05.06.2011
Nazis erklärten widerständige Frau für
geisteskrank und ermordeten sie
Helmut Heinze aus Lemgo deckte eine
traurige Wahrheit auf: Weil die Nazis die widerständige Minna
Katharina Heinze vernichten wollten, folterten sie seine Mutter und
erklärten sie für verrückt. Sie ermordeten sie im Zuge des von
Hitler angeordneten Euthanasieprogramms. Die „Westfälische
Rundschau“ veröffentlichte den Fall. Der tausendfache Mörder Dr.
Hans Bodo Gorgaß wurde zum Tode verurteilt, aber 1958 begnadigt, er
setzte seine Tätigkeit als Arzt fort.
66 Jahre nach dem Krieg werden
Euthanasieopfer nicht immer anerkannt – Helmut Heinze deckt eine
traurige Wahrheit auf
Nazis erklärten Mutter für
geisteskrank
Linda Zuber
Erinnerungen aus besseren Zeit: Helmut Heinze
zeigt das Bild seiner Mutter |
Dortmund. Hübsch und selbstbewusst, sie lächelt zart in die
Kamera. Kurze Zeit später ist sie alt und schwach. Die Haare
hängen ihr wie Stroh vom Kopf. Ein dunkler Rand legt sich unter die
Augen. Die Gestapo folterte und misshandelte sie, die Ärzte
spritzten sie krank. Minna Katharina Heinze war eine gesunde und
intelligente Frau, die Nazis erklärten sie für geistesgestört,
ermordeten sie im Zuge der Euthanasie. Viele Jahre lang wollten
Politiker ihren Tod nicht als typisches Naziverbrechen anerkennen.
Und bis heute, 66 Jahre nach dem Krieg, wurde ein teuflisches Gesetz
immer noch nicht abgeschafft.
Er kämpfte allein
Leicht zittern die Hände, als Helmut Heinze (88) die Akten aus
der Klarsichtfolie zieht. Der Sohn erinnert sich an den Tag, an dem
er die Zeitung aufschlug und innerlich zusammenbrach. Seine Finger
streichen über die Zeilen des Artikels von 1958. Heinze fasst die
Textpassage zusammen: Nazi- Arzt Dr. Gorgaß, der Mann, der seine
Mutter ermordete, sei begnadigt worden, wieder auf freiem Fuß. „Diese
Ungerechtigkeit konnte ich nicht ertragen“, sagt Heinze. Er schwor
sich damals die Wahrheit ans Licht zu bringen. Er wollte den Fall
seiner Mutter aufklären. „Doch ich fühlte mich ohnmächtig,
allein gelassen“, blickt Heinze zurück.
Grausame Wahrheit
Er kämpfte allein. Mit Unterstützung konnte er von keiner Seite
rechnen: Andere Opfer seien nur schwer ausfindig zu machen gewesen.
Auf Politiker konnte er nicht zählen: Denn im
Bundesentschädigungsgesetz von 1956 wurden die Opfer von Euthanasie
und Zwangssterilisierung nicht als typische NS-Opfer anerkannt. Von
Entschädigungszahlungen wurden sie ausgegrenzt. „Diese Menschen
zählen damit zu den vergessenen Opfern des Dritten Reichs“, sagt
Michael Teupel, Geschäftsführer des Bundesverbandes Information
und Beratung für NS-Verfolgte zur WR. Die Opfer der Euthanasie und
Zwangssterilisierten hätten anders als beispielsweise jüdische
Opfer keine Lobby gehabt, die nach dem Krieg Druck auf die Regierung
hätte ausüben können. „Aus bloßer Einsicht ist nämlich in den
seltensten Fällen Aufarbeitung geleistet worden“, sagt Teupel.
Immer habe es politischen Druck geben müssen.
Trotzdem gelang es Helmut Heinze die grausame Wahrheit über
seine Mutter aufzudecken. Über viele Jahre hinweg zogen sich seine
Recherchen, die er heute auch in Schulen präsentiert.
Ein jüdischer Arzt der fliehen musste, bat Minna Heinze Freunden
und Bekannten seine Möbel zu schenken, dazu gab er ihr den
Schlüssel seiner Wohnung. Das fiel der Gestapo auf. Zwei Mal
verhörten sie Minna Heinze, wahrscheinlich folterten und
misshandelten sie die Frau, „so ist es damals üblich gewesen“,
erzählt Margret Hamm von der Arbeitsgemeinschaft Bund der
Euthanasie und Zwangssterilisierten. Als Minna Heinze jedenfalls
nach Hause zurückkehrte, sei sie nicht mehr die selbe Frau
gewesen.
Zwangsscheidung
Für geisteskrank erklärten die Ärzte die zweifache Mutter.
1940 schließlich wird sie in die Landesheilanstalt in Hamburg
eingewiesen, nachdem sie sich kritisch über Hitlers Politik
geäußert hatte. „Unbequeme Menschen wurden für geistesgestört
erklärt so konnte man sie ganz einfach aus dem Weg schaffen, die
meisten Euthanasieopfer waren gesund“, erläutert Hamm den Fall.
Bald ließen die Nazis Minna Heinze von ihrem Ehegatten
zwangsscheiden. Ein NS-Mann aus dem Gesundheitsamt wird ihr Vormund.
Ein wichtiger Schritt in der Bürokratie des Regimes. Minna Heinze
verlor somit den Schutz ihres Mannes, „von nun an konnten die
Nazis mit ihr verfahren wie sie wollten“, sagt Hamm. In der
NS-Tötungsanstalt Hadamar stirbt die 50-Jährige am 6. März 1944.
Ärzte hatten ihr Gift gespritzt und sie verhungern lassen. So
brachte es Heinze ans Licht.
Er schweigt. Räumt die Akten zusammen und betrachtet das Bild
seiner Mutter. Sein Gesicht verzieht sich, wie im Schmerz. Eine
bedrückende Stille.
Bis heute gilt seine Mutter, wie auch über 300 000
Euthanasieopfer, nicht als typische NS-Verfolgte. Ende der 80er
Jahre wagen einige Euthanasie- Überlebende den Schritt und gründen
den Bund der Euthanasiegeschädigten und Zwangssterilisierten. Bis
dahin kämpfte jeder alleine.
Durch die gemeinsame Lobbyarbeit wird 2002 in den
AKG-Härterichtlinien (Allgemeines Kriegsfolgengesetzt) eine
Einmalzahlung für Euthanasiegeschädigte festgelegt. Wer einen
Antrag stellte erhielt 2566 Euro. „Zu dem Zeitpunkt jedoch waren
viele Opfer schon tot“, gibt Hamm zu bedenken.
Erst 2007 wurde in einer Bundesdrucksache verkündet, die Opfer
der Euthanasie und Zwangssterilisierung seien als rassisch Verfolgte
anzuerkennen. Erst dann wurde das nationalsozialistische „Erbgesundheitsgesetz“
zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik geächtet.
Abgeschafft ist das Nazi-Gesetz bis heute nicht. 1974 wurde es
immerhin außer Kraft gesetzt, 1986 für verfassungswidrig
erklärt.
Erstmal geächtet
Erst seit Beginn diesen Jahres erhalten nun auch die Kinder von
Euthanasie-Opfern Entschädigungszahlungen von 291 Euro monatlich.
Helmut Heinze freut sich. „Viel wichtiger jedoch ist die Wahrheit,
dass meine Mutter als NS-Verfolgte anerkannt wird“, sagt er.
Dafür kämpft der 88-Jährige bis heute, schon fast sein Leben
lang.
Mit freundlicher Genehmigung der Westfälischen Rundschau vom
07.05.2011
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