23.12.2010
Die Vergangenheit des Bundesgerichtshofes harrt
noch der Aufarbeitung
VVN-BdA-Sprecher fordert
Entschuldigung für Fälle von Schutz für Naziverbrecher
Der "Umgang mit der NS-Vergangenheit" ist
Thema einer großen Anfrage der Fraktion Die Linke im Bundestag.
Darin erkundigen sich die Abgeordneten unter anderem danach, von wie
vielen "NS-belasteten Personen" - NSDAP-Mitglieder,
Angehörige von SA, SS und Gestapo sowie an NS-Verbrechen beteiligte
Personen - in Institutionen des Bundes seit 1949 die Bundesregierung
insgesamt ausgeht. Zu hoffen ist, dass auch die Personalpolitik der
höchsten Bundesgerichte aufgedeckt wird. Auch diese Gerichte hatten
ihre braune Vergangenheit. Die äußerte sich beim Bundesgerichtshof
sowohl in personeller Hinsicht als auch in Form von die Nazis
begünstigenden Urteilen. VVN-BdA-Bundessprecher Ulrich Sander
fordert den Bundesgerichtshof auf, sich zu entschuldigen.
Der Bundesgerichtshof und seine
Freunde
Erinnerung eine wechselhafte
Vergangenheit: Doch stets ging es gegen links
Von Ulrich Sander
Der "Umgang mit der NS-Vergangenheit" ist Thema einer
großen Anfrage der Fraktion Die Linke im Bundestag. Darin
erkundigen sich die Abgeordneten unter anderem danach, von wie
vielen "NS-belasteten Personen" - NSDAP-Mitglieder,
Angehörige von SA, SS und Gestapo sowie an NS-Verbrechen beteiligte
Personen - in Institutionen des Bundes seit 1949 die Bundesregierung
insgesamt ausgeht. Auch wollen sie wissen, in welchen
Bundesministerien ab 1949 "besonders viele Personen mit
NS-Belastungen beschäftigt" waren und ob es ab 1949
Überprüfungen von Bewerbern für den öffentlichen Dienst
"bezüglich einer möglichen NS-belasteten Vergangenheit"
gab.
Zu hoffen ist, dass auch die Personalpolitik der höchsten
Bundesgerichte aufgedeckt wird. Auch diese Gerichte hatten ihre
braune Vergangenheit. Die äußerte sich beim Bundesgerichtshof
sowohl in personeller Hinsicht als auch in Form von die Nazis
begünstigenden Urteilen. Von letzteren will sich der
Bundesgerichtshof bereits zum Jahreswechsel 1995/96 verabschiedet
haben. Doch auf welche dubiose Weise.
"Der Bundesgerichtshof (BGH), 5. Senat in Berlin, hat sich
von seinen Urteilen zugunsten der furchtbaren Juristen des
Naziregimes abgewendet, die als NS-Richter Todesurteile zu
verantworten hatten. Diese waren vom BGH von Strafe verschont
worden." So steht es in der Einleitung zur Dokumentation in der
Frankfurter Rundschau vom 5. Januar 1996 "Die Strafe muß in
einem gerechten Verhältnis zur Schuld stehen".
Nazirichter ohne
"Unrechtsbewusstsein"
Das höchste Gericht befasste sich damals mit der Justiz der DDR
- und urteilte hart, nicht ohne die bisherige BGH-Praxis nunmehr zu
kritisieren. Sämtliche Blutrichter der NS-Zeit hatte das höchste
Gericht freigesprochen, denn sie hätten kein Unrechtsbewusstsein
gehabt, ihr Handeln wäre keine Rechtsbeugung gewesen. Dies
Unrechtsbewusstsein hätten die DDR-Richter aber bei der Aburteilung
von NS-Kriegsverbrechern haben müssen, meinte das Gericht, das
natürlich jahrelang auch US-Juristen nach gleichen Maßstäben
hätte aburteilen können, wenn sie zum Urlaub nach Heidelberg oder
Köln kamen. Denn auch sie haben oftmals an Todesurteilen
mitgewirkt. Aber da darf man dann kein Unrechtsbewusstsein
verlangen.
Die Bundesrichter hatten also einige Waldheim-Richter
abzuurteilen - und die mußten sie streng bestrafen.
Der BGH übte somit "Selbstkritik" und sagte auch dies:
Die Rechtsprechung in der Bundesrepublik Deutschland sei in den 50er
Jahren zum Teil "politische Justiz" gewesen: in der
Periode des "Kalten Krieges" sei "auf beiden
Seiten" eine "politische Justiz mit einer aus heutiger
Sicht nicht mehr nachvollziehbaren Intensität betrieben"
worden.
"Selbstkritik" führte
nicht zur Umkehr
Aus zwei Gründen kann eine solche "Selbstkritik" des
BGH nur als Begründung für die faktische Fortsetzung der Justiz
zugunsten alter Nazis und des Kalten Krieges aufgefasst werden:
Es wurden nicht die politischen Urteile des BGH aufgehoben, die
verbindlich waren für das gesamte Rechtswesen in den fünfziger und
sechziger Jahren. Auf der Grundlage dieser Urteile sind rund
zehntausend Kommunistinnen und Kommunisten und solche, die man
dafür hielt, darunter antifaschistische Widerstandskämpfer, die
unter Hitler gelitten hatten, von einer bundesdeutschen
Gesinnungsjustiz zu Haftstrafen bis zu fünf Jahren Zuchthaus
verurteilt worden. Es wurde gegen eine halbe Million Bürgerinnen
und Bürger ermittelt. Arbeitslosigkeit, Berufsverbote und
erhebliche Diskriminierungen für völlig Unbeteiligte waren
zigtausendfach die Folge. Bis heute sind die Opfer dieser Justiz des
Kalten Krieges nicht rehabilitiert worden. Ihre Renten sind
gemindert, ihre Rentenansprüche als Opfer des Faschismus blieben
aberkannt.
Es wurden zudem offenbar die Todesurteile in der Nazizeit nur
deshalb 50 Jahre zu spät einer Kritik unterzogen und es wurde nun
allenfalls ein höchstrichterliches Stirnrunzeln über die früheren
braunen Kollegen mit Blut an den Händen - die es sogar im BGH gab -
verkündet, weil es ansonsten vollends grotesk gewirkt hätte, nun
Todesurteile in der DDR zur Grundlage einer Verurteilung nach
Siegermentalität zu machen.
Die braunen Kollegen sind biologisch ausgeschieden oder in
Pension. Sie können getrost unter Aktenzeichen 5 StR 747/94 einer
wirkungslosen pauschalen, aber "besonders kritischen
Überprüfung" unterzogen werden, "die der Senat als
berechtigt erachtet", wenn damit nur die Grundlage für die
moderne antikommunistische politische Strafjustiz und für die
fortdauernde juristische Schonfrist für alte und neue Nazis gelegt
werden kann.
NS-Urteile gegen Widerstandskämpfer
vom BGH bestätigt
Die Schonung der Nazis durch den BGH kommt auch in folgendem Fall
zum Ausdruck, der ausführlicher geschildert werden soll:
Der Reichsminister der Justiz schrieb am 19. Oktober 1942 an den
Oberreichsanwalt beim Volksgerichtshof: "Bei der Überlassung
des Leichnams an ein Institut gemäß Ziff. 39 der RV. vom 19. 2.
1939 ist das Anatomische Institut der Universität in Berlin zu
berücksichtigen." Der Leichnam, der erst acht Tage später
einer werden sollte, trug den Namen des jüngsten vom
Volksgerichtshof zum Tode verurteilten und des ebenfalls jüngsten
in Plötzensee hingerichteten Deutschen: Helmuth Hübener aus
Hamburg. Er hatte "Feindsender" abgehört und Flugblätter
formuliert, vervielfältigt und mit mindestens drei Freunden
verbreitet. 17jährig wurde er hingerichtet.
Helmuth Hübener hat somit kein Grab gefunden. Seine Akte fand
sich aber in Archiven der DDR und des Document Centers der USA in
Westberlin. Sie fand sich nicht in der Justizverwaltung Hamburgs,
seiner Heimatstadt. Allerdings gibt es noch die Personalakte der
Stadtverwaltung, wo Hübener als Lehrling tätig war. Sie ist in
einer Dauerausstellung in der Verwaltungsschule Hamburgs
ausgestellt. Nicht mehr vorhanden, weil sie vernichtet wurden, sind
die Akten, die auf die Mörder hinweisen. In den Akten der Hamburger
Gestapo lesen wir allerdings: "Am 20. Januar 42 nachmittags
versuchte der obige Verw.Lehrling in meinem Arbeitszimmer 305 seinem
Kameraden, Verw.Lehrling K., in Gegenwart des Verw.Lehrlings D. ein
zusammengefaltetes Schriftstück in die Hand zu drücken ... Mir kam
sofort der Gedanke, daß es sich unbedingt um eine verbotene
Angelegenheit handeln müßte ... Während der ganzen Zeit habe ich
mich bemüht,... Unterlagen zu erhalten, welches mir endlich am 4.
2. 42 nachmittags gelang."
BGH mit viel Verständnis für
Gestapo-Spitzel
Es war kein gewöhnlicher Denunziant, der diesen Bericht der
Gestapo vorlegte, sondern einer, der wochenlange Recherchen
anstellte, um seine Opfer zur Strecke zu bringen. Der Bericht des
Heinrich Mohns, Nazi-Obmann in der Hamburger Sozialbehörde, brachte
dem 17jährigen Lehrling Helmuth Hübener nach einer Verhandlung vor
dem Volksgerichtshof den Tod. Mohns kam nicht etwa ungewollt und
zufällig hinter die Konspiration der Jugendgruppe, um sich dann als
"Mitwisser" selber gefährdet vorzukommen, wie ihm 1953
der Bundesgerichtshof die Brücken baute, aus dessen Akten Teile
erhalten sind. Mohns war ein ehrenamtlicher Gestapo-Aktivist. Das
gegen ihn ergangene Urteil wurde vom höchsten Bundesgericht
aufgehoben, und das ist bezeichnend für die faktische
Nazi-Komplicenschaft großer Teile der westdeutschen
Nachkriegsjustiz.
Wurde Hübener gar ganz legal und "kraft Gesetzes"
getötet, wie der Bundesgerichtshof am 25. Juni 1953 zu bedenken
gab? Die BGH-Richter Dr. Geier, Dr. Koffka, Schmidt, Siemer und
Schmitt hoben an diesem Tag das in Hamburg 1950 gegen Mohns
gefällte Urteil von zwei Jahren Gefängnis auf, um es an das
Hamburger Schwurgericht zurückzuverweisen, nicht ohne allerlei
Ratschläge zu geben: "Die Verurteilung kann nicht bestehen
bleiben, da die Verordnung Nr. 47 der Britischen Militärregierung,
die die deutschen Gerichte zur Verfolgung von Straftaten aus dem KRG
Nr. 10 ermächtigte, durch die Verordnung Nr. 234 des Britischen
Hohen Kommissars aufgehoben worden ist. Das Schwurgericht muß daher
die Tat des Angeklagten jetzt nach deutschem Strafrecht aburteilen.
Hierbei ist insbesondere die Frage zu prüfen, ob der Angeklagte
sich der Beihilfe zur Tötung oder Freiheitsberaubung schuldig
gemacht hat. Das Schwurgericht wird dabei auch zu prüfen haben, ob
bei den gegebenen Umständen die Handlungsweise des Angeklagten auch
dann rechtswidrig war, wenn er kraft Gesetzes zur Anzeige der
Jugendlichen verpflichtet war (Hervorhebungen durch den BGH). Falls
es darauf ankommt, ob der Angeklagte durch Notstand entschuldigt
ist, wird näher erörtert werden müssen, ob der Angeklagte durch
seine Ermittlungen eine etwaige Notstandslage verschuldet hat. Das
wird im wesentlichen davon abhängen, ob er bei Beginn der
Ermittlungen damit rechnete, daß die Jugendlichen durch ihr
Verhalten Landesverrat begingen, und daß es ihm nach Kenntnis ihrer
Persönlichkeit nicht gelingen würde, sie durch Vorstellungen und
Ermahnungen von ihrem Treiben abzubringen."
Das zweite Todesurteil kam aus
Karlsruhe
Das 1953er Urteil des Bundesgerichtshofes liest sich heute wie
eine erneute Verurteilung von Helmuth Hübener. Dem Spitzel Mohns
wurde "Notstand" bescheinigt, und dem Hamburger Gericht,
das Mohns zunächst 1950 zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt hatte,
wurde die Auffassung nahegelegt, daß die Jungen um Helmuth
"Landesverrat" begingen und uneinsichtig waren, die
"Ermittlungen" Mohns gegen seine jungen Kollegen jedoch
gesetzlich vorgeschrieben gewesen seien. (Aktenzeichen 5 StR 217/53)
"Die Entscheidung entspricht dem Antrag des
Oberbundesanwalts", heißt es dann auch am Ende des faktischen
Freispruchs für den Mann, der die vier Jugendlichen ans
Freisler-Gericht auslieferte.
Bei der Spurensuche nach Helmuth Hübener wurde der Skandal
sichtbar: Schon Mitte der siebziger Jahre wurden sämtliche den Fall
Mohns/Hübener und viele andere die "Aufarbeitung der
Nazizeit" betreffenden Akten in Hamburg vernichtet. Bekannt
wurde, daß das 1950er Urteil gegen Mohns tatsächlich aufgehoben
blieb und daß er niemals gesessen hat - wie auch die Richter des
Volksgerichtshofes nicht, die Hübener an den Galgen und seine drei
Mitkämpfer ins Zuchthaus brachten. Die Richter waren später
unauffindbar oder verhandlungsunfähig.
Wann entschuldigt sich der
Bundesgerichtshof?
Von der Aufarbeitung des Falls Hübener blieb nur der
Urteilsspruch des Bundesgerichtshofes übrig, die Akten aus Hamburg
sind vernichtet worden. Die Mörder des 17jährigen Helmuth Hübener
hatten alle einen geruhsamen Lebensabend.
Schon seit Jahren schlage ich Fernsehsendern vor, über Hübener
eine Dokumentation zu produzieren, aber immer kommen Antworten wie:
Wir hatten doch gerade den 20. Juli. Als nun kürzlich an einer
Hamburger Schule ein Wandbild zur Hübener-Gruppe eingeweiht wurde,
sagte ich in einer kurzen Ansprache: "Vielleicht gibt dieses
Wandbild nun einen neuen Anstoß. Das Wandbild ist ja das älteste
Medium der Menschheit, vielleicht hilft es den modernsten Medien auf
die Sprünge. Wichtig wäre jetzt auch, dass sich der
Bundesgerichtshof entschuldigt, der die Untat an Hübener
rechtfertigte - es sei ja Landesverrat gewesen und der Denunziant
habe ja so handeln müssen wie er handelte in seiner Notlage."
Späte Einsichten gibt es jedoch auch heute, so zeigt es sich mit
der Herausgabe von "Das Amt und die Vergangenheit" über
das Naziaußenministerium. Da sollte es endlich auch eine Einsicht
des Bundesgerichtshofes geben. Späte Einsichten sind besser als
keine Einsichten.
Die Anfrage vom 06.12.2010 der Fraktion Die Linke im Deutschen
Bundestag: http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/17/041/1704126.pdf
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