Logo VVN/BdA NRW

Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes
Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten

Landesvereinigung NRW

 

18.10.2010

Zum Stand der Erforschung der regionalen NS-Geschichte

Tagung von Rosa Luxemburg Stiftung, Politische Memoriale und VVN-BdA am 9. 10. 2010 in Rostock

Schriftlicher Diskussionsbeitrag von Ulrich Sander zur Tagung am 9.10. 2010 in der Rostocker Stadthalle. Sie galt der Erforschung der regionalen Antifa-Geschichte und dem Erinnern an Prof. Karl Heinz Jahnke, der vor einem Jahr verstarb.

Widerstand gegen Rechts und gegen den Krieg als Thema für die Jugend

Diskussionsbeitrag von Ulrich Sander, Dortmund (Bundessprecher der VVN-BdA)

Ich möchte auf einen wichtigen Aspekt im Schaffen von Karl Heinz Jahnke eingehen. Allein die bereits vor 1945 international bekannt gewordenen Widerstandskreise wie 20. Juli und Weiße Rose werden derzeit allgemein gewürdigt. Die einseitige Betonung vor allem dieser beiden Widerstandsgruppen hat offenbar seine Begründung in der Missachtung des Arbeiterwiderstandes durch die bürgerliche Gesellschaft und Geschichtsschreibung und in dem Versuch, den Widerstand als eine exklusive Handlungsweise großer Helden darzustellen, um von der eignen Untätigkeit abzulenken. Erinnert werden muss aber an den Ausspruch der Schwester von Hans und Sophie Scholl, Elisabeth Hartnagel, die nicht möchte, dass ihre Geschwister als „Helden“ verehrt werden, denn „das wäre eine Entschuldigung für die anderen“, die sich nicht zum Helden geboren sehen.

Prof. Karl Heinz Jahnkes Bilanz seiner 40jährigen Forschungsarbeiten weist besonders zum Jugendwiderstand sehr aktuelle Erkenntnisse auf. Jahnke wies darauf hin, dass in der Zeit von der ersten Flugblattverteilung der Weißen Rose im Juni 1942 bis zur letzten Gerichtsverhandlung gegen Weißen-Rose-Mitglieder im Oktober 1943 49 ebenfalls sehr junge Widerstandskämpfer verurteilt und hingerichtet wurden. Sie seien weithin unbekannt geblieben.

Auf zwei Gruppen dieses Personenkreises – zu dem Jahnke besonders forschte – möchte ich hinweisen. Das jüngste Opfer unter den vom Volksgerichtshof verurteilten und in Plötzensee hingerichteten Widerstandskämpfern war der 17jährige Verwaltungslehrling Helmuth Hübener aus Hamburg, geb. am 8. Januar 1925. Am 11. August 1942 standen mit Hübener vor dem 2. Senat des Volksgerichtshofes in Berlin die drei Hamburger Jungen: der 16jährige Schlosserlehrling Rudolf Wobbe, der 17jährige Verwaltungslehrling Gerhard Düwer und der 18jährige Malergeselle Karl-Heinz Schnibbe. Wobbe und Schnibbe gehörten wie Hübener den Mormonen an. Die Anklage warf Hübener die Herausgebe von 60 hetzerischen Flugzetteln vor. In der Begründung zum Todesurteil gegen Hübener wurde betont, der Angeklagte sei wegen seiner Klugheit und Reife nach dem Erwachsenenstrafrecht wegen „Hochverrats und landesverräterischer Feindbegünstigung“zum Tode zu verurteilen. Helmuth Hübener wurde am 27. Oktober 1942 ermordet.

An diesem Tag geschah in der Hinrichtungsstätte in Berlin-Plötzensee – neben der Hinrichtung von neun weiteren Verurteilten, darunter Hübener - etwas Ungewöhnliches. Kurze Zeit hintereinander wurden der 22jährige Schriftmaler Rudolf Richter (geb. 20.7.1920 in Dresden) und sein Vater, der Arbeiter Gustav Richter (geb. 27.3.1890 in Dresden) aus Dresden, hingerichtet. Der 2. Senat des Volksgerichtshofes hatte am 21. August 1942 die Todesurteile über Rudolf und Gustav Richter gesprochen. In der Begründung heißt es: „Der Angeklagte Rudolf Richter hat als Dienstverpflichteter in einem Rüstungsbetrieb seine Arbeitskameraden angereizt, durch Verminderung der Rüstungserzeugung zur Beendigung des Krieges beizutragen. Auch hat er marxistische Bücher und zersetzende Aufzeichnungen verbreitet [...]“ Dem kommunistischen Arbeiter Gustav Richter warf die Anklage vor, dass er seinen Sohn nicht „anders erzogen“ und ihn in seinem Widerstand bestärkt habe.

Jüngere Arbeitskollegen versuchte Rudolf Richter zum „Langsamarbeiten zu gewinnen, um so die Produktion der Flugzeuge zu verzögern.“ Durch die Verbreitung von verbotenen Gedichten, u.a. von Kurt Tucholsky und Alfred Polgar, trug er zur Stärkung des Widerstandsgeistes bei. Im Frühjahr 1941 bekam der 20jährige den Gestellungsbefehl zur Wehrmacht. Er schrieb darauf an einen Freund und äußerte offen seine Ablehnung. In dem Brief heißt es: „Überlege, ich soll in absehbarerer Zeit das Mörderkleid einer militärischen Macht tragen, welche zu den am rationellsten arbeitenden der ganzen Welt gehört.“ Am 31. Oktober 1941 ist Rudolf Richter festgenommen worden und fünf Tage später sein Vater.

Diese wie andere Widerstandsgruppen der Jugend wurden auf einer Tagung des Studienkreises Deutscher Widerstand zum 60. Jahrestag des 8. Mai 1945 vorgestellt. Daran nahm Karl Heinz Jahnke teil. Es wurde zur Vermittlung des Wissens über den Widerstand an die schulische wie außerschulische Jugend aufgerufen. Auch das sei ein wichtiger Beitrag zur Auseinandersetzung mit dem Neonazismus, der sich gern als aktuelle Jugendbewegung ausgebe, obwohl die Jugend unter Hitler eine besondere Leidensgeschichte aufwies. Die Aktion Stolpersteine, bei der vor dem früheren Wohnsitz von Ermordeten kleine Erinnerungssteine gesetzt werden, könne sich als eine wirkungsvolle Form des Erinnerns erweisen, die weit über Jahrestage hinaus wirke. Alternative Stadtrundgänge, nun zumeist ohne Vertreter der Zeitzeugengeneration durchgeführt, sind ebenso weiterhin Lernformen wie die weitere Arbeit mit Ausstellungen aktuell bleibe. Die Erinnerungsarbeit mit den Beispielen jugendlicher antifaschistischer Widerstandskämpfer soll daher verstärkt werden. Der Studienkreis wird daher eine Ausstellung zum Jugendwiderstand präsentieren.

Ich möchte auf einen Aspekt des Referats von Prof. Weissbecker eingehen, der sagte, es sei uns immerhin gelungen, die organisierte Neonazibewegung zahlenmäßig klein zu halten. Ich gestatte mir, darauf hinzuweisen, dass es auch heute Großvereinigungen und Bewegungen mit starker rechter Präsenz gibt.

Wir sind Zeugen der Entwicklung einer extremen rechtspopulistischen Kraft rechts von der CDU/CSU. Solange die Naziszene aus alten Nazis bestand, die bis 1990 in Amt und Würden waren, bedurfte es keiner Kraft zwischen CDU/CSU und neonazistischen Organisationen, die als rechtspopulistische Kraft nicht in Frage kamen. 1993 hatten die Rechtspopulisten ihren größten Triumph, als das Asylrecht nach den „Rep“-Vorstellungen abgewickelt wurde, und 1999 waren dann die Militaristen mit dem Triumphieren dran: Deutschland führte wieder Krieg. Es zeichnet sich derzeit ab, dass nun wieder eine wirkliche rechte Kraft als Organisation gefragt sein wird. Aber zu vermuten ist auch, dass der deutsche Normalzustand wieder hergestellt wird: Die ganz rechten Elemente bestimmen von außen den Kurs der Volksparteien. Die Integrationspolitik wird nach Thilo Sarrazins rassistischen Vorstellungen missgestaltet. Die großen demokratischen Bewegungen werden ignoriert, wie man der Absage an die Stuttgart21-Opposition und an die Anti-Atom-Bewegung entnehmen kann. Merkel tritt mit der These, die Armen sollen sich selber helfen, vor die UNO, und Gabriel fordert: Wer sich nicht integriert, muss gehen. Gleichzeitig wird bekannt, dass den Migrantinnen und Migranten nicht die notwendigen materiellen Mittel geboten werden, um Deutsch zu lernen und ihre Kinder unterzubringen, d.h. sich zu integrieren.

Einige weitere Gedanken zum Thema „Wirken der Rechten in der Masse“ verweisen uns auf die derzeitige Wehrdebatte. Die drei großen Kriege von Preußen und Deutschland in den letzten 150 Jahren wurden bekanntlich mit Wehrpflichtigen geführt. Millionen von ihnen verbluteten auf den Schlachtfeldern. Die Novemberrevolution 1918 beseitigte den Militärzwang. Hitler führte ihn vertragswidrig wieder ein – mit all den bekannten furchtbaren Folgen. Im Zentrum der Arbeiter-, Friedens- und Antifa-Bewegung stand daher bei Gründung der Bundeswehr der Widerstand gegen die Wehrpflicht. Minister Guttenberg kündigt nun eine Truppenreduzierung, eine Wehretatsverringerung und ein Aussetzen der Wehrpflicht für die nächsten Jahre an. Steht die Friedensbewegung vor einem späten Sieg? Nein, wir werden nur Zeugen eines verlogenen Manövers. Man redet von freiwilligen Wehrpflichtigen (wer nicht musste, ging auch bisher nicht, sondern verweigerte), von Berufs- und Zeitsoldaten. Kaum einer spricht von Reservisten - und die sind es, die es den Militärs so leicht machen, den „Reformen“ und „Kürzungen“ zuzustimmen. Es gibt 80.000 Dienstplätze für sie. Es gibt fast eine Million ausgebildete und trainierte Reservisten – sie sind und bleiben wehrpflichtig bis zum 60. Lebensjahr! Es gibt 5000 Reserveoffiziere in der ZMZ (Zivil-Militärische Zusammenarbeit). So sie im Öffentlichen Dienst sind, können sie innerhalb von Stunden beordert werden – zum Einsatz im Inneren wie Äußeren, auch gegen Streikende, wie die Regierung einräumte. Arbeitgeber werden zum „verständnisvollen Umgang“ mit dem Problem ermuntert - sprich, den Reservisten bei Arbeitsplatzgarantie frei zu geben, damit sie im In- und Ausland schnell eingesetzt werden können, unabhängig vom Alter, ihre Fähigkeiten nutzend. Eine unbekannte Zahl von Reservisten sind auch schon im Kampf "gefallen".

Der Bundeswehrverband und die Reservistenverbände sind immer mit von der Partie. Sie werben fürs Militär und für Kriege. Wir sollten uns dagegen wehren, dass mit den Reservistenverbänden und dem Bundeswehrverband zwei besonders militaristische Großorganisationen derzeit an Einfluss gewinnen. Diese Verbände sind durchsetzt mit rechtsextremistischen Kadern.

Erst kürzlich wurde es von den Verbandsführungen abgelehnt, den NPD-Vorsitzenden Udo Voigt (Hauptmann der Reserve) auszuschließen. Auch andere Nazikader sind dabei. Das war schon seit Gründung dieser Vereinigungen so, denn sie haben auch die Reservisten aufgenommen, die schon in der Wehrmacht dienten. Viele von diesen waren schon im Krieg an schweren Kriegsverbrechen beteiligt. Der Bildungsverein des Bundeswehrverbandes ist nach Karl Theodor Molinari benannt worden, einen Bundeswehr- und Wehrmachtsgeneral, der in Frankreich wegen seiner Kriegsverbrechen zum Tode verurteilt wurde.

Heute rufen die Neonaziverbände ihre „jungen Kameraden“ auf, sich in der Bundeswehr an Waffen ausbilden zu lassen – „für den Kampf für Deutschland“. Diese Leute sind dann dabei, wenn die Zivilmilitärische Zusammenarbeit die Städte und Gemeinden durchdringt. Tausende Reservisten stehen zum Einsatz im Innern bereit – auch zum Einsatz gegen das eigene Volk. Zum Einsatz gegen Streikende.

Die VVN-BdA strebt an, den Konsens zwischen Antifaschismus und Antimilitarismus, das „Nie wieder Krieg und nie wieder Faschismus“ wieder herzustellen. Dazu gibt es derzeit immer mehr Anlass.