10.04.2011
Rassistische Arroganz
Der Krieg gegen Libyen wird im Namen der
»internationalen Gemeinschaft« geführt. Dabei machen
bevölkerungsreichste Länder und ein EU-Schlüsselstaat nicht
mit
Von Domenico Losurdo
Mit einem einsamen Veto hatten die USA eine UN-Resolution
blockiert, die den kolonialen Expansionismus Israels im besetzten
Palästina verurteilte. Und jetzt spielen sie sich erneut als
Wortführer und Vertreter der »internationalen Gemeinschaft« auf.
Sie haben den Sicherheitsrat der UNO einberufen, aber nicht etwa, um
die Intervention der saudiarabischen Truppen in Bahrain zu
verurteilen, sondern um die Anordnung der Flugverbotszone und andere
militärische Aktionen gegen Libyen zu fordern und durchzusetzen.
Ein paar militärische Aktionen waren im übrigen schon einseitig
von Washington und einigen seiner Verbündeten unternommen worden:
Dies beweisen die Konzentration der US-amerikanischen Kriegsflotte
vor der libyschen Küste, also der Rekurs auf das klassische
kolonialistische Instrument der Kanonenboot-Politik. Aber das reicht
US-Präsident Barack Obama noch nicht: Mehrmals in der letzten Zeit
hatte er vom libyschen Staatschef Muammar Al-Ghaddafi drohend
verlangt, die Macht abzugeben. Er hatte das libysche Heer
aufgefordert, einen Staatsstreich zu inszenieren. Am schlimmsten ist
aber etwas anderes. Schon seit längerer Zeit haben die USA mit
Frankreich und England ihre Agenten ausgeschickt, um die libyschen
Funktionäre in eine Zwangslage zu bringen: Entweder stellt ihr euch
auf die Seite der Rebellen, oder ihr werdet dem Internationalen
Gerichtshof in Den Haag übergeben, wo ihr den Rest eurer Tage als
verantwortlich für »Verbrechen gegen die Menschheit« im
Gefängnis verbringen werdet.
Ghaddafis Scheinangriffe
Um die Wiederaufnahme der infamsten kolonialistischen Praktiken
zu verdecken, ist eine der üblichen ungeheuren multimedialen
Manipulations- und Desinformationskampagnen entfesselt worden. Es
genügt allerdings schon, etwas aufmerksamer die bürgerliche Presse
zu lesen, um den Betrug zu bemerken. Tag für Tag ist wiederholt
worden, die Flugzeuge Ghaddafis hätten die Zivilbevölkerung
bombardiert. So schrieb Guido Ruotolo in La Stampa vom 1.März: »Es
stimmt, wahrscheinlich hat überhaupt kein Bombardement
stattgefunden«. Hat sich die Lage an den darauffolgenden Tagen
radikal geändert? In der Zeitung Corriere della sera vom 18. März
berichtet Lorenzo Cremonesi aus Tobruk: »Und wie es schon in den
anderen Orten geschehen ist, wo die Luftwaffe eingegriffen hat,
handelte es sich hauptsächlich um Warnangriffe. ›Sie wollten uns
erschrecken. Viel Lärm und kein Schaden‹ hat uns am Telefon einer
der Sprecher der provisorischen Regierung gesagt.« Es sind also
gerade die Rebellen, die den »Genozid« und die »Massaker«
bestreiten, die als Rechtfertigung für die »humanitäre«
Intervention angeführt werden.
Was übrigens die Rebellen anbetrifft: Tag für Tag werden sie
als Verfechter der reinen Demokratie gerühmt, doch folgendermaßen
wird ihr Rückzug vor der Gegenoffensive des libyschen Heeres von
Lorenzo Cremonesi im Corriere della sera vom 12. März beschrieben:
»In der allgemeinen Verwirrung auch Plünderungsepisoden. Besonders
gut sichtbar im Hotel El Fadeel, wo sie Fernseher, Decken, Matratzen
mitgenommen und die Küchen in eine Mülldeponie, die Korridore in
schmutzige Nachtlager verwandelt haben.« Das scheint nicht gerade
das Verhalten einer Befreiungsbewegung zu sein. Zumindest kann
gesagt werden, daß die Auffassung, in Libyen würden das Reich der
Finsternis und das des Lichts miteinander kämpfen, jeder Grundlage
entbehrt.
Mehr noch. Tag für Tag wird die »Grausamkeit« der Repression
in Libyen denunziert. Lesen wir jetzt das, was Nicholas D. Kristof
in der International Herald Tribune aus Bahrain berichtet: »In den
letzten Wochen habe ich Leichen von Demonstranten gesehen, die aus
nächster Nähe erschossen worden sind, ich habe ein Mädchen
gesehen, das sich nach den Prügeln vor Schmerzen wand, ich habe
gesehen, wie das Personal der Krankenwagen geschlagen wurde, weil es
versuchte, Demonstranten zu retten.« Und weiter noch: »Ein Video
aus Bahrain scheint Sicherheitskräfte zu zeigen, die aus geringer
Entfernung einen unbewaffneten Mann mittleren Alters mit einer
Tränengaspatrone auf die Brust treffen. Der Mann fällt zu Boden
und versucht aufzustehen. Daraufhin schießen sie ihm eine Patrone
in den Kopf.« Sollte das noch nicht genügen, so sollte man
beachten, daß es »in den letzten Tagen noch viel schlimmer
geworden ist«. Noch vor der Repression kommt die Gewalt schon im
täglichen Leben zum Ausdruck: Die schiitische Mehrheit ist einem »Apartheid«-Regime
unterworfen.
Der Unterdrückungsapparat wird noch verstärkt durch
»ausländische Söldner« und US-amerikanische »Panzer, Waffen und
Tränengas«. Die Rolle der USA ist entscheidend, wie der Journalist
der International Herald Tribune erläutert, als er eine Episode
beschreibt, die an sich schon aufklärend ist: »Vor ein paar Wochen
ist Michael Slackman, mein Kollege von der New York Times, von den
Sicherheitskräften Bahrains verhaftet worden. Er hat mir erzählt,
daß sie ihre Waffen auf ihn richteten. Da er fürchtete, sie
würden abdrücken, holte er seinen Paß heraus und schrie, daß er
ein amerikanischer Journalist sei. Von da an änderte sich
plötzlich die Stimmung; der Anführer der Gruppe näherte sich und
gab Slackman die Hand, wobei er freundlich sagte: ›Keine Bange!
Wir mögen die Amerikaner!‹«
Tatsächlich ist in Bahrain die Fünfte Flotte der US-Armee
stationiert. Es braucht nicht gesagt zu werden, daß sie die Aufgabe
hat, die Demokratie zu verteidigen bzw. aufzuzwingen; natürlich
nicht in Bahrain und nicht einmal in Jemen, sondern nur in …
Libyen und in den jeweils von Washington ins Visier genommenen
Ländern.
Erdölhunger gewachsen
So abstoßend die Heuchelei des Imperialismus auch sein mag, ist
sie kein ausreichender Grund, um die Verantwortung Ghaddafis mit
Schweigen zu übergehen. Zwar hat er historisch betrachtet das
Verdienst, die Kolonialherrschaft und die Militärstützpunkte
hinweggefegt zu haben, die auf Libyen lasteten, aber es ist ihm
nicht gelungen, eine wirklich große Führungsgruppe aufzubauen.
Außerdem hat er die Erdöleinnahmen dazu benutzt, extravagante
»internationalistische« Projekte im Zeichen des »Grünen Buches«
zu fördern, statt eine nationale moderne und unabhängige
Wirtschaft zu entwickeln. Auf diese Weise ist eine einzigartige
Gelegenheit verlorengegangen, um der Stammeskultur Libyens und dem
Dualismus zwischen Tripolitanien und Cyrenaica ein Ende zu bereiten
und um den wiederholten Machenschaften des Imperialismus eine solide
ökonomisch-gesellschaftliche Struktur entgegenzusetzen.
Und dennoch haben wir auf der einen Seite einen Exponenten der
dritten Welt, der grob, verwirrt, widersprüchlich und bizarr eine
Linie nationaler Unabhängigkeit verfolgt; auf der anderen Seite
einen Leader, der in Washington elegant, geschliffen und raffiniert
die Argumente des Neokolonialismus und des Imperialismus vorbringt.
Nun gut, nur wer der Emanzipation der Völker und der Demokratie in
den internationalen Beziehungen gleichgültig gegenübersteht oder
wer sich vom Auftreten statt von politischen Überlegungen leiten
läßt, kann für Barack Obama (und David Cameron und Nicolas
Sarkozy) Partei nehmen.
Ist Obama wirklich elegant und fein, der – obwohl mit dem
Friedensnobelpreis ausgezeichnet – den weisen Vorschlag der
lateinamerikanischen Länder völlig unbeachtet läßt, das heißt
die Aufforderung von Hugo Chávez und anderer an die in Libyen im
Kampf befindlichen Parteien, sich anzustrengen, den Konflikt
friedlich beizulegen und die territoriale Intergrität des Landes zu
retten? Gleich nach der Abstimmung im Sicherheitsrat ging der
US-Präsident über die soeben verabschiedete Resolution hinaus und
hat Ghaddafi ein Ultimatum gestellt, noch dazu mit dem Anspruch, es
im Namen der »internationalen Gemeinschaft« zu tun. Seit jeher
zeigt die herrschende Ideologie ihren Rassismus, indem sie die
Menschheit mit dem Westen identifiziert; doch diesmal sind aus der
»internationalen Gemeinschaft« nicht nur die beiden
bevölkerungsreichsten Länder der Welt, sondern sogar ein
Schlüsselstaat der Europäischen Union ausgeschlossen. Sich als
Wortführer der »internationalen Gemeinschaft« gebärdend, hat
Obama eine rassistische Arroganz an den Tag gelegt, die noch
schlimmer ist als die Arroganz derjenigen, die in der Vergangenheit
seine Vorfahren versklavt haben.
Ist der britische Premier Cameron etwa elegant und fein, der, um
die innere Opposition gegen den Krieg zu überwinden, verbissen
wiederholt, daß dieser den »nationalen Interessen«
Großbritanniens diene, so, als ob der Appetit auf das libysche
Erdöl nicht schon klar genug wäre? Wer weiß, ob der Hunger nicht
noch größer geworden ist, nachdem die Tragödie Japans einen
dunklen Schatten auf die Atomenergie geworfen hat?
Und was soll man von Sarkozy sagen? In den Zeitungen kann man
ohne weiteres lesen, daß er nicht nur ans Erdöl, sondern auch an
die Wahlen denkt: wie viele Libyer muß der französische Präsident
umbringen, um seine Skandale und seine Taktlosigkeiten vergessen zu
lassen und sich so die Wiederwahl zu sichern?
Soviel ist klar: Die Aggression gegen Libyen läßt die
Wiederaufnahme des Kampfes gegen den Krieg und den Imperialismus
dringlicher denn je werden.
Aus dem Italienischen von Erdmute Brielmayer
Domenico Losurdo lehrt Philosophie an der Universität Urbino
Zuerst erschienen in junge
Welt vom 09.04.2011. Mit freundlicher Genehmigung.
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