08.05.2011
Verfassungsbruch per Verfassungsgericht
Kritik am
Bundesverfassungsgericht
Das Interview mit Verfassungsrichter Johannes Masing
in der Süddeutschen Zeitung vom 01.03.2011 nimmt Bundessprecher der
VVN-BdA Ulrich Sander zum Anlass zu scharfer Kritik am
Bundesverfassungsgericht. Er fragt angesichts von vielen
grundgesetzlichen Eindeutigkeiten (zum Beispiel Artikel 139 des GG,
der das Verbot des Faschismus bekräftigt und das der
nationalsozialistischen und militaristischen Propaganda): „Warum
hält man sich nicht an das Grundgesetz, warum dürfen
politisierende Richter es aufheben?“ Sander geht weit in die
Geschichte des BVerG zurück und kommt in „Ossietzky“ Nr. 9 vom
30. April 2011 (dort unter der Überschrift: „Verfassung als
Auslegware“ zu folgenden Ausführungen.
Im Wunsiedel-Beschluß des Bundesverfassungsgerichts, mit dem
regelmäßige Gedenkmärsche für den „Führer“-Stellvertreter
Rudolf Hess unterbunden wurden, heißt es, das Grundgesetz müsse
als Gegenentwurf zum Nationalsozialismus gedeutet werden, daher sei
Nazipropaganda zu verbieten. Diesen Richterspruch, über den
Antifaschisten erleichtert waren, hat Johannes Masing, einer der 16
Richter dieses obersten deutschen Gerichts, inzwischen wieder
aufgehoben. Die Süddeutsche Zeitung vom 1.März zitierte Masing:
Das Grundgesetz sei Gegenstück zum Faschismus wegen seiner „Freiheitlichkeit“,
daher sei Nazipropaganda zulässig.
Was will uns der Verfassungsrichter damit konkret sagen? Das
Grundgesetz sei ein Gegenentwurf zum Naziregime, weil es die
Freiheit bringe, anders als der Nazismus? Die Freiheit zur
faschistischen Propaganda? War die denn im Nazireich unterdrückt?
Das höchste Verwaltungsgericht von Nordrhein-Westfalen, das
Oberverwaltungsgericht Münster, hat demgegenüber immer wieder
betont und sich auch im Streit mit dem Bundesverfassungsgericht
nicht davon abbringen lassen: „Eine rechtsextremistische Ideologie
läßt sich auch nicht mit den Mitteln des Demonstrationsrechts
legitimieren.“ (Az 5 B B 585/01).
Im Grundgesetz ist vieles eindeutig geregelt. Artikel 139 zum
Beispiel bekräftigt das Verbot des Faschismus und das der
nationalsozialistischen und militaristischen Propaganda. Aber dann
kommt das Bundesverfassungsgericht, das die Eindeutigkeit des
Grundgesetzes aufhebt – in dieser wie in anderen Fragen. Auch
Angriffskriege, vom Grundgesetz verboten, sind dann erlaubt.
Desgleichen die Propagierung von Angriffskriegen.
Warum hält man sich nicht an das Grundgesetz, warum dürfen
politisierende Richter es mißhandeln?
Hans-Jochim Jentsch (CDU), dem einst als Justizminister in
Thüringen Gründe einfielen, die PDS zu verbieten, strickte später
als Bundesverfassungsrichter an Begründungen für die
Nichtverbietbarkeit von Parteien, hier der NPD. Er kam auf die Idee,
Nazis, die zugleich V-Leute des Verfassungsschutzes sind, seien als
Hemmnis für ein Verbotsverfahren gegen die NPD anzusehen – mit
der Folge, daß sich die NPD und ihre Anhänger mit Karlsruher Segen
fast alles erlauben dürfen. Kommt es mal zum Verbot einer geplanten
Nazi-Demonstration, dann rufen die Rechten beim
Bundesverfassungsgericht an und bekommen Recht.
Das Versammlungsrecht der Nazis ist den Verfassungsrichtern
übrigens mehr wert als das der demokratischen Gegendemonstranten.
Als 2008 der Dortmunder Polizeipräsident der Verreinigung der
Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten (VVN-BdA)
nicht nur verbot, in der Nähe eines Versammlungsortes der Nazis
Stolpersteine für NS-Opfer mit einer Mahnwache zu schützen,
sondern den Antifaschisten auch gleich jede „Ersatzveranstaltung“
im ganzen Stadtgebiet untersagte, nahm das Bundesverfassungsgericht,
obwohl in letzter Instanz zuständig, die Beschwerde der VVN-BdA
nicht zur Behandlung an (Az. 1 BvR 2652/08). Einer der drei
Unterzeichner dieser Mitteilung: Johannes Masing.
Am 12. März wurde das Verfassungsgerichtsgesetz 60 Jahre alt.
Auf seiner Grundlage wurde im Herbst 1951 das
Bundesverfassungsgericht geschaffen. Bis dahin galt das Grundgesetz,
seitdem gilt es nur noch in der richterlichen Auslegung. Von 1956
bis 1964 enthielt das Bundesverfassungsgerichtsgesetz den
offenkundig verfassungswidrigen Paragraphen 42, der besagte: „Vorsätzliche
Zuwiderhandlungen gegen eine Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichtes oder gegen die im Vollzug der
Entscheidung getroffenen Maßnahmen werden mit Gefängnis nicht
unter sechs Monaten bestraft.“ 10.000 Kommunisten wurden damals
ohne gültiges Gesetz, nur aufgrund einer Gerichtsentscheidung
verurteilt: des KPD-Verbotsurteils. Diese illegalen, weil nicht auf
gesetzlicher Grundlage erfolgten Verurteilungen wurden nie
aufgehoben.
Artikel 19 des Grundgesetzes besagt, daß Grundrechte nur durch
Gesetz eingeschränkt werden dürfen, in keinem Fall darf ein
Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden. Doch Legion
sind die Fälle, da durch Behördenmaßnahmen die Unverletzlichkeit
der Wohnung, des Post- und Briefgeheimnisses, ferner das Recht auf
Meinungs- und Versammlungsfreiheit angetastet werden – sogar
entgegen einschlägigen Urteilen des Bundesverfassungsgerichts. Zum
Beispiel kesselt die Polizei nach wie vor Demonstranten ein, obwohl
Karlsruhe das strikt verboten hat. Die Karlsruher Richter haben
manche krasse Behördenwillkür zurückgewiesen und auch gesetzliche
Grundrechtseinschränkungen gelockert. Im Ganzen aber haben die
Rotröcke, mehrheitlich tief schwarz, eher dazu beigetragen, die
Freiheitsverheißungen des Grundgesetzes herabzuschrauben – im
Wechselspiel mit anderen Gewalten. Und die verfassungsrichterlichen
Uminterpretierungen des Grundgesetzes, die Krieg ermöglichen,
schreien zum Himmel.
Aus Ossietzky
Nr. 9-11
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