13.04.2011
Gegen das Vergessen
Gedenkfeier am Mahnmal
Wenzelnberg
Es ist ein sonniger Morgen. Der Blick geht an diesem
Sonntag jedoch zurück zum 13. April 1945, an dem in der Schlucht am
Wenzelnberg 71 Häftlinge von der Gestapo ermordet wurden, wenige
Tage vor der Befreiung durch die Alliierten.
Schüler der Klasse 9a des
Freiherr-vom-Stein-Gymnasiums Leverkusen tragen ihre Gedanken vor:
Wie haben sich wohl die Häftlinge aus dem Zuchthaus Lüttringhausen
gefühlt, die zur sogenannten „Sicherheitsüberprüfung“
abgeführt wurden. Ahnten sie, dass es ihr Todesurteil sein würde?
Eigentlich hätten 600 Widerständler sein sollen, die die
Nazibürokratie zur Vernichtung vorgesehen hatte.
Leverkusens Bürgermeisterin Eva Lux plädierte für
eine „wache Zukunft“, um den Wert der Menschenrechte fortlaufend
zu garantieren und an folgende Generationen weiter zu geben. „Man
muss die Freiheit schätzen lernen, um sie zu verteidigen“, so die
SPD-Politikerin.
Für die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes
sprach Gunhild Böth, Mitglied der Linken und Vizepräsidentin des
Landtags Nordrheinwestfalen. Sie setzte ihre Hoffnung in die Jugend:
“Und deshalb bin ich immer wieder froh, wenn ich
viele junge Menschen sehe, die sich gegen die Aufmärsche der
Neonazis stellen…die ihre Stimme erheben.“, so Böth zum
Abschluss ihrer Rede.
Musikalisch wurde die Gedenkfeier durch das
Blasorchester der Jugendmusikschule Leverkusen mit Werken von Johann
Sebastian Bach begleitet.
Der Wortlaut der Rede von Gunhild Böth im
Folgenden.
Gunhild Böth, MdL, Vizepräsidentin des NRW-Landtags, Rede
10.4.2011 Wenzelnberg
Sehr geehrte Anwesende,
„Den Toten zum Gedenken, den Lebenden zur Mahnung“ – dieser
Leitspruch des Mahnmals hier in der Wenzelnbergschlucht ist heute
bereits einige Male zitiert worden. Zwei Tage vor Einmarsch der
US-Amerikaner in Solingen erschoss die Gestapo 71 Männer und
verscharrte sie hier. Warum?
- Sie wollten sicherlich Zeugen beseitigen,
- aber sie wollten wohl auch Widerstand gegen die Naziideologie
verhindern - sogar über die eigene Niederlage hinaus
- und sie wollten den absehbaren politischen Neubeginn
schwächen, den sie kommen sahen.
Wofür standen diese ermordeten 71 Männer?
In der Mehrheit Kommunisten und Geistliche, so standen sie als
aktive Gegner der Nazidiktatur für ein „anderes Deutschland“,
ein demokratisches, eines, das nicht nur den Faschismus, sondern
auch die Ursachen des Faschismus in Deutschland beseitigen wollte.
Meine Damen und Herren,
„Schuldig sind nur die Schuldigen“, hat der
Holocaust-Überlebende und Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel
immer wieder betont.
Das soll heißen: Für die unfassbaren Verbrechen unserer
Vorfahren an Millionen von Menschen tragen wir keine persönliche
Schuld. Aber wir tragen sehr wohl Verantwortung dafür, dass sich
die Geschichte nicht wiederholt.
Wir würden uns schuldig machen, wenn wir das Erinnern
vernachlässigten.
Wir alle können helfen, das Wissen über die Verbrechen der
Nazis von Generation zu Generation weiterzugeben.
Wir dürfen deshalb nicht zulassen, dass die Verbrechen der Nazis
irgendwann ein beliebiges und austauschbares Kapitel unserer
Geschichte sind. Und wir dürfen nicht zulassen, dass ihre Taten
abstrakt und damit für unsere nachfolgenden Generationen weniger
fassbar werden.
Wir müssen sie mit den konkreten Schicksalen ihrer Opfer in
unseren Städten in Verbindung lassen.
Das Schicksal dieser Gestapo-Opfer hier ist und bleibt für immer
ein Teil der Geschichte dieser Region. Und darum ist es auch so
wichtig, dass die Namen der Opfer nicht vergessen werden.
Wenn wir hier stehen, dann setzten wir ein klares Zeichen.
Gemeinsam machen wir deutlich:
Wir werden die Opfer der NS-Diktatur niemals vergessen. Wir
werden ihnen ein würdiges Andenken bewahren.
Und wir werden über Generationen hinweg alles dafür tun, dass
Antisemitismus, Rassismus und Intoleranz niemals wieder einen Platz
in unserer Gesellschaft finden.
Meine Damen und Herren,
„Man muss Partei ergreifen. Neutralität hilft dem
Unterdrücker, niemals dem Opfer. Stillschweigen bestärkt den
Peiniger, niemals den Gepeinigten.“
Diese Worte von Elie Wiesel bringen es auf den Punkt.
Gemeinsam wollen wir Partei ergreifen. Und gemeinsam wollen wir
nicht schweigen, sondern unsere Stimmen erheben.
Gegen Antisemitismus. Gegen Fremdenfeindlichkeit. Und gegen das
Vergessen.
Und deshalb bin ich immer wieder froh, wenn ich viele junge
Menschen sehe, die sich gegen die Aufmärsche der Neonazis stellen,
denen es nicht reicht, unbeteiligt zu sein, sondern die ihre Stimme
erheben.
Aber auch dabei ist nicht nur die Zivilgesellschaft gefordert,
hier ist sicherlich ebenso der Staat gefordert.
Es gibt – und das freut mich persönlich sehr – eine breite
Übereinstimmung aller Landtagsparteien in der Frage, dass die
Neonazis und ihre Aufmärsche verhindert werden müssen.
Dass solche Organisationen die demokratischen Grundrechte nutzen
können, um antidemokratische Parolen zu grölen, um ihre
menschenverachtende Propaganda zu betreiben, ist skandalös.
Insofern begrüßen alle im Landtag vertretenen Parteien die
Aussagen des Innenministers, dies zu ändern.
Liebe Schülerinnen und Schüler,
Ich bin 1952 geboren und gehöre damit zu einer Generation in
Deutschland, die den Faschismus nur aus Erzählungen in der Familie
kannte, denn in der Schule kam der Faschismus nicht vor.
Meine Mutter war in der Nazi-Zeit eine hohe BdM-Führerin. Ihre
Erzählungen aus der Nazi-Zeit waren geprägt von einer fröhlichen
Kinder- und Jugendzeit mit Spiel und Spaß, einer Jugendorganisation
ohne Erwachsene, es waren Erzählungen ohne jedes Grauen, eigentlich
unpolitische Geschichten, wohingegen mein Großvater aus derselben
Zeit von Schlägereien mit Nazis berichtete, davon, dass sich die
Nazis lange nicht in sein Wuppertaler Wohnquartier getraut hatten,
denn er hat als Sozialdemokrat gemeinsam mit Kommunisten aktiv
Widerstand gegen die Nazis geleistet, konnte aber nicht verhindern,
dass seine Tochter, also meine Mutter, freudig und voller
Überzeugung bei den Nazis mitmischte.
In der Schule hingegen habe ich über die Nazizeit wenig gelernt
– und auch das sollten junge Menschen wissen: Es gab in den 50er
und 60er Jahren keine solche Kultur des Erinnerns, wie Ihr, liebe
Schülerinnen und Schüler, sie heute pflegt. Es gab eine
Gesellschaft des Schweigens über den Terror der Nazis, ein
gemeinsames „Es ist vorbei“ und die, die dieses Schweigen
störten, wurden als Nestbeschmutzer beschimpft, weil sie angeblich
dem Ansehen Deutschlands schadeten.
Wenn heute an diesem und an vielen anderen Gedenktagen immer
wieder gesagt wird, dass es wichtig sei, ja unerlässlich, die
Erinnerung wach zu halten und sie an die nachkommenden Generationen
weiterzugeben, damit sich solche Geschehnisse niemals wiederholen,
dann möchte ich daran erinnern, dass es lange in der Bundesrepublik
Deutschland gedauert hat, bis ein Erinnern so wie heute überhaupt
möglich war:
Organisationen wie die VVN-BdA haben keine Ruhe gegeben – und
das ist das größte Verdienst, das, wie ich finde, viel zu wenig
anerkannte Verdienst:
KEINE Ruhe zu geben;
die VVN hat immer und immer wieder daran erinnert,
- dass die Täter sich nach 1945 nicht in Luft aufgelöst
hatten;
- dass in unserer Gesellschaft staatliche Organisationen und
wichtige Schlüsselstellen weiterhin mit Nazis besetzt waren und
neu besetzt wurden.
Damit hat sich die VVN-BdA und Andere nicht beliebt gemacht! Ihre
Arbeiten zur Aufdeckung dieser Zusammenhänge wurden in der Presse
nicht veröffentlicht, sie wurden nur in einem kleinen Kreis gehört
– die gesellschaftliche Ausgrenzung derer, die an die Täter
erinnern wollten, funktionierte perfekt in den 50er und 60er Jahren.
Erst in den späten 60er Jahren fragten junge Menschen nach: „Was
haben meine Eltern und Großeltern gemacht? Welche Verantwortung
haben sie getragen? Was haben unsere alten Lehrer in der Nazizeit
gemacht? Was haben die Professoren an unseren Unis eigentlich in der
Nazizeit veröffentlicht?“
Und diese Fragen führten erst einmal nicht zu Scham und
Schuldbekenntnis bei den Gefragten, sondern zur Diffamierung der
Fragenden.
Die Fragenden konnten sich dann stützen auf Dokumente, auf
Zeitzeugen, auf Berichte, auf wissenschaftliche Arbeiten, die z.B.
die VVN-BdA zusammengetragen hatte.
Und ich selbst,
die ich in jener Zeit des gesellschaftlichen Bewusstwerdens genau
diese Fragen gestellt habe,
deren Fragen in der Schule nicht beantwortet wurden,
als Mensch, der in der Schule nur vom Widerstand der Offiziere des
20.Juni gehört hat, aber sonst nichts,
als Mensch, der aber selbst denken konnte und sich an die
Erzählungen des eigenen Großvaters erinnern konnte,
ich z.B. konnte zurückgreifen auf die Arbeiten und Aktivitäten der
VVN-BdA, die auch mir geholfen haben, viel tiefer in die deutsche
Geschichte einzudringen.
Dafür möchte ich hier und heute und an dieser Stelle
ausdrücklich danken!
Und dies gehört eben auch zur deutschen Geschichte, sich die
Geschichte des Erinnerns vor Augen zu führen – und vielleicht
bringt auch diese Geschichte der Geschichtsschreibung viele
Erkenntnisse…
Meine Damen und Herren,
in den letzten Jahren haben sich viele Unternehmen, viele
Institutionen und Einrichtungen ihrer Geschichte in der Nazizeit
gestellt. Sie haben Historiker beauftragt,
- ihre eigene Rolle zu untersuchen,
- ihre Beteiligung am Funktionieren der Nazi-Verbrechen
aufzudecken.
Der nordrheinwestfälische Landtag wird nun das Seinige tun. In
Übereinstimmung mit allen Landtagsparteien hat das Präsidium
beschlossen, die Vergangenheit der Landtagsabgeordneten seit
Bestehen des Landtags zu untersuchen. Wir werden wohl aufdecken,
dass ehemalige Nazis – nicht in den ersten
Legislaturperioden, sondern nach und nach – wieder auf die
politische Bühne gestiegen sind, aber wir hoffen auch auf andere,
bessere Vergangenheiten der Landtagsabgeordneten.
Und dies tun wir, weil die junge Generation Anspruch auf
Wahrhaftigkeit hat, auch wenn diese Wahrheiten nicht immer bequem
sein werden.
Liebe Schülerinnen und Schüler,
Euch möchte ich bitten: Interessiert Euch auch weiterhin für
unsere Geschichte, aber auch für aktuelle gesellschaftliche
Vorgänge!
Gebt Eure Kenntnisse an Jüngere und auch Ältere weiter! Sprecht
Missstände in unserer Gesellschaft offen an! Und arbeitet aktiv
daran mit, unsere Demokratie für die Zukunft zu sichern! Es wird
Eure Zukunft und Eure Gesellschaft sein!
Gerade vor dem Hintergrund zunehmender Straftaten von Neonazis
und in einer Zeit der wirtschaftlichen Unsicherheit dürfen wir
nicht müde werden zu betonen:
Unsere Demokratie braucht junge Menschen wie Euch, die mit
eigenen Ideen das Miteinander der Generationen, Kulturen und
Religionen konstruktiv gestalten wollen.
An Sie, meine Damen und Herren, richte ich folgende Bitte:
Die politische Bildung der jungen Generation muss uns gemeinsam
am Herzen liegen. Denn nur wer um den Wert von Demokratie und
Freiheit weiß, wird sich auch selbst für deren Erhalt einsetzen.
Nur wer weiß, wie verletzlich das hohe Gut der Menschenwürde
ist, der wird politischem Extremismus und Antisemitismus auch in
Zukunft keine Chance geben.
Richard von Weizsäcker hat einmal treffend formuliert:
„Die Jungen sind nicht verantwortlich für das, was damals
geschah. Aber sie sind verantwortlich für das, was in der
Geschichte daraus wird.“
Wenn ich das große Engagement in den Schulen betrachte, wie wir
es heute beispielhaft von den Jugendlichen des
Freiherr-vom-Stein-Gymnasiums gesehen haben, dann sehen wir, dass
die jungen Menschen es wollen. Also setzen wir alles daran, dass
ihnen auch die Mittel gegeben werden, es zu tun!
Aus der Presse:
Rheinische Post vom 11.04.2011
Remscheid:
Den Lebenden zur Mahnung
http://www.rp-online.de/bergischesland/remscheid/nachrichten/Den-Lebenden-zur-Mahnung_aid_985933.html
Kölner Stadtanzeiger vom 12.04.2011
Gedenken
Der Auftrag zu erinnern
http://www.ksta.de/html/artikel/1302525800529.shtml
Eva Lux, Bürgermeisterin und Mitglied des Landtages |
Gunhild Böth, Rede für die VVN-BdA |
SchlülerInnen auf der Gedenkfeier |
Schülerinnen und Schüler der Klasse 9a Freiherr
vom Stein-Gymnasium |
TeilnehmerInnen |
TeilnehmerInnen |
Die Kränze |
Der Stand der VVN-BdA NRW |
Fotos: Jochen Vogler
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