25.12.2010
Wohin mit den Armen? Wohin mit den Reichen?
Diese Meldungen standen an einem und demselben Tag
in der Zeitung: „Zwei Männer stehen vor Gericht, weil sie Essen
aus Müllcontainern von Supermärkten fischen.“ Das war eine
Meldung aus Sachsen. „Ratlosigkeit zeigten diverse Kassenvertreter
angesichts der bereits jetzt zahlreich vorhandenen säumigen Zahler
von Zusatzbeiträgen.“ Bismarck hat einst die Sozialgesetze als
taktisches, aber wirksames Mittel gegen die Linken eingeführt. Nun
werden diese Gesetze abgeschafft, und schon können viele Leute
nicht zahlen.
„Die Betroffenen der anstehenden Kürzungen, die Erwerbslosen,
haben keine Lobby. Im Moment werden diese Leute gerade durch die
Hetze von Sarrazin und Co. noch weiter aus der Gesellschaft
herausgedrängt und eine Spaltung zwischen Lohnabhängigen und
Arbeitslosen produziert. Die Folge ist, dass keiner auf der Seite
der Arbeitslosen steht, wenn bei ihnen gekürzt wird.“ Das sagt
Lena Ruducha vom Bündnis "Wir zahlen nicht für eure Krise".
Die Rechtlosen werden immer rechtloser, die Armen immer Ärmer.
Wer sich wehrt, bekommt es mit der Polizei zu tun, denn auch dies
stand am selben Tag in der Zeitung: „Die Straflosigkeit von
Beamt/innen ist eines der zentralen menschenrechtlichen Probleme in
Europa“, schreibt Amnesty über die 98 Prozent der prügelnden
Polizist/innen, die nie bestraft werden. Und dann: „Kommt beim
Castortransport auch die Bundeswehr zum Einsatz? Die Bundesregierung
hat entsprechende ‚Amtshilfe’ bestätigt.“ Aber vom Krieg an
der Heimatfront darf man nicht sprechen? Als ich diesen Begriff in
einem Artikel benutzte, bekam ich einen Eintrag im
Verfassungsschutzbericht von Bayern und Baden-Württemberg.
All dies las ich an einem Tag in der Zeitung. Es war ein ganz
gewöhnlicher Tag. Ungewöhnlich war, dass ich ausgerechnet an
diesem Tag bei Karl Marx und Friedrich Engels nachlas und dies fand:
„Alle bisherige Gesellschaft beruhte auf dem Gegensatz
unterdrückender und unterdrückter Klassen. Um aber eine Klasse
unterdrücken zu können, müssen ihr Bedingungen gesichert sein,
innerhalb derer sie wenigstens ihre knechtische Existenz fristen
kann. Der Leibeigene hat sich zum Mitglied der Kommune in der
Leibeigenschaft herangearbeitet, wie der Kleinbürger zum Bourgeois
unter dem Joch des feudalistischen Absolutismus. Der moderne
Arbeiter dagegen, statt sich mit dem Fortschritt der Industrie zu
heben, sinkt immer tiefer unter die Bedingungen seiner eigenen
Klasse herab. Der Arbeiter wird zum Pauper (Armen), und der
Pauperismus (katastrophale Massenarmut) entwickelt sich noch
schneller als Bevölkerung und Reichtum. Es tritt hiermit offen
hervor, dass die Bourgeoisie unfähig ist, noch länger die
herrschende Klasse der Gesellschaft zu bleiben und die
Lebensbedingungen ihrer Klasse der Gesellschaft als regelndes Gesetz
aufzuzwingen. Sie ist unfähig zu herrschen, weil sie unfähig ist,
ihrem Sklaven die Existenz selbst innerhalb seiner Sklaverei zu
sichern, weil sie gezwungen ist, ihn in eine Lage herabsinken zu
lassen, wo sie ihn ernähren muss, statt von ihm ernährt zu werden.“
Vor über 160 Jahren müssen Karl Marx und Friedrich Engels –
von ihnen stammen obige Sätze aus dem „Kommunistischen Manifest“
– schon geahnt haben, was den Sarrazynismus von heute ausmacht.
Die unterdrückende Klasse will nicht einmal die Existenzsicherung
für die Ärmsten der Armen. Deshalb sollen diese ausgrenzt werden
(Integration oder Ausländer raus! Raus aus unseren Sozialsystemen)
bzw. ihre Mittel sollen immer wieder gekürzt werden, so dass das
Leben sogar mit Hartz IV unmöglich wird. „Elterngeld wird auf
Hartz IV angerechnet“, heißt es in diesen Tagen vor Weihnachten.
Wer arm ist, soll keine Kinder haben. Arme soll es überhaupt nicht
geben – nicht, indem man ihre Armut abschafft, sondern die Armen
selbst. Es gab eine Zeit, da wurden die Überzähligen durch
Weltkriege dezimiert. Die Rüstungsindustrie – Deutschland liegt
hier weltweit an dritter Stelle – arbeitet wieder daran. Und die
Arbeiter in der Rüstungsindustrie machen mit.
Die unterdrückende Klasse ist insofern heute weit rigoroser als
frühere unterdrückende Klassen. Erkannt wurde aber auch, dass die
Konkurrenz unter den Unterdrückten die Herrschaft der Unterdrücker
sichert. (Siehe die Äußerung der Sprecherin von "Wir zahlen nicht
für Eure Krise") Daher das gegeneinander Ausspielen der
Unterdrückten, die Konkurrenz, die Entsolidarisierung zwischen In-
und Ausländern, das Mitmachen der kleinen Leute an großen Kriegen.
Marx und Engels sind allerdings im „Manifest“ auch
optimistisch. (Wenngleich der Hinweis auf die Entwicklung der „großen
Industrie“ noch zu untersuchen wäre.) Sie schreiben:
„Der Fortschritt der Industrie, dessen willenloser und
widerstandsloser Träger die Bourgeoisie ist, setzt an die Stelle
der Isolierung der Arbeiter durch die Konkurrenz ihre revolutionäre
Vereinigung durch die Assoziation. Mit der Entwicklung der großen
Industrie wird also unter den Füßen der Bourgeoisie die Grundlage
selbst hinweggezogen, worauf sie produziert und die Produkte sich
aneignet. Sie produziert vor allem ihren eigenen Totengräber.“
Auch dies stand an jenem Tag in jener Zeitung: Georg Schramm, der
Kabarettist, spricht zu den Demonstranten gegen den neuen Bahnhof in
Stuttgart. „Erst spricht er über Afghanistan, dann über die
Banker und am Schluss sogar über den Kapitalismus, den man
inzwischen offenbar auch in Stuttgart wieder beim Namen nennen darf.
‚Sozialismus und Kapitalismus sind gleichermaßen gescheitert’,
ruft er aus – und fügt hinzu, dass er hier und jetzt die ersten
Schritte in ein Danach erkennen könne. Der Platz bricht in Jubel
aus. Selbst ein Profi wie Schramm ist gerührt von dieser Reaktion.“
„Besser als gerührt sein ist sich rühren“ (Bert Brecht).
Die auf dem Platz vor dem Bahnhof sind schon dabei.
Frohe Weihnachten.
Alle Zitate aus Neues Deutschland vom 27. Oktober 2010
Ulrich Sander
|