10.04.2011
Logik der Besatzung
Vorabdruck. Anmerkungen zur
Gaza-Flottille 2010 von Moshe Zuckermann
Am frühen Morgen des 31. Mai 2010 überfiel ein
Kommando der israelischen Marine in internationalen Gewässern einen
aus sechs Schiffen bestehenden Konvoi, der Hilfsgüter in den
abgeriegelten Gazastreifen liefern sollte. Bei dem unrechtmäßigen
Angriff wurden neun türkische Friedensaktivisten auf der »Mavi
Marmara« getötet. Der Piraterieakt rief weltweit Empörung hervor
und führte zur Einsetzung einer Untersuchungskommission des
UN-Menschenrechtsrates, der in seinem Bericht vom September 2010 zu
dem Schluß kam, das israelische Vorgehen bei der Erstürmung sei
nicht nur »unverhältnismäßig« gewesen, »sondern zeigte auch
ein Übermaß an vollkommen unnötiger und unglaublicher Gewalt«
(siehe jW vom 25.1.2011). Mit der Begründung, der Bericht sei
»ebenso voreingenommen und einseitig wie das Gremium, das ihn
erstellt hat«, wies Tel Aviv die Vorwürfe zurück.
In diesen Tagen erscheint im Hamburger Laika-Verlag
unter dem Titel »Mitternacht auf der Mavi Marmara – Der Angriff
auf die Gaza-Solidaritäts-Flottille« ein zuerst auf Englisch
veröffentlichter Sammelband, der sich mit den politischen und
rechtlichen Dimensionen des Vorfalls befaßt. Es berichten
Teilnehmer und Journalisten von den Ereignissen der Nacht im Mai und
verknüpfen sie mit ihrer Einordnung der dreijährigen Blockade des
Gazastreifens sowie des jahrzehntelangen Konflikts zwischen Israel
und Palästina. Das Buch enthält Texte u. a. von Noam Chomsky,
Sümeyye Ertekin, Norman Finkelstein, Neve Gordon, Glenn Greenwald,
Arun Gupta, Amira Hass, Henning Mankell, Paul Larudee, Gideon Levy,
Lubna Masarwa, Ken O’Keefe, Daniel Luban, Kevin Ovenden, Ilan
Pappé, Henry Siegman, Ahdaf Soueif, Richard Tillinghast, Alice
Walker, Stephen M. Walt, Philip Weiss, Norman Paech und Haneen Zoabi.
Wir veröffentlichen aus dem Band vorab, leicht
gekürzt, den einleitenden Beitrag des in Tel Aviv lehrenden
Soziologen und Historikers Moshe Zuckermann. – Das Buch erscheint,
bevor im Mai eine zweite Free-Gaza-Flottille in See stechen soll.
Die im Epilog von Brechts Dreigroschenoper rigoros gestellte
Frage, was schon der Einbruch in eine Bank sei, gemessen an der
schieren Gründung der Bank, zeichnet sich durch ihren
paradigmatischen Charakter aus. Aufgrund einer gewohnt
instrumentellen Mentalität der »Problemlösung« – die dem
amerikanischen Begriff »trouble shooting« innewohnende Aggression
indiziert die vorbewußt-ohnmächtig gespeicherte Gewißheit, daß
letztlich kein Problem wirklich gelöst werde – beschäftigt man
sich, den verlorenen Groschen im Laternenlicht suchend, mit dem
Offensichtlichen und Selbstverständlichen. Um herauszufinden, was
das »Problem« – mehr noch: das gesellschaftliche beziehungsweise
politische Problem – sei, muß man (zuweilen) bei »Adam und Eva«
ansetzen. Ein Leichtes ist es freilich nicht. Wer hat schon die
Lust, Kraft und Ausdauer, bis auf »Adam und Eva« zurückzugehen,
wenn die Probleme »brandaktuell« sind? Die Tragikomik aktueller
Praxis: Was ist schon das »Brandneue« am jeweiligen Problem,
gemessen an der historisch-übergreifenden Brandstiftung?
Die Darstellung des Ereignisses, welches mittlerweile als
»Gaza-Flottille« kodiert worden ist, sieht sich, seinem
kontroversen Charakter entsprechend, vor das Problem der
unterschiedlichen Rezeption des Geschehenen gestellt. Was war da im
Mai 2010 passiert? Es kommt ganz darauf an, wem man sein Gehör
schenken möchte. Den Initiatoren der Flottille zufolge wollte man
die von Israel gegen den von der Hamas beherrschten Gazastreifen
verhängte Blockade durchbrechen, die Aufmerksamkeit der Welt auf
die humanitären Auswirkungen dieser Blockade ziehen und den
Bewohnern Gazas humanitäre Hilfe zukommen lassen. Nach Angaben
israelischer Politinstanzen unterhält die an der Flottille
beteiligte türkische Organisation IHH, die sich der
Free-Gaza-Bewegung und anderen propalästinensischen Aktivisten
angeschlossen hatte, Verbindungen zu islamistischen Kräften in der
Welt, mithin zu Al-Qaida und dem internationalen Dschihad, weswegen
die Organisation von Israel (als terroristische) für illegal
erklärt worden ist. Während die Flottille-Aktivisten die Schuld am
Menschenleben fordernden Gewaltausbruch auf der »Mavi Marmara« dem
Kommandounternehmen des israelischen Militärs und der Kaperung des
Schiffes zuschrieb, hieß es von seiten des Sprechers der
israelischen Armee, die Soldaten seien im Verlauf der Aktion auf
»schwere physische Gewalt« seitens der an der Protestaktion
beteiligten Aktivisten gestoßen, welche die Soldaten, nach ihrem
eigenen Bekunden, mit Schußwaffen sowie mit Messern und
Schlagstöcken attackiert hätten, weshalb man aus Notwehr auf sie
schießen mußte. Von selbst versteht sich, daß die große Anzahl
der bei der Aktion zu Tode gekommenen Aktivisten in vielen
Medienberichten in der Welt ganz andersartige Reaktionen hervorrief
als in den allermeisten israelischen Medien. Es ließen sich hier
weitere perspektivisch jeweils vorbestimmte Wahrnehmungsunterschiede
anführen, was aber als überflüssig erachtet werden mag; sie
illustrierten nichts weiter als das längst Bekannte: Partikulare
Interessen stabilisieren von vornherein das Normative
fragmentarischer Sichtweisen, wobei dann die jeweilige Sichtweise
ihre Bestätigung im prästabilisierten Normativen sucht.
Kontroverse Wahrnehmungen
Nun läßt sich aber fragen: Gibt es eine Wahrheit
beziehungsweise – bescheidener gegriffen– keine Perspektive, die
der wahrgenommenen Realität näher kommt oder doch zumindest
stimmiger ist als konkurrierende Perspektiven? Ja, zweifellos gibt
es sie. Aber auch sie kann einem Erörterungsparadigma unterworfen
werden, das allzu leicht von einer umfassenderen Wahrheit ablenkt
– dann nämlich, wenn die jeweilige Perspektive im Hinblick auf
ihre rein zweckrational ausgerichtete innere Logik anvisiert wird.
So läßt sich fragen, ob Israels Entscheidung, die »Mavi Marmara«
überhaupt zu kapern, sonderlich klug war; und wenn eine solche
Aktion stattfinden mußte, ob der Modus der Operation rein
militärisch vertretbar war. Wenn es, wie im nachhinein behauptet,
nicht darum ging, Aktivisten auf dem Schiff verletzen, geschweige
denn töten zu wollen, zeugt nicht die Tatsache, daß es dennoch zu
Toten und Verletzten kam, von defizitärer militärischer Planung im
noch besten Fall und von gewaltbeseelter Verblendung im eher
anzunehmenden Fall? Aber auch die Planer der Protestaktion müßten
sich – unter solchen zweckrationalen Gesichtspunkten – fragen
lassen, ob sie ernsthaft in Kauf genommen haben, daß es
zwangsläufig zur brutalen Gewaltanwendung seitens des israelischen
Militärs kommen werde, wenn sich Gewaltbereitschaft auf seiten
eines Teils der Aktivisten zeigen würde. Haben die Aktivisten, die
meinten, sich auf Gewalt einlassen zu sollen, in Betracht gezogen,
daß das Militär – letztlich jedes Militär der Welt – sich mit
nichts anderem würde zufriedengeben können als mit einer
eindeutigen, mithin brutalen Niederschlagung des ihm
entgegengebrachten Widerstands? Sollten sie aber das in ihren
Aktionsplan miteinbezogen haben, was sind ihnen dann die Opfer der
Aktion? In Kauf genommene Märtyrer? Ein weiterer Beweis für
Israels Brutalität? Bedurfte es denn eines weiteren Beweises, und
waren Menschenleben in der Tat der notwendig in Kauf zu nehmende
Preis für die Erbringung dieses Beweises?
Jede dieser Fragen (und viele andere mit ihnen einhergehende)
ließen sich aus der immanenten Logik des konkreten Ereignisses
»Gaza-Flottille« diskutieren und klären. Dies ist bereits in der
Tat in allen erdenklichen Foren geschehen. Dagegen ist an sich auch
nichts einzuwenden: Jede Sensation zeitigt Reaktionen, erst recht,
wenn das Sensationelle einen tragischen Ausgang nimmt (und aus eben
diesem Grund kontrovers rezipiert wird). Politisch ist die
Inszenierung der Sensation zuweilen sogar vertretbar, insbesondere
dann, wenn sich sonst »nichts mehr bewegt«. Im Fall der
Gaza-Flottille war die schiere Bestrebung, die Blockade durch die
Schiffsaktion zu durchbrechen, dem Show-Effekt der militärischen
Operation mutatis mutandis verschwistert. Das Pathos der Sensation
lag beiden zugrunde. Freilich läuft das Sensationelle stets Gefahr,
von der Sache, um derentwillen es inszeniert worden ist, so
abzulenken, daß das ursprüngliche Ziel sich gänzlich dem Diskurs
entschlägt. Das diesbezügliche Muster (teils bewußter
Manipulation) ist wohlbekannt. Indem sie nämlich die Aufmerksamkeit
der Medienkonsumenten auf »gegenwärtige« Relevanz lenkt, läßt
die Nachrichtenaktualität des heute Getöteten den Getöteten des
gestrigen Tages in Vergessenheit geraten und verleiht somit der
Wahrnehmung des Grauens notwendig eine buchhalterische Dimension:
Was von der Möglichkeit, das bestimmte Opfer, und seis durch die
Erinnerung der spezifischen Details seines Schicksals, zu ehren,
übrigbleibt, wird zugunsten des aktuellen Ereignisses geraubt,
bevor auch dieses zu »old news« wird, um im medialen Mülleimer
der Sensationsindustrie zu landen. Nach einiger Zeit erinnert man
sich nur noch an die Statistik – manchmal als Bilanz zwischen
»unseren« und »ihren« Toten; zumeist nicht einmal das, wenn die
Ausmaße der Katastrophe so horrend sind, daß der statistische
Blick sich der Wahrnehmung von selbst aufzwingt und das Schicksal
der einzelnen in der Anonymität des allgemeinen Chaos
untergeht.
In israelischer Hand
So wichtig die Klärung der Vorkommnisse auf der »Mavi Marmara«
an sich sein mag, muß es vor allem darum gehen, das zu erörtern,
was die Gaza-Flottille zum (realen oder vermeintlichen) Muß hat
werden lassen. Nicht also die intendierte Durchbrechung der
Blockade, sondern die Grundvoraussetzung der über den Gazastreifen
verhängten Blockade (beziehungsweise dessen Einschnürung) muß in
den Brennpunkt der kritischen Betrachtung rücken. Dabei muß
freilich doch auf »Adam und Eva« zurückgegangen werden. Denn so
sehr der Einbruch in eine Bank als solcher in dem ihn generierenden
System entsprechend geahndet werden muß, darf doch das System, das
diesen Einbruch zwangsläufig hervorgebracht hat, als das
eigentliche Problem angesehen werden.
Es ist nun diese Grundannahme, die der Erörterung des
Flottillenereignisses das Zurückgehen auf »Adam und Eva« –
mithin auf »Kain und Abel« – aufzwingt. Dabei muß man nicht
gleich die Urgründe von 1897 oder 1948 in Anschlag bringen, sehr
wohl aber den 1967er Krieg und seine Folgen. Denn nahezu alles, was
sich zwischen Israelis und Palästinensern seit nunmehr über
vierzig Jahren politisch, wirtschaftlich, militärisch und
ideologisch abgespielt hat und weiterhin abspielt, ordnet sich dem
einen, das Verhältnis der beiden Kollektive zueinander
unhintergehbar bestimmenden Faktor unter: der von Israel
praktizierten Okkupation palästinensischer Territorien. Zu
bedenken gilt es dabei vor allem, daß die im Krieg erfolgte
Militärbesatzung der Gebiete mittlerweile in ein mit großem Elan
angelegtes Siedlungswerk gigantischen Ausmaßes umgeschlagen ist.
Nicht von ungefähr sind Beobachter auf beiden Seiten zur
Überzeugung gelangt, daß der im Westjordanland über Jahrzehnte
(durch die von Israel angelegte Infrastruktur) verfestigte
Herrschaftszustand »irreversibel« geworden sei, mithin die Option
einer Zwei-Staaten-Lösung des israelisch-palästinensischen
Konflikts in eine objektive Sackgasse geritten habe.
Auf israelischer Seite sah sich diese Expansionspraxis, welche
sich Sicherheitserwägungen verdankt haben mochte, sehr bald einer
fundamentalreligiösen Ideologisierung des stetig anwachsenden
Siedlungswerks verschwistert. Messianisch beseelte
Nationalreligiöse deuteten die Kolonisierung der besetzten Gebiete
als »Rückkehr in das Land der biblischen Urväter«, vor allem
aber als »Befreiung von gottverheißendem Land«. Auf
palästinensischer Seite schärfte sich das kollektive Bewußtsein
und die mit diesem einhergehende Widerstandsemphase gerade an dieser
israelischen Besatzungs- und Annexionsdynamik, die selbst zu Zeiten
des Oslo-Prozesses in den neunziger Jahren nicht abriß. Eines muß
gleichwohl im Hinblick auf den gesamten Okkupationszusammenhang
festgestellt werden: Mochten die Palästinenser und die Israelis
ihre je eigenen Fehler bei periodisch aufkommenden Versuchen, den
blutigen Konflikt politisch beizulegen, begehen, so stand auch stets
fest, daß die realen Mittel zu seiner Lösung durchgehend in
israelischer Hand lagen.
Es war und ist nun einmal Israel, das die Territorien unter
gewaltsamer Herrschaft hält; entsprechend sind die
Machtverhältnisse alles andere als symmetrisch verteilt. Man drehe
und wende es, wie man will, es ist Israel, das die Unterdrückung
praktiziert, deren Opfer die Palästinenser sind. Es ist in erster
Linie auch Israel, das die Unterdrückung real aufzuheben
vermag.
Dilemma des Zionismus
Die Leiderfahrung der Palästinenser hat das staatsoffizielle
Israel indes kaum je berührt. Man nahm den selbstbewirkten Zustand
perpetuierter Repression hin und erging sich in ideologischen
Rationalisierungen, daß die Palästinenser sich ihre Lage selbst
zuzuschreiben hätten; daß sie demokratieunfähig seien, daher auch
keinen ernstzunehmenden Partner für wirkliche Friedensgespräche
abgeben könnten. Nicht von ungefähr wurde gerade der israelische
Staatsmann, der es mit dem Frieden zwischen beiden Kollektiven ernst
zu meinen schien, ermordet. Denn zu keiner Zeit in den vergangenen
Dekaden, in denen sich eine lippenbekennende Friedenssehnsucht in
Israel selbst zelebrierte, wurde die vorgebliche
Friedensbereitschaft der Israelis zum Gegenstand ernstgemeinter
Erörterung erhoben, geschweige denn real auf die Probe gestellt.
Daß man den Frieden wollte, war klar, nicht aber, ob man auch
bereit war, den dafür zu zahlenden Preis einer realen Beendigung
der Okkupation (also Rückgabe der besetzten Gebiete) zu entrichten.
Was man dabei aber übersah (beziehungsweise bewußt ignorierte),
war die mit der Umgehung des Friedens zwangsläufig entstehende
Sackgasse, in welche sich der zionistische Staat nolens volens
hineinmanövrierte und von dieser nunmehr in der Stagnation
fortwährender Perspektivlosigkeit gehalten wird: Gerade das
monströs angewachsene Siedlungswerk im Westjordanland und die
Staat-im-Staat-Funktion, welche die Siedler im heutigen Israel
mittlerweile innehaben, dürften klargemacht haben, daß ein im
Rahmen der finalen israelisch-palästinensischen Friedensregelung
staatsoffiziell getroffener Beschluß, sich aus den besetzten
Gebieten der Westbank zurückzuziehen, die Gefahr birgt, einen
innerjüdisch-israelischen Bürgerkrieg zu entfachen. Gibt man aber
die okkupierten Territorien nicht zurück und behält somit die
staatliche Oberhoheit Israels über diese bei, bewirkt man
zwangsläufig die objektive Entstehung einer binationalen Struktur,
bei der die Juden früher oder später zur Minorität im eigenen
Land werden müssen.
Die zweite dieser beiden Möglichkeiten gilt wohl den
allermeisten jüdischen Israelis als die größere Bedrohung – sie
würde ja nicht weniger als das Ende des historischen zionistischen
Projekts bedeuten. Es will gar scheinen, daß die »demographische
Zeitbombe«, als welche sie im gängigen israelischen Diskurs
mittlerweile apostrophiert wird, inzwischen selbst ins ideologische
Bewußtsein der israelischen Politprominenz (etwa bei Schimon Peres,
Tzipi Livni, Ehud Olmert und Ehud Barak) vorgedrungen ist.
Auszugehen wäre davon, daß sogar ein Ariel Scharon diesen Faktor
im Sinn hatte, als er im Jahre 2005 den – im Hinblick auf Scharons
Lebenswerk, der massiven Besiedlung der besetzten Gebiete, in der
Tat eklatanten – unilateralen Rückzug aus dem Gazastreifen
initiierte und vollzog. Daß er damit die Machtübernahme der Hamas
im Gazastreifen mitbewirkte, dürfte ihn kaum gestört haben, wenn
er sie noch mitbekommen hätte. Denn das Divide-et-impera-Prinzip,
welches man aus israelischer Sicht der Verfeindung zwischen der
Hamas und der PLO zuschreiben konnte, war ja schließlich ein
Erbteil israelischer Politik bereits in den siebziger Jahren: Schon
damals unterstützte die israelische Politik religiöse Elemente im
palästinensischen Lager gegen die säkulare PLO, die man unter
Yassir Arafat für den gefährlichen Feind Israels erachtete. Nicht
daß Scharon sich die Hamas als eine auf Israel Raketen abfeuernde
Machtinstanz direkt gewünscht hätte; vielmehr war es ihm darum zu
tun, die anderthalb Millionen palästinensischen Bewohner des
Gazastreifens der israelischen Oberhoheit zu entziehen, um
längerfristige »Ruhe« im Westjordanland zu erlangen, vor allem
aber auch das »demographische Problem« zu verringern.
Okkupation und Blockade
Daß die an die Macht gelangte Hamas dann als das auftrat, was
sie nun einmal ist – eine fundamentalreligiöse Bewegung, die
jegliche Friedensabkommen mit Israel kategorisch ablehnt–‚ war
der hohen israelischen Politik zwar lästig, zugleich aber auch
mitnichten unwillkommen: Nichts Günstigeres hätte man sich
wünschen können als die Schwächung der PLO durch die rigoros
auftretende, gar zum Bürgerkrieg bereite Gegnerschaft der Hamas.
Auch den durch diese Organisation proklamierten bewaffneten Kampf
gegen Israel konnte man dazu benutzen, um auf Gaza immer wieder
brutal einzuschlagen, vor allem aber, um die ökonomische
Einschnürung des Gazastreifens und dessen militärisch-territoriale
Blockade zu legitimieren. Die dem Islamismus verschriebene Hamas
durfte (spätestens nach dem September 2001) auf keine politische
Beliebtheit, geschweige denn Solidarität im Westen hoffen. Und so
konnte auch im Westen kaschiert beziehungsweise ignorierend
hingenommen werden, daß es in erster Linie die palästinensische
Bevölkerung Gazas war, die an ihrer eigenen Regierung (welche sie
freilich selbst gewählt hatte), vor allem aber an der israelischen
Politik gnadenloser Absperrung des dichtbesiedelten, armseligen
Landstrichs lebensweltlich, wirtschaftlich und eben auch immer
wieder militärisch zu leiden hatte.
Was immer die Initiatoren der Gaza-Flottille zu ihrer waghalsigen
Unternehmung bewogen haben mag (und unabhängig davon, ob es von
vornherein ratsam war, sich mit dem israelischen Militär anlegen zu
wollen), eines dürfte klar sein: Die Flottille wäre nicht zustande
gekommen, wenn es nicht die Blockade gegeben hätte; die Blockade
hätte es ohne die Heraufkunft der Hamas-Regierung nicht gegeben;
die Hamas-Regierung ist aber das Erzeugnis des unilateralen
Rückzugs der Israelis aus dem Gazastreifen unter dezidiert
würgender Einschnürung des vorgeblich befreiten Territoriums;
diese repressive Maßnahme liegt nun aber ihrerseits ganz in der
Logik dessen, was die Hamas-Regierung, die Blockade und den
kläglichen Versuch ihrer Durchbrechung zeitigte: der Okkupation.
Wer aber von der Okkupation nicht reden will, sollte auch von
Freiheit, Demokratie und Frieden schweigen.
Der Soziologe Moshe Zuckermann lehrt seit 1990 am Cohn
Institute for the History and Philosophy of Science and Ideas
(Universität Tel Aviv) und war von 2000 bis 2005 Direktor des
Instituts für Deutsche Geschichte in Tel Aviv. Zuletzt erschien von
ihm: »Antisemit!« Ein Vorwurf als Herrschaftsinstrument. Wien,
Promedia Verlag 2010, 208 Seiten, 15,90 Euro. Auch im jW-Shop
erhältlich
Moustafa Bayoumi (Hrg.): Mitternacht auf der Mavi Marmara.
LAIKA-Verlag, Hamburg 2011, 369 Seiten, 19,90 Euro
Zuerst erschienen in junge
Welt vom 09.04.2011. Mit freundlicher Genehmigung.
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