Logo VVN/BdA NRW

Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes
Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten

Landesvereinigung NRW

 

22.10.2010

Enthüllungen über die Rolle des Dr. Ernst Achenbach von der FDP

Er half bei der Deportation französischer Juden

Im Rahmen der Aktion „Verbrechen der Wirtschaft 1933 – 1945“ ist die VVN-BdA bestrebt, über die Rolle der Täter aus den ökonomischen Eliten der Nazizeit öffentlich Aufklärungsarbeit zu leisten. Zu den besonders nachhaltig wirkenden Tätern gehörte der Nazi-Diplomat, Jurist und später führende FDP-Politiker Dr. Ernst Achenbach aus Essen. Er baute mit den SS-Tätern aus Himmlers Reichssicherheitshauptamt Dr. Werner Best und Prof. Franz Six einen Apparat zur Strafbefreiung von Mördern auf und hatte großen Einfluss sowohl vor als auch nach 1945. Jetzt hat sich der Rat der Stadt Essen mit Achenbach und der von der VVN-BdA geforderten Aufklärung über ihn befasst, - allerdings ablehnend. Die VVN-BdA kündigte neue Enthüllungen an.

Am 30. 1. 2010 beschloss der Landesausschuss der VVN-BdA NRW diesen Antrag an den Rat der Stadt Essen zu richten:

An den Rat der Stadt Essen (betr. Dr. Ernst Achenbach)

Es wird beantragt: An der Geschäftsstelle der FDP in der Seidlstr. in Essen wird eine Mahntafel angebracht mit einem Text, der darauf hinweist, dass in der Nachkriegs-FDP in Essen Dr. Ernst Achenbach (1909-1991) eine bedeutende Rolle als Parteivorsitzender, als Bundestags- und Landtagsabgeordneter gespielt hat. Bei Ernst Aachenbach handelte es sich um den Geschäftsführer der „Adolf-Hitler-Spende der deutschen Wirtschaft“ und Mitwirkenden an der Deportation französischer Juden in die Vernichtungslager der Nazis. In der FDP wirkte er dafür, dass in ihr führende Nazis mitwirken durften und dass die NS-Verbrecher straffrei blieben. Die Tafel soll auf die verhängnisvolle Rolle von Wirtschaftskreisen in der NS-Zeit hinweisen. Sie soll der Mahnung dienen, solche Verbrechen nie wieder zuzulassen.

Am 4. Oktober 2010 teilte der Oberbürgermeister der Stadt Essen mit, der Ausschuss für Anregungen und Beschwerden des Rates habe sich mit dem Antrag befasst. Nachdem eine Stellungnahme der Familie Achenbach vorlag, habe man sich einvernehmlich geeinigt, sich inhaltlich nicht weiter mit dem Anliegen der VVN-BdA zu befassen. Wegen „schwerwiegender Recherchefehler“ der VVN-BdA solle diese sich gegenüber der Familie Achenbach entschuldigen, regten zwei Ratsfrauen an. Die VVN-BdA hatte ihre Recherchen nicht nur in dem Text für eine angeregte Tafel niedergeschrieben, sondern auch in einer Broschüre. Darin war sie äußerst sorgfältig vorgegangen, wie auch die nachfolgenden Faksimiles beweisen. Die VVN-BdA will ihren Vorschlag auf öffentliche Beachtung des faschistischen Treibens jenes Dr. Achenbach von der FDP vor wie nach 1945 aufrecht erhalten. Die Partei DieLinke bot an, dies zu unterstützen. Serge und Beate Klarsfeld aus Paris, die schon seit 1971 über Achenbach informierten, steuerten inzwischen weiteres Beweismaterial bei.

Achenbach, Ernst. Diplomat. 

* 9.4.1909 Siegen. Ab 1939 Attaché, ab 1940 Botschafts-, bzw. Gesandtschaftsrat der Pariser Botschaft. Leiter der Politischen Abteilung, befaßt mit Judenangelegenheiten. Herbst 1943 Kulturpolitische Abteilung im Auswärtigen Amt. 1946 Rechtsanwalt in Essen, kurzzeitig Verteidiger von Gajewski im IG-Prozeß und von Bohle im Minister-Prozeß. Enge Kontakte zu Hugo Stinnes junior. Ab 1950 FDP MdL in Nordrhein-Westfalen (NRW). 1952 Initiator Vorbereitender Ausschuß zur Herbeiführung der Generalamnestie (für NS-Täter). Industriespendensammler der FDP in NRW. Beteiligt am Versuch des Ex-Staatssekretärs Werner Naumann, ehemalige Nazis in der FDP zu platzieren. Im Nachlaß Franz Blücher (BA N 1080/273) Manuskript: Ziele und Methoden des "Naumann-Kreises". Die Unter­wanderungs­versuche in der FDP (Zusatz: Streng vertraulich! Nur für den Dienstgebrauch). Dort heißt es: »Den günstigsten Ansatzpunkt für die Unterwanderung des Landesverbandes NRW glaubte Naumann in Dr. Ernst Achenbach gefunden zu haben ... vor dem Krieg Geschäftsführer der ›Adolf-Hitler-Spende der deutschen Wirtschaft‹«. 1957-1976 MdB. Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses der FDP. 1971 Großes Bundesverdienstkreuz. 1972-1976 im Europäischen Parlament. † 2.12.1991 Essen. Lit.: Herbert.

aus: Ernst Klee „Das Personenlexikon zum Dritten Reich“ – Wer war was vor und nach 1945, Frankfurt/Main 2003, Seite 10. Mit „Lit.: Herbert“ ist gemeint, dass Ulrich Herberts Buch „Best“, Bonn 1996, die Quelle ist. Dr. Werner Best (Stellvertreter Heydrichs als Chef des Reichs­sicherheits­haupt­amtes) und Prof. Dr. Franz Six (SS-Brigadeführer, Abteilungsführer im Reichs­sicherheits­haupt­amt) waren nach 1945 enge Mitarbeiter von Achenbach; sie arbeiteten in seiner Essener Rechtsanwaltskanzlei. Für ihre Kriegsverbrechen wurden sie ebenso wenig bestraft wie Achen­bach.

Dr. Ernst Achenbach

Er war während der Nazizeit 1943 Gesandtschaftsrat bei der Deutschen Botschaft in Paris. Ihm wird vorgeworfen, an Judenverfolgungen beteiligt gewesen zu sein. Die Illustrierte "R e v u e" (17) veröffentlichte in diesem Zusammenhang ein Dokument, das in einer Ausstellung in Israel zu sehen war. Dabei handelt es sich um einen Brief der NS-Botschaft in Paris an den damaligen SS- und Polizeibefehlshaber der Stadt. Das Schreiben enthält die Anweisung des Auswärtigen Amtes, die "vorgesehenen Juden­maßnahmen" im besetzten Frankreich trotz gewisser Widerstände des italienischen Verbündeten vorzunehmen. Es ist von Achenbach unter­zeichnet.

Der so Bloßgestellte stellte sofort Strafantrag gegen die Illustrierte, worauf die Ausgabe beschlagnahmt wurde. Diese Beschlagnahme wurde nach einer Beschwerde des Verlages aber vom Landgericht München wieder aufgehoben. Damit wurde bestätigt, daß die Anschuldigung zu Recht besteht.

Achenbach ist seit 1957 Bundestagsabgeordneter der FDP.

aus: „die unbewältigte gegenwart - eine dokumentation“, Hg. vom Präsidium der VVN in Frankfurt am Main, 1962. Der Text bezieht sich auf die Illustrierte „Revue“ vom 26. November 1960.

aus: „Revue“ 1960 und „unbewältigte gegenwart“ 1962.

Die FDP-nahe Friedrich-Naumann-Stiftung zu Achenbach: 

9.4. - Liberale Stichtage: Vor 100 Jahren wird Ernst Achenbach geboren

Nach dem Zweiten Weltkrieg erhielt der deutsche Liberalismus auch Zuzug von Leuten, die vor 1945 alles anders als liberal gewesen waren. Häufig klappte dann die Integration in die neuen demokratischen Verhältnisse, in manchen Fällen musste jedoch die „Notbremse“ gezogen werden. Die für die frühe Bundesrepublik insgesamt sehr virulente Problematik der „Ehemaligen“ wird sehr gut deutlich am Beispiel des langjährigen Landtags- und Bundestagsabgeordneten Ernst Achenbach (1909-1991).

Der promovierte Jurist war ab 1936 im Auswärtigen Amt tätig gewesen, von 1940 bis 1943 als rechte Hand des deutschen Botschafters im besetzten Frankreich und dabei auch in Judendeportationen verwickelt. Nach dem Zweiten Weltkrieg ließ sich das ehemalige NSDAP-Mitglied in Essen als Rechtsanwalt nieder und gehörte dort zu den Mitbegründern der FDP, für die er 1950 in den Düsseldorfern Landtag einrückte. In dieser Zeit hielt er offenbar enge Verbindungen zu Kreisen ehemaliger Nationalsozialisten, die u. a. die nordrhein-westfälische FDP unterwandern wollten.

Als dieses Treiben in der so genannten „Naumann-Affäre“ 1953 aufgedeckt wurde, verlor Achenbach zwar seine Position als Vorsitzender eines Parteiausschusses, blieb aber ansonsten unbehelligt und setzte seine parlamentarische Karriere fort, die ihn 1957 in den Bundestag und 1964 sogar ins Europaparlament führte.

Im Bundestag agierte Achenbach recht unauffällig als außenpolitischer Experte und unterstützte loyal den Kurs der FDP-Führung, auch als diese 1969 eine Koalition mit der SPD einging. Diese Loyalität brachte ihn sogar für die Position eines Kommissars bei der EWG ins Gespräch, doch nun holte ihn seine Vergangenheit im Zweiten Weltkrieg und als Vorkämpfer einer „Generalamnestie“ für deutsche Kriegsverbrecher nach 1945 ein. Achenbach verzichtete schließlich auf den Wechsel nach Brüssel und blieb bis 1976 Bundestagsabgeordneter.

Quelle: 

http://www.freiheit.org/Aktuelles-Magazin/
618c10550i1psprv/index.html

Seltsame wörtliche Windungen: »verstrickt«, »verwickelt« 

In Berlin wurde die Auftragsstudie zur Geschichte des Auswärtigen Amtes im Nazireich vorgestellt 

Von Kurt Pätzold 

Dass Nachrichten aus den Gefilden der Wissenschaft die erste Seite von Tageszeitungen erobern und es in manchen gar in deren Aufmachung schaffen, geschieht selten. Machten sie einen sensationellen Fortschritt in der Bekämpfung von Krebserkrankungen bekannt, würde das niemanden wundern. Hingegen eine Meldung über eine Studie »Das Auswärtige Amt und die Vergangenheit«? 

Das Buch: »Das Amt und die Vergangenheit – Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik«. Herausgegeben von Eckart Conze. Norbert Frei, Peter Hayes und Mosje Zimmermann«. Karl Blessing Verlag München. 880 S., geb., 34,95 Euro. 

Ihre Geschichte beginnt 2005 mit einem Auftrag, erteilt von Außenminister Joseph Fischer. Fünf Historiker, drei Deutsche, ein US-Amerikaner und einer aus Israel, begaben sich mit Mitarbeitern auf die Dokumentenspur, die dieses einst in der Berliner Wilhelmstraße etablierte Amt hinterlassen hatte und verfolgten sie in etwa 30 Archiven, deutschen und solchen im Ausland.

Hervorgegangen ist aus einer Kärrnerarbeit, an der ein Stab von Mitarbeitern beteiligt werden musste, ein Bericht, der mehr als 800 Druckseiten umfasst und in Buchform vorliegt. 

Wer nur wollte, war gut informiert

Neuland war auf diesen Wegen nicht zu betreten. Das Auswärtige Amt war schon im Kriegsverlauf als eine an Naziverbrechen beteiligte Einrichtung ausgemacht. So auch gelangte sein Chef Joachim von Ribbentrop auf die Liste jener Personen, die nach dem Sieg von den Alliierten zur Verantwortung gezogen werden sollten. Dann kam die Rolle dieses Machtzentrums im Nürnberger Gerichtssaal von 1945/1946 zur Sprache und Ribbentrop an den Galgen.

In einem Nachfolge-Prozess wurde Ernst von Weizsäcker, von 1938 bis 1943 (erster) Staatssekretär des Amtes, angeklagt und zu fünf Jahren Haft verurteilt, insbesondere wegen seiner Schreibtischtäterschaft im Zusammenhang mit Deportationen französischer Juden zu den Mördern. Im gleichen Prozess erhielt Weizsäckers Nachfolger Gustav Adolf Steengracht von Moyland sieben Jahren Haft zugesprochen. Schon die Tatsachen, die bei diesen Verfahren zu Tage kamen, ließen an der Rolle des Amtes keine Zweifel.

Dann nahmen sich Historiker des Gegenstandes an. Aus der Vielzahl von Publikationen ragt die Untersuchung Christopher R. Brownings »The final solution and the German Foreign Office. A study of referat D III of Abteilung Deutschland 1940-43« heraus, veröffentlicht 1978 in New York und London. Auch in den Jahren, in denen die Kommission arbeitete, erschienen Bücher zum Thema. Jürgen Döscher, der im Jahre 1987 seine Untersuchung »Das Auswärtige Amt im Dritten Reich. Diplomatie im Schatten der Endlösung« vorgelegt hatte, publizierte 2005 »Seilschaften – die verdrängte Vergangenheit des Auswärtigen Amtes«.

Also: Wer wollte, war informiert. Wer in der DDR lebte, zumal. 1965 war da das »Braunbuch« erschienen, in dem, gestützt auf Dokumentenfunde und sie zitierend, auch Beamte im diplomatischen Dienst der Bundesrepublik benannt wurden, die sich Kriegs- und Menschheitsverbrechen schuldig gemacht hatten.

Vorm Hintergrund des seit langem verfügbaren Wissens lesen sich Beteuerungen der Außenminister a. D. Fischer und Steinmeier, wie »überrascht«, »erschüttert«, »entsetzt«, »erschreckt«, »schockiert« und wie »deprimiert« sie nun seien, befremdend. Steinmeier fand es »unglaublich«, dass es bis zu diesem Bericht 60 und mehr Jahre brauchte. Drei davon gehen auf Rechnung des Außenministers Willy Brandt und sieben auf die des jetzt als Aufklärer gefeierten Fischer.

So lange war der schon Amtschef, bis er, ausgelöst durch eine Kette von Zufällen, die Historikerkommission am 25. Juli 2005 berief. Ursprünglich bestand sie aus fünf Mitgliedern, von denen eines aus unerklärten Gründen ausschied. So stellten Eckart Conze (Marburg), Norbert Frei (Jena), Peter Hayes (Chicago) und Moshe Zimmermann (Jerusalem) am Donnerstag im Berliner Haus der Kulturen der Welt ihr Arbeitsergebnis diskutierend vor, ohne den Anspruch zu erheben, ein Geschichtsbild revolutioniert zu haben oder sich modisch als Tabubrecher zu präsentieren.

Was ist an Weiterführendem gewonnen? Zweierlei. Zum einen sind in einer »Gesamtschau« die Kenntnisse über das Auswärtige Amtes als hochaktiven Teil eines verbrecherischen Staates vermehrt, und die Vorstellung von der Tätigkeit seines Personals gewann an Detailreichtum und Tiefenschärfe. Zum anderen wurden die Anstrengungen samt der an ihnen Beteiligten kompakt dargestellt, die nach 1945 der Verfälschung der Geschichte, insbesondere der eigenen Rollen in ihr galten.

Im Verlauf der Arbeit ist eine Kosten nicht scheuende Durchmusterung der Quellen in einem Umfang erfolgt, die vordem unmöglich war. Ihre Bekanntmachung oder die Verweise auf sie werden weitere Forschungen anregen.

Ein nicht gering zu schätzendes Verdienst der Autorengruppe rührt aus den Umständen her, auf die diese Veröffentlichung trifft. Während die grellen Scheinwerfer von Historikern und Museologen auf Hitler und die Deutschen gerichtet sind, worunter die kleinbürgerlichen und proletarischen Massen verstanden werden, stellt dieses Unternehmen eine spezielle Gruppe aus der weit gefächerten Elite des Nazireiches vor. Es könnte beitragen, das gleichmacherische Bild von Anteilen und Ausmaßen an Verantwortung und juristischer und historischer Schuld zu entkräften.

Von nun an dürfte es schwer sein, den Mythos von dem widerständigen Auswärtigen Amt, in dem sich einige Nazis gleichsam verloren, unter die Leute zu bringen. Vor dem Glauben jedoch, dass Weißwäscher nun ihre Bemühungen einstellen würden, hat Joseph Fischer an diesem Abend in einem einleitenden Vortrag gewarnt. Getan bis zu einem Schlussstein ist die Arbeit ohnehin auch deshalb nicht, weil ein Aspekt der Tätigkeit des Amtes von der Kommission offenbar beiseite gelassen wurde. Es hat von 1933 an nach Kräften an der Vorbereitung des Krieges teilgehabt, jenes Verbrechens, ohne das die Bedingungen dafür nicht entstehen konnten, unter denen sich die judenmörderische Zusammenarbeit des Amtes mit dem Reichssicherheitshauptamt in Gang setzen ließ. 

Die Vorliebe, etwas zu bagatellisieren

Wie weit der Weg noch ist, bis Klartext über das »Dritte Reich und seine Eliten« gesprochen und geschrieben werden wird, lässt sich dieser Tage vielen Berichten und Kommentaren entnehmen, die dem Buch gelten. Es sei, heißt es da mit Vorliebe, das Amt in das Regime »verstrickt« (oder »verwickelt«) gewesen. Gleiches lässt sich übrigens in der Ausstellung »Hitler und die Deutschen« über die führenden Militärs der Wehrmacht lesen. Der modische Begriff schillert. Haben sie sich verstrickt oder wurden sie verstrickt? Hat letzteres Hitler besorgt, der als Schüler zu Braunau durch irgendeinen Handarbeitsunterricht ein besonderes Geschick erwarb, das er als Führer betätigte?

Zwei Kommissionsmitglieder legten sich, in Interviews befragt, angemessen fest und nannten das Auswärtige Amt eine »verbrecherische Organisation«. Am Werderschen Markt muss entschieden werden, ob es im eigenen Internetauftritt bei dem nichtssagenden Satz bleiben soll: »Während der nationalsozialistischen Diktatur war auch das Auswärtige Amt Teil des Unrechtsregimes.«

Der Historiker Kurt Pätzold gehört zu den bedeutenden deutschen Faschismus-Forschern. Eins seiner jüngsten Bücher: die Erinnerungen »Die Geschichte kennt kein Pardon«.

Aus Neues Deutschland vom 30.10.2010

Die ehrbare Kloake 

Das Auswärtige Amt war – wie sich jetzt überraschend herausstellt – eine ­verbrecherische Organisation. Außenminister Joachim von Ribbentrop wurde darum zu Recht als Kriegsverbrecher gehängt. Was aber ist mit dem Nachfolger Joseph Fischer? 

Von Otto Köhler 

Gut fünf Jahre nach dem vollendeten Anschluß rief ich beim Auswärtigen Amt in Bonn an und fragte: »Wie viele leitende Mitarbeiter aus dem diplomatischen Dienst der DDR und aus dem dortigen Ministerium hat das Auswärtige Amt übernommen?«

»Niemand« war an diesem 19. Oktober 1995 die Antwort der zuständigen Frau Sparwasser.

Frage: Gibt es Zahlen über die NS-Übernommenen?

»Das kann ich nicht sagen«, sagte die Sprecherin wahrheitsgemäß und kam sofort auf meine erste Frage zurück: »Das war damals ein recht klarer, politisch wohlüberlegter Beschluß. Erstens mal hat man sich gesagt: Die führenden Mitarbeiter im damaligen Außenministerium waren natürlich auch die führenden Träger des DDR-Systems in vieler Hinsicht. Zweitens hat man sich gesagt: Auch gegenüber unseren Partnern ist es dann wahrscheinlich schwierig, Vertrauen, was die Diplomatie genießt, vollständig zu erhalten.«

Und das, wollte ich wissen, galt bei den NS-Mitarbeitern nicht?

Korrekte Antwort: »Dazu kann ich nichts sagen. Das ist zu lange her.«

Heute wissen wir es von einer Historikerkommission, die zehn Jahre später eingesetzt wurde, um die Wahrheit über das 1951 wiedererrichtete Auswärtige Amt bis in unsere Tage zu erforschen: Dort in Bonn gab es nach 1945 mehr NSDAP-Mitglieder als in der Zeit, da in Berlin Joachim von Ribbentrop noch Außenminister war, nämlich von 1938 bis 1945 – und auch das wird man wohl noch als untrügliches Zeichen deuten, wieviel stärker im Auswärtigen Amt der Widerstand gegen die Nazis unter Hitler war als unter Adenauer. 

Das Amt im Klärwerk 

Am Anfang stand sein Wort. Konrad Adenauer sprach ein Gebot des Sparsinns, das zugleich der Nachhaltigkeit diente: »Man schüttet kein schmutziges Wasser aus, wenn man kein sauberes hat.«

Der Bundeskanzler meinte damit das Auswärtige Amt aus der Berliner Wilhelmstraße, das er am 15. März 1951 in Bonn restaurierte – er übernahm zugleich den Posten des Außenministers und setzte Herbert Blankenhorn (NSDAP/CDU), Berufsoffizier und Legationsrat aus dem alten Amt, als seinen Vertreter in die wiederbegründete Behörde ein.

Schmutzwasser gab es in reicher Fülle, es drängte ins neue Bonner Becken bis obenhin, so daß nicht für einen Liter sauberes Wasser Platz blieb.

In der Kloake des neugegründeten AA durfte keiner mitschwimmen, der auch nur in den Verdacht geriet, nicht dreckig genug zu sein. So bewarb sich in Bonn SS-Sturmbannführer Erich Kordt, drei Jahre lang Chef des Ministerbüros von Joachim von Ribbentrop und dann bis 1945 Gesandter Erster Klasse in Tokio und Nanking. Doch er hatte sich von US-Kollegen in China einen Persilschein ausstellen lassen, daß er – von Nanking aus – an der Verschwörung des 20. Juli 1944 beteiligt gewesen sei. Als dann Adenauer die Wiedereinberufung Erich Kordts vorgeschlagen wurde, sagte der deutsche Bundeskanzler entschieden Nein. Begründung: »Der hat Ribbentrop betrogen und seine Politik hintertrieben. Was gibt mir die Gewißheit, daß er mich nicht ebenso behandelt.«

Es durfte nicht ein Liter sauberes Wasser die Bonner Kloake verunreinigen. Dieser Liter hieß Fritz Kolbe. Der Sohn eines sozialdemokratischen Handwerkers – Fremdkörper also im AA, wie schon das alte Auswärtige Amt abgekürzt wurde – arbeitete an der Verbindungsstelle zwischen der Wilhelmstraße und dem Oberkommando der Wehrmacht. Er wurde so – wie die Historikerkommission feststellt – »einer der effektivsten Gegner des NS-Regimes«. Er lieferte unter dem Decknamen »George Wood« dem damaligen US-Geheimdienstchef in der Schweiz Allen W. Dulles wichtige Informationen über Deportationen und die V2 – Geld hat er dafür nie genommen. Als er nach dem Krieg zurück ins Auswärtige Amt wollte, stieß er auf eine stählerne Front der Ablehnung.

Die düstere Groteske: Erkundigungen bei dem »Verräter« Erich Kordt und seinem gleichfalls für Ribbentrop tätigen Bruder Theo ergaben die Antwort: Im Zusammenhang mit »unseren auf den Sturz des Hitlerregimes zielenden Bestrebungen« sei der Name Fritz Kolbe nie gefallen. Und Luitpold Werz, vorher im AA Verbindungsmann zum Chef der Sicherheitspolizei und des SD, verbreitete, Kolbe versuche sich als Widerstandskämpfer auszugeben, obwohl er vermutlich ein bezahlter Spion der Alliierten gewesen sei. Das Werz-Wort hatte Gewicht, er war inzwischen zur rechten Hand von Bundespräsident Theodor Heuss geworden. Fritz Kolbe kam nie wieder ins Auswärtige Amt.

Doch. Sechs Jahrzehnte nach dem Krieg, nachdem der 1971 an Gallenkrebs Verstorbene schon ein Dritteljahrhundert tot und somit nicht mehr gefährlich war, wurde 2004 – er schmückte jetzt sehr – der »Fritz-Kolbe-Saal« im Auswärtigen Amt einigerichtet.

Es war eine Anregung des grünen Außenministers Joseph Fischer. Und der hatte 2005 auch diese Unabhängige Historikerkommission berufen, die endlich die Geschichte des Auswärtigen Amtes erforschen sollte. Das Ergebnis, das schon erwähnte Buch »Das Amt und die Vergangenheit« wurde am Donnerstag abend von Exaußenminister Joseph Fischer und seinem Nachfolger Frank-Walter Steinmeier im richtigen Ambiente, dem Haus der Kulturen der Welt, vorgestellt.

Die Historikerkommission unter der Leitung des Marburger Historikers Eckart Conze kommt zu dem Fazit: Das Auswärtige Amt war nicht das Auswärtige Amt im Dritten Reich. Es war das Auswärtige Amt des Dritten Reiches. Das Auswärtige Amt war eine verbrecherische Organisation. Die Grenzen zur Zentrale des Terrors, zum Reichssicherheitshauptamt, waren fließend. 

Hochburg der Handlanger 

Das ist nicht neu. Das bestätigt alte Untersuchungen von Christopher R. Browning und Hans-Jürgen Döscher, die inzwischen in mehreren Auflagen erschienen sind, aber bisher noch nicht in die Öffentlichkeit vordrangen oder gar im Auswärtigen Amt zu Konsequenzen führten.

Schon vor einem halben Jahrhundert, im März 1952, machte das CSU-Mitglied Helmut Hammerschmidt, der spätere Südwestfunkintendant, im Bayerischen Rundfunk eine Halbstundensendung über das neue Auswärtige Amt. In ihr hieß es: »Das Auswärtige Amt ist eine Hochburg ehemaliger Handlanger des Dritten Reiches. Das ist der nüchterne Tatbestand. Wenn man diese Vorgänge richtig erkennen will, dann muß man sich zunächst einmal mit der Tätigkeit des alten Auswärtigen Amtes unter Ribbentrop beschäftigen. Im Auswärtigen Amt gab es eine besondere Abteilung, eine Mammut-Abteilung mit Hunderten von Beamten und Angestellten, die sich Deutschland-Abteilung nannte.«

Hammerschmidt enthüllte schon ein Jahr nach der AA-Wiedergründung: Das Judenreferat in der Deutschland-Abteilung des Auswärtigen Amtes hatte regelmäßig den Maßnahmen zur »Endlösung der Judenfrage«, die ja vor allem ausländische und staatenlose Juden betraf, zugestimmt. Unterstaatssekretär Luther, der Leiter der Deutschland-Abteilung, habe an der Wannseekonferenz teilgenommen, das Protokoll dieser Besprechung sei später auch von anderen leitenden Beamten des AA zur Kenntnis genommen worden.

Die Sendung ließ keinen Zweifel daran, daß nicht nur die zuständigen Mitarbeiter der Deutschland-Abteilung an den Verbrechen des Regimes beteiligt waren. Auch Beamte der politischen Abteilung und der Rechtsabteilung seien in zahllosen Fällen von Judentransporten, Geiselerschießungen und anderen völkerrechtswidrigen Maßnahmen gutachtlich gehört worden. Bei Maßnahmen gegen ausländische und staatenlose Juden habe das Reichssicherheitshauptamt das Auswärtige Amt grundsätzlich um Stellungnahme gebeten. Das Auswärtige Amt habe indes keine Bedenken geäußert. Hammerschmidt: »Die Kenntnis der Massenmorde war nach 1945 immer bestritten worden. Die Handzeichen der leitenden Beamten auf den seit Dezember 1941 im AA verbreiteten Einsatzgruppenberichten bestätigten jedoch die frühzeitige Kenntnisnahme der Massenexekutionen in den besetzten Gebieten der UdSSR. Deportation und Ermordung, Einsatzgruppenberichte und Liquidation waren Bestandteile des Planes zur ›Endlösung der Judenfrage‹ gewesen. Sie bildeten ein untrennbares Ganzes.« 

Bezahltes Subjekt

So Hammerschmidt schon 1952 im Bayerischen Rundfunk. Die Abwehr der alten AA-Leute funktionierte wie davor und danach. Hammerschmidt, so ein vertraulicher Hinweis im Auswärtigen Amt, sei 1945 mit der US-Armee nach Stuttgart gekommen, dort eine Zeitlang leitender Beamter beim Polizeipräsidium gewesen und wegen krimineller Verfehlungen entlassen worden. Außerdem sei er auch noch Mitarbeiter des US-Geheimdienstes CIC gewesen. Möglicherweise handele es sich, meinte das Auswärtige Amt in Bonn, um »ein Subjekt, das von irgendeinem außerdeutschen Land bezahlt wird und in politisch interessiertem Auftrag die Rundfunksendung aufgegeben hat, um die deutsche Außenpolitik zu schädigen.«

Der Gesandte Erster Klasse Werner Schwarz, schon unter Ribbentrop im Auswärtigen Amt und nun Dirigent der Organisationsabteilung, wandte sich am 16. April 1952 an die Landespolizeidirektion Stuttgart mit der Bitte um schnelle Übersendung der Akten des Hammerschmidt: »Da ein erhebliches dienstliches Interesse an der Einsicht der Akten vorliegt, darf erforderlichenfalls um eingehende Nachforschung nach deren Verbleib gebeten werden.«

Das dienstliche Interesse war nicht zielführend. Das Subjekt, das die Herren des Auswärtigen Amtes zwecks Lösung ihrer drängenden Probleme gern überführt hätten, hieß Otto Hammerschmidt — und nicht Helmut wie der Urheber der Rundfunksendung. Zuvor hatte es schon in der Frankfurter Rundschau eine Artikelserie von Michael Mansfeld gegeben, die Adenauer im September 1951 nötigte, den ehemaligen Kölner Oberlandesgerichtspräsidenten Rudolf Schetter zu beauftragen, Ermittlungen »in bezug auf diejenigen Beamten und Angestellten des Auswärtigen Amts anzustellen, gegen deren Verwendung in der Öffentlichkeit wegen ihrer angeblichen Haltung unter dem Nationalsozialismus Bedenken erhoben worden sind«.

Schetter funktionierte befriedigend. Sein Abschlußbericht vom November 1951: »Die durch Presseerzeugnisse verschiedener Art (…) gegen das Bonner Auswärtige Amt und seine Angehörigen verbreiteten Beschuldigungen haben sich zum großen Teil als tatsächlich unrichtig, unvollständig und entstellt erwiesen. Soweit ihnen wahre Tatsachen zugrunde liegen, sind diese tendenziös aufgemacht, so daß oftmals ein völlig falsches Bild entstanden ist. Die Beanstandungen der einzelnen Mitglieder des Amtes haben in der Mehrzahl der Fälle eine solche Aufklärung erfahren, die Bedenken gegen eine Wiederverwendung nicht aufkommen läßt, wenn man nicht schon die Tatsache der nominellen Parteizugehörigkeit als Hindernis betrachtet.« 

Antisemitisch verdächtig 

Der frühere Gesandte Kurt Heinburg, der bis 1943 als Referatsleiter »Südosteuropa« in der Politischen Abteilung des Auswärtigen Amtes an der »Evakuierung« von Juden in die Vernichtungslager mitgewirkt hatte und seit 1950 als Referent ausgerechnet der Personalabteilung des neuen Auswärtigen Amtes wirkte, erfand eine jüdische schwarze Liste, für die er den Nürnberger Ankläger Robert M. Kempner verantwortlich machte und formulierte, was für ungewohnte Dinge neuerdings ein ehrbarer Diplomat zu berücksichtigen hat: »Es muß damit gerechnet werden, daß in der Bundesrepublik eine israelitische Abwehrorganisation, vielleicht mit Herrn Kempner an der Spitze, besteht mit der Aufgabe, den Antisemitismus in der Bundesrepublik zu beobachten und zu bekämpfen sowie darauf hinzuarbeiten, daß – vom jüdischen Standpunkt aus – antisemitisch verdächtige Personen nicht in maßgebende Stellen hineinkommen bzw. daraus entfernt werden, und das insbesondere im Auswärtigen Dienst. Antisemitisch verdächtig sind bei den Juden diejenigen, die der NSDAP und ihren Gliederungen angehört haben, da sie sich durch ihren Beitritt zu der antisemitischen Einstellung Hitlers bekannt haben. Verdächtig sind aber auch die Angehörigen des früheren AA, soweit sie – ob sie Pg waren oder nicht – von jüdischer Seite irgendwie mit der Judenverfolgung in der Hitlerzeit in Verbindung gebracht werden.« Vor seiner Bewährung bei der Deportation der Juden war Heinburgs Antrag auf Aufnahme in die NSDAP 1940 abgelehnt worden. Begründung: »Liberalist reinsten Wassers«.

1970, im hundertsten Jahr des Auswärtigen Amtes des ehemals Deutschen Reiches in der damaligen Bundesrepublik, kündigte Bundesaußenminister Walter Scheel – selbst Exmitglied der NSDAP – unter Hinweis auf die »reichen Archive« an: »Eine wissenschaftliche Geschichte des Auswärtigen Amtes ist in Vorbereitung und wird uns eines Tages eine gründliche Übersicht erlauben.«

Diese Untersuchung erschien nicht. Als aber 1987 der unabhängige Historiker Hans Jürgen Döscher seine schon erwähnte Studie über »Das Auswärtige Amt in Dritten Reich – Diplomatie im Schatten der Endlösung« im konservativen Siedler-Verlag veröffentlichte, da schrien die Diplomaten auf, und der führende Staatsrechtler Theodor Eschenburg schrieb wohl auch in ihrem Namen in einer vernichtenden Kritik für die Zeit: »Döschers Fehler, der in diesem Buch deutlich wird, ist, daß der Autor, wie manch andere vierzig Jahre nach dem Ende der braunen Diktatur, trotz reichen Materials die Verhaltensweise in einer totalitären Diktatur nach rechtsstaatlichen und demokratischen Begriffen mißt.«

Eschenburg bestätigte Döscher, er könne als junger Historiker »aus eigenem Erleben das damalige ›Ambiente‹ nicht kennen«. Natürlich nicht – Döscher war im Gegensatz zu Eschenburg nicht in der SS, sondern hatte auf dessen Mitgliedsnummer 156004 hingewiesen.

Als der Emigrant Willy Brand in der ersten großen Koalition Außenminister wurde, änderte sich schon gar nichts – schließlich war er Vize von Kanzler Kiesinger, der sich zuvor als wandernder Vermittlungsausschuß zwischen Ribbentrops Auswärtigen Amt und Goebbels’ Propagandaministerium bewährte.

Der charismatische Sozialdemokrat, der dann als Kanzler für linke Lehrer das – wie er später selbst bereute – Berufsverbot bereithielt, gewährte als Außenminister den Nazimördern in seinem Amt Rechtsschutz bis hin zur Rechtsbeugung: Seinen Parteifreund, den nordrhein-westfälischen Josef Neuberger, versuchte Brandt zu veranlassen, von seinem Weisungsrecht gegen die Bonner Staatsanwaltschaft Gebrauch zu machen. Denn sie ermittelte gegen den Lissabonner Botschafter Herbert Müller wegen Mord an Juden, veranlaßt in der Abteilung D III des Auswärtigen Amtes. Der Altnazi, der zur besseren Unkenntlichkeit seinen Namen nach 1945 auf Müller-Roschach erweitert hatte, mußte schließlich trotz aller Schutzbemühungen Brandts in den Ruhestand versetzt werden. Und Brandt erlitt ausgerechnet von Heinrich Lübkes Bundespräsidialamt – völlig zu Recht – diese Demütigung: der Bundespräsident sehe sich leider nicht in der Lage einem unter Mordverdacht stehenden Beamten den »Dank für die dem Deutschen Volk geleisteten treuen Dienste« auszusprechen. So sah sich das Auswärtige Amt gezwungen, diese Dankesformel aus der Entlassungsurkunde zu entfernen.

Sicherheit für Nazimörder nicht nur im eigenen Haus – dafür gab es im Auswärtigen Amt die ZRS, die Zentrale Rechtsschutzstelle, die eng mit dem Deutschen Roten Kreuz und dem »Warndienst West« in Österreich gegen die »Siegerjustiz« zusammenarbeitete. So verfügte das AA über eine Liste von rund 800 ehemals in Frankreich tätigen SS- und SD-Männern, die in Zusammenarbeit mit dem DRK gewarnt wurden, dort einzureisen. 

Aufstand der Mumien 

Am Mittwoch wollte der Deutschlandfunk von Joseph Fischer wissen: »Haben Sie sich gefragt, was haben eigentlich meine Vorgänger in dem Amt gemacht? Was hat eigentlich zum Beispiel jemand gemacht wie Willy Brandt? Auch ein Hans-Dietrich Genscher, ein Klaus Kinkel hatte keine Historiker-Kommission eingesetzt. Was sagt Ihnen das?«

Fischer: »Ich hätte auch keine eingesetzt, weil mir das Bewußtsein von der Notwendigkeit fehlte.«

Richtig, der Aufstand der Mumien, den Außenminister Fischer mit seinem Gebot auslöste, alte Nazis nicht mehr mit ehrenden Nachrufen zu würdigen, hatte ihn völlig überrascht: »Ich hatte mit Kosovo zu tun, mit dem 11. September. Also das letzte, was ich sozusagen beim Amtsantritt gedacht habe, daß es noch nötig gewesen wäre, da eine Historiker-Kommission einzurichten. Deswegen war ich ja so baff.« 

Die AA-Hintertreppe 

Und er wurde noch baffer, als er einmal völlig absichtslos auf die Hintertreppe seines Arbeitsplatzes geriet. Im Interview mit FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher, der gleich ihm überrascht und entsetzt war über das, was die Historikerkommission herausgefunden hatte, erzählte der ehemalige Außenminister:

»Ich bin durch Zufall mal, weil irgendeine Veranstaltung im Weltsaal des AA stattgefunden hatte, rechts über die Hintertreppe auf den Weg zu meinem Büro ausgewichen. Der Weg führte mich durch die Protokollabteilung, und da hängen dann diese ganzen Protokollchefs. Ich denke: Das ist aber eine lange Reihe. Ich bleib stehen, studiere die Bilder mal näher – und da hing er! Ribbentrops Protokollchef. Ich habe mich damals ziemlich aufgeregt! Wo waren wir hier eigentlich? In meiner poltrigen Art habe ich gesagt, ich bin gerne bereit, auch alle Außenminister seit Bismarck aufzuhängen, allerdings nur unter der Bedingung, daß Ribbentrop am Strang dann da hängt.«

Eine gute Idee. Bleibt allerdings die Frage, wie der Außenminister hängen soll, der »mit dem Kosovo zu tun« hatte, der dort weitergemacht hat, wo Ribbentrop 1945 aufhören mußte. 1941 ließ Hitler im Einvernehmen mit seinem Außenminister ohne Kriegserklärung Belgrad bombardieren – Jugoslawien mußte vernichtet werden. 1999 ließ Gerhard Schröder zusammen mit Joseph Fischer und der NATO ohne Kriegserklärung Belgrad bombardieren. Das wurde der Gründungsmythos der Berliner Republik. Deutschland ist wieder erwachsen, Deutschland führt wieder Krieg.

Jugoslawien gibt es nicht mehr, auch der BND mit seinen SS- und SD-Leuten aus dem Reichssicherheitshauptamt hat daran seit Jahrzehnten zäh und geduldig mit Terroristen und Waffenlieferungen gearbeitet. Fischer hat mitgemacht. »Nie wieder Auschwitz«, brüllte er und ließ Bomben auf Zivilisten werfen. Es hat ihn nicht sonderlich bewegt, es gab Wichtigeres. Beispielsweise am 26. Mai 1999. Telefonkonferenz der fünf Außenminister der gegen Jugoslawien kriegführenden Staaten. Sie beraten die weitere Strategie. Plötzlich aus der deutschen Leitung ein wildes Aufstöhnen. Madeleine Albright ruft besorgt über den Atlantik durchs Telefon: »Joschka, what’s happening? Are you alright?«

Es ist ein schlimmer Schlag, den Joseph Fischer gerade hat einstecken müssen. Doch der Außenminister der Bundesrepublik Deutschland läßt sich gegenüber seiner US-Kollegin nichts anmerken, sagt, alles sei »alright«, und kann sich, wie er in seinen Memoiren (Joschka Fischer: Die rotgrünen Jahre. Deutsche Außenpolitik vom Kosovo bis zum 11. September. Köln 2007, S. 167f) auch bekennt, »fortan wieder voll und ganz auf die Telefonkonferenz konzentrieren«.

Was Joseph Fischer inmitten der Bilanz-Konferenz mit den anderen Außenministern trifft wie ein brutaler Luftschlag, was ihn derart aufstöhnen läßt, daß sogar Madeleine Albrights Mitgefühl alarmiert wird, das geschieht, als die anderen vier gerade »einen möglichen Einsatz von Bodentruppen« erörtern. Dabei will sich der deutsche Außenminister jedoch nicht aus dem wirklich wichtigen Weltgeschehen ausklinken.

Und so passiert die Katastrophe auf dem Bildschirm des Fernsehers, den der deutsche Außenminister während der Verhandlungen mit seinen Kollegen stumm weiterlaufen läßt. Joseph Fischer: »Im Spiel in Barcelona war man inzwischen in der Nachspielzeit angekommen, und die Bayern sahen bereits wie stolze Champions-League-Sieger aus, als es in der 91. Minute im Tor der Münchner ganz fürchterlich einschlug. Innerhalb einer weiteren Minute fing sich FC Bayern ein zweites Tor ein, und es war vorbei. 2:1 für Manchester United, Abpfiff, Jubel und bodenlose Enttäuschung. So ist eben Fußball. Als das Ausgleichstor fiel, konnte ich einen kurzen Aufschrei nicht unterdrücken. Darauf herrschte für einige Sekunden völlige Stille. Dann ertönte die sorgenvolle Stimme von Madeleine Albright.«

Die Telefonkonferenz der fünf Außenminister erwies sich, trotz des versauten »fußballerischen Leckerbissens«, schließlich doch als großer Erfolg: Vier Tage nach der Niederlage des Fußballclubs Bayern gelingt Joseph Fischer, der gegen den »Hitler« Milosevic in den Krieg gezogen ist, zusammen mit seinen Kollegen ein stolzer Sieg: Die Bomben der Humanitas vernichten die Brücke von Varvarin und mit ihr zehn Feinde – darunter ein vierzehnjähriges Mädchen –, die sich als Zivilisten tarnten.

Joseph Fischer, der ehemalige Außenminister, hängt längst im Auswärtigen Amt. Ob er aber richtig hängt, das ist die Frage.

Eckart Conze/Norbert Frei/Peter Hayes/Moshe Zimmermann: Das Amt und die Vergangenheit - Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik. Blessing Verlag, München 2010, 880 Seiten, 34,95 Euro

Aus junge Welt vom 30.10.2010

Siehe auch:

Der Fall Achenbach - Fast 100% KontinuitätDer Fall Achenbach - Fast 100% Kontinuität

60 Jahre Landtag in Nordrhein-Westfalen: Das vergessene braune Erbe60 Jahre Landtag in Nordrhein-Westfalen

Das vergessene braune Erbe

Zum 60. Jahrestag des nordrhein-westfälischen Landtages hat die Partei DieLinke die braunen Schatten der CDU und FDP in NRW untersucht. Diese interessante Broschüre stellen wir hier als Download (1,8 MB, ) zur Verfügung.

im Bereich Broschüren.

Außerdem:

Nazis und »Nationale Sammlung«: »Pflicht nach rechts«
Die FDP in den fünfziger Jahren

http://www.nadir.org/nadir/periodika/aib/archiv/59/44.php

DER SPIEGEL 31/1974
Er war es, der den Ton angab 
Neue Dokumente zum Fall Achenbach

http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-41726589.html

DER SPIEGEL 29/1974
Ach, ach, der Achenbach ... 
SPIEGEL-Reporter Gerhard Mauz zum Kölner Urteil über Beate Klarsfeld

http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-41700582.html

DER SPIEGEL 27/1974
Verfolgen - für ein besseres Deutschland? 
SPIEGEL-Reporter Gerhard Mauz im Prozeß gegen Beate Klarsfeld in Köln

http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-41696655.html

DER SPIEGEL 17/1970
ACHENBACH 
Unrecht geschehen

http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-44944141.html

DER SPIEGEL 52/1959
GENERAL-AMNESTIE 
Großmutters Grundsätze
http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-42623608.html

Der Auswärtige Ausschuss des Deutschen Bundestages. Sitzungsprotokolle 1972–1976. 
Bearbeitet von Joachim Wintzer und Wolfgang Hölscher, Düsseldorf 2010 
(Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Vierte Reihe, Bd. 13/VII) 
CLII, 2036 Seiten mit Abb. und CD-ROM (Volltext), 190,00 €. ISBN 978-3-7700-5301-8
http://www.kgparl.de/info-10-08-30.html