, eine Kollektivstrafe für die 1,5 Millionen Menschen in Gaza
dar, die das Völkerrecht ausdrücklich verbietet." Und nach
der von israelischem Militär auf hoher See aufgebrachten
Hilfsflotte 2010 war Gregor Gysi beim israelischen Botschafter
vorstellig geworden: "Gregor Gysi protestierte gegen den
völkerrechtswidrigen Akt mit Toten und Verletzten gegen die
Schiffe, die Hilfsgüter nach Gaza bringen wollten. Ebenso
protestierte er gegen die Seeblockade des Gazastreifens durch
Israel." (Zit. nach der Presseerklärung des Pressesprechers
der Fraktion Die Linke vom 2. Juni 2010.) Ein Jahr später wird ein
zweiter Versuch, die Blockade des Gazastreifens mit einer
Hilfsflottille friedlich zu durchbrechen, zu einer unerwünschten
Aktion?!
Antisemitismus bekämpft man nicht dadurch, dass man sich den
offiziellen Standpunkt der israelischen Regierung zu eigen macht und
vor ihren Sprachrohren und selbst ernannten Sittenwächtern hier zu
Lande kuscht, sondern dadurch, dass man die Fehlentwicklungen im
israelisch-palästinensischen Konflikt analysiert und nach
politischen Wegen sucht, wie sie zu korrigieren sind. Die Einhaltung
des Völkerrechts und die Achtung der Menschenrechte sind dabei die
wichtigsten Maßstäbe. In jedem anderen Fall hartnäckigen
Verstoßes gegen internationales Recht stehen die pro-israelischen
Eiferer auf der Matte, um UN-Sanktionen oder gar militärische
Maßnahmen gegen ein x-beliebiges Land zu fordern; im Fall Israels
verbitten sich dieselben Kräfte jeden Gedanken an Sanktionen. Mehr
noch: Sie sehen auch kein Problem darin, den Völkerrechtsbruch
Israels mit immer neuen Waffenlieferungen, Handelspräferenzen und
anderen Wohltaten zu honorieren. Soll das auch Praxis der Linken
werden? Ich weigere mich das zu glauben.
Vor mir liegt der Aufruf einer Initiative, die nächste Fahrt
einer Gaza-Hilfsflottille und andere Solidaritätsaktionen mit
Palästina zu unterstützen. Der Aufruf trägt den Titel „Gegen
die Blockade der besetzten palästinensischen Gebiete“. Darin
heißt es u.a.: „Die Palästinenserinnen und Palästinenser
sowohl in Gaza als auch in der Westbank sind vom Rest der Welt und
auch untereinander durch Enklaven, einer Art Bantustans isoliert.
Seit 2001 reisen Aktivistinnen und Aktivisten aus aller Welt nach
Palästina ein, um den gewaltlosen palästinensischen Widerstand zu
unterstützen und um die Isolation durch die israelische
Besatzungsmacht zu unterlaufen. (…) Am 8. Juli 2011 werden wir mit
hunderten, möglichst tausenden Internationalen dieses israelische
Grenzregime herausfordern, das das internationale Recht missachtet
und nicht zu rechtfertigen ist. (…) (Wir) werden am 8. Juli am
Flughafen in Tel Aviv einreisen und auf dem Recht bestehen, nach
Palästina zu reisen. Wir werden nicht leugnen, dass wir vorhaben,
unsere palästinensischen Freundinnen und Freunde zu besuchen, die
uns herzlich eingeladen haben. Wir werden keine Erklärungen
unterschreiben, laut denen wir versprechen, nicht in die besetzten
palästinensischen Gebiete einzureisen.“
Wenn die internationale Politik versagt, wenn die Regierenden der
mit Israel besonders eng verbundenen Staaten tatenlos zusehen, wie
eine Friedenslösung im Nahen Osten, die auf sicheren Grenzen für
zwei lebensfähige Staaten beruht, seit Jahren und Jahrzehnten
torpediert wird, muss die Zivilgesellschaft einspringen. Ein Mittel
dazu sind Aktionen, welche die Abriegelung des Gazastreifens,
Siedlungsbau in den besetzten Gebieten und Landraub thematisieren.
Das scheint mir wesentlich hilfreicher zu sein als davor zu warnen
und im Übrigen den Kopf in den Sand zu stecken. Die Netanjahus und
Liebermans werden sich in ihrem kompromisslosen Kriegskurs
bestätigt fühlen. Und genau hier liegt die Gretchenfrage für
linke Politik: Ist das Geschrei um die Antisemitismusfrage am Ende
nichts Anderes als das Aufweichen der Anti-Kriegs-Positionen in der
LINKEN, um damit endlich koalitionsfähig werden zu können?
Offener Brief an den LINKEN
Bundestagsfraktionsvorstand
10. Juni 2011
Sehr geehrter Vorstand der Fraktion DIE LINKE,
die Linke war bislang eine Partei, die den Spagat ausgehalten hat
zwischen der Betonung israelischer Interessen und dem Eintreten für
die Rechte der Palästinenser. Seit dem Maulkorberlass ist das nicht
mehr so.
Der Fraktionsvorstand hat sich für vermeintlich israelische
Interessen entschieden. Vermeintlich deshalb, weil Sicherheit und
Frieden für Israel nur über Gerechtigkeit und Frieden für die
Palästinenser erlangt werden können. Gerade das Anprangern von
Menschenrechtsverletzungen und die Aufarbeitung von Kriegsverbrechen
sind jetzt erforderlich.
Die Fraktionsführung versucht nun, diejenigen aus der Partei
auszugrenzen, die sich glaubwürdig gegen die Kollektivstrafe
Gaza-Blockade wenden, indem sie an der Gaza-Flotte teilnahmen, die
gegen die völkerrechtswidrige israelische Besatzung protestieren,
indem sie auf den Kauf von Siedlungsprodukten verzichten oder
die überlegen, was passiert, falls die Zwei-Staaten-Lösung
scheitert. Durch Anpassung an die Merkel'sche Staatsräson kann die
Partei vielleicht Konflikten aus dem Weg gehen. Sie verliert aber an
Glaubwürdigkeit, weil sie ihre eigenen Werte mit dem erbärmlichen
Maulkorberlass untergräbt.
Mit freundlichen Grüßen
Wiltrud Rösch-Metzler, pax christi Vizepräsidentin
Unterzeichnende per Email:
Hilu Barth, Mitglied der pax christi Nahostkommission
Winfried Belz, pax christi und "Palästina/Nahost-Initiative
Heidelberg"
Gabi Bieberstein, Internationaler Versöhnungsbund - Deutscher Zweig
Juliane Bieberstein, Internationaler Versöhnungsbund, Deutscher
Zweig
Dr. Sabine Farrouh, IPPNW-Vorstand
Martin Forberg, Vorstandsmitglied der Internationalen Liga für
Menschenrechte
Barbara Fuchs, Attac AG Globalisierung und Krieg
Dr. Andreas Grüneisen, EAPPI Netzwerk
Joachim Guilliard, Heidelberger Forum gegen Militarismus und Krieg
Dr. Khaled Hamad, Deutsch-Paläst. Med. Gesellschaft (DPMG e.V.)
Dagmar Kirsche, Deutscher Koordinationskreis Palästina Israel –
für ein Ende der Besatzung und einen gerechten Frieden (KoPI)
Renate Khurdok, Salam und Schalom in Salem
Prof. Dr. Mohssen Massarrat, Osnabrück
Odilo Metzler, Mitglied der pax christi Kommission Friedenspolitik
George Rashmawi, PGD-Deutschland
Ellen Rohlfs, pax christi und Gush Shalom
Prof. Heiner Schmitz, Ruhrpreisträger 2009 für Kunst und
Wissenschaft
Gisela Siebourg, stellvertretende Vorsitzende der DPG
Barbara Stoller, pax christi und friedens räume Lindau
Peter Strotmann, Redakteur von "Sand im Getriebe",
Newsletter von ATTAC
Prof. Dr. Rolf Verleger, ehem. Mitglied des Zentralrats der Juden in
Deutschland, Buchautor "Israels Irrweg. Eine jüdische
Sicht"
Marie-Dominique Vernhes, Mitglied der AG Palästina von attac
Hamburg
Marie Voss, Munich American Peace Committee
Rosemarie Zur Nieden, Pfr. i. R., EAPPI-Netzwerk
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