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Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes
Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten

Landesvereinigung NRW

 

17.09.2010

Eine Antikriegstagsrede von Silvia Gingold

„Die Faschisten sind nicht an die Macht gekommen, weil sie stärker waren als ihre Gegner, sondern weil wir uns nicht rechtzeitig zusammengefunden haben.“

Auf vielen Veranstaltungen sprechen derzeit die Töchter von Peter Gingold, Alice und Silvia. Sie stellen dabei das Buch ihres Vaters vor. Eine solche Veranstaltung gestaltete dieses Jahr das Kasseler Friedensforum (von den Medien unbeachtet), und zwar aus Anlass des Jahrestages des Kriegsbeginns vom 1.9.1939 und zur Würdigung der Opfer des Faschismus. Dabei sprach Silvia Gingold, Tochter des bekannten antifaschistischen Widerstandskämpfers Peter Gingold (Angehöriger der Resistance). Wir dokumentieren die Rede.

„Dann kam der 1. September 1939, als Hitler verkündete: ,Seit 5.45 wird zurückgeschossen‘ ... Dann am 10. Mai 1940 der Angriff der Hitlerarmee auch im Westen. Die Ereignisse überstürzten sich. Die Invasion in Dänemark, die Landung in Norwegen. Unter Verletzung der Neutralität drangen die deutschen Panzereinheiten in Holland, Luxemburg und Belgien ein“.

Und in den Erinnerungen meines Vaters Peter Gingold über seinen antifaschistischen Kampf an der Seite der Résistance in Frankreich, aus denen ich gerade gelesen habe, heißt es weiter:

„Die Hakenkreuzfahne auf dem Eiffelturm... Nun hatten wir die Deutschen bei uns. Was lag näher, als sie mit unseren Möglichkeiten, also mit Streuzetteln und Flugblättern aufzuklären? Aber unsere kleine Gruppe besaß nicht einmal eine Schreibmaschine, geschweige denn einen Abziehapparat. In einem Spielwarengeschäft besorgten wir uns einen Kinderdruckkasten, Zigarettenpapier konnten wir noch zuhauf erhalten, auch kleine Klebezettel, die auf Schulhefte geklebt werden. Wir stempelten kurze Losungen darauf wie ,Schluss mit dem Krieg‘, ,Nieder mit Hitler‘. Wir wussten, wo Deutsche kaserniert waren und wo die leeren Militär-LKWs standen. Gegen Abend, bei Dämmerung, haben wir die Streuzettel über die Kasernenmauer geworfen, da und dort Zettel angeklebt und auch in die leer stehenden Militär-LKWs geworfen.... Dabei haben wir uns absolut keine Illusionen gemacht, was wir damit erreichen würden. Ein Wehrmachtsangehöriger in seiner Siegeseuphorie würde sich an die Stirn tippen, wenn er so einen Zettel finden würde.... Jedenfalls sollte er wissen: Auch in dieser Situation, wo fast jeder begeistert glaubte, vor dem Endsieg zu stehen, gab es noch Hitlergegner, Kriegsgegner. Vielleicht war es auch gegenüber den Franzosen nichts anderes als eine symbolische Handlung, die zeigen sollte, es gibt auch andere Deutsche, nicht jeder ist ein Nazi...“

Am 1. September 2004, dem 65. Jahrestages des Beginns des Hitlerkrieges erinnerte mein Vater in einer Rede: „Die Kriegsfeuerwalze über ganz Europa, die deutsche Jugend in die Schlachtfelder bis nach Stalingrad getrieben, die Tötungsindustrie, die die gesamte europäische jüdische Bevölkerung auslöschte, Verwüstung und Vernichtung, ein Meer von Blut und Tränen. Ich muss an jedem 1. September vor allem an jene denken, die es verhindern wollten. Zumeist waren es einfache Frauen und Männer vorwiegend aus der Arbeiterbewegung, die nicht erst gegen den Krieg kämpften, als er für verloren galt. Verhindern wollten sie ihn! Alles haben sie riskiert: Existenz, Freiheit, Folter und Leben. Die Überlebenden schworen. „Nie wieder Faschismus – nie wieder Krieg“!. Nicht einmal die schlimmsten Pessimisten unter uns konnten sich damals vorstellen, dass in diesem Land je wieder Nazismus, Rassismus und Antisemitismus aufkommen kann und Nazis wieder unter dem Schutz des Staates marschieren können.“

Und auch dieses Jahr marschieren sie wieder unter dem Schutz des Staates. Die Neonazis in Dortmund planen am 4. September einen Großaufmarsch zu einem „Nationalen Antikriegstag“. Und der Polizeipräsident von Dortmund hat nicht einmal den Versuch unternommen, diesen zu verbieten. Sie bejubeln und missbrauchen diesen Tag für ihre geschichtsfälschende Darstellung, der Krieg habe erst am 2. September begonnen, als Großbritannien in den Krieg eingriff. Ihre rassistischen und ausländerfeindlichen Parolen erhalten jetzt noch zusätzliche Nahrung durch die unsäglichen menschenverachtenden Äußerungen von Sarrazin. Als mein Vater von Journalisten oft gefragt wurde, ob er angesichts dieses wieder erstarkenden Rassismus durch die neuen Nazis nicht resigniere, betonte er immer wieder, wie viel Zuversicht er schöpfe aus den zahlreichen beeindruckenden antifaschistischen Demonstrationen und Aktionen der vorwiegend jungen Menschen.

Auch an diesem 4. September wird ein breites antifaschistisches Bündnis in Dortmund mit Blockaden – wie in Dresden – dafür sorgen, den Aufmarsch der Neonazis zu verhindern. In seinen Erinnerungen über den antifaschistischen Widerstandskampf schreibt Peter Gingold:

„Wer mir nach 1945 vorausgesagt hätte, dass Deutschland, von dem der grausamste, mörderischste Krieg der Weltgeschichte ausgegangen ist, eines Tages wieder Krieg führen wird, den hätte ich reif für die Irrenanstalt erklärt. Nicht einmal die Wiederaufrüstung in Deutschland hatte ich mir, wie alle Überlebenden, vorstellen können. Doch das Unfassbare geschah. Am Ende des 20. Jahrhunderts führte Deutschland wieder Krieg!“

Das Zitat bezieht sich auf den Krieg gegen Jugoslawien, in dem sich nun wieder eine deutsche Armee, die Bundeswehr im Kriegseinsatz befand.

Dass die Teilnahme der deutschen Bundeswehr an kriegerischen Auseinandersetzungen immer mehr zur Normalität werden soll in dem Bestreben, sich wieder als Weltmacht zu etablieren, beweist vor allem die derzeitige Beteiligung am Krieg in Afghanistan. Nach dem Motto: Wer mitschießt, kann auch mitreden. Um machtpolitische und wirtschaftliche Interessen geht es vor allem – und nicht – wie vorgegeben – um die Verteidigung von Menschenrechten und Demokratie.

Die soziale Lage der afghanischen Bevölkerung hat sich verschlechtert, die Anzahl der zivilen Opfer steigt an. Die Truppenerhöhung hat das Land noch unsicherer gemacht.

In 3 Tagen, am 4. September jährt sich der Tag, an dem die Bundeswehr in Afghanistan mit der Bombardierung eines Tanklasters in Kunduz ein Massaker anrichtete, dem mehr als 100 Zivilisten zum Opfer fielen.

Wie jetzt bekannt wurde, machen Spezialkräfte der Bundeswehr in Afghanistan gezielt Jagd auf Taliban und beteiligen sich damit durch ihre Zuarbeit an gezielten Tötungen von Aufständischen durch Streitkräfte der US-Armee.

Der überwiegende Teil unserer Bevölkerung lehnt den Krieg in Afghanistan und die Beteiligung der Bundeswehr ab.

Den Krieg beenden, sofortiger Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan – dieser Forderung muss jetzt entschieden Nachdruck verliehen werden. Hierzu bietet die bundesweit gestartete Unterschriftenkampagne der Friedensbewegung eine gute Möglichkeit.

In diesem Sinne bitte ich Euch, an der Verbreitung dieses Appells mitzuhelfen und am 4. September zu unserer Mahnwache anlässlich des Jahrestages des Massakers von Kunduz um 11.00 Uhr auf den Opernplatz zu kommen.

Wenn wir heute der Millionen Opfer des Faschismus an diesem Mahnmal gedenken, müssen wir uns der bitteren Erfahrung bewusst werden, dass die Antifaschisten, unter denen viele im Kampf gegen Hitler ihr Leben einsetzten, den Faschismus nicht verhindern konnten. Dazu noch einmal Peter Gingold:

„Die Faschisten sind nicht an die Macht gekommen, weil sie stärker waren als ihre Gegner, sondern weil wir uns nicht rechtzeitig zusammengefunden haben. 1933 wäre verhindert worden, wenn alle Hitlergegner die Einheitsfront geschaffen hätten. Dass sie nicht zustande kam, dafür gab es für die Hitlergegner in der Generation meiner Eltern nur eine einzige Entschuldigung: Sie hatten keine Erfahrung, was Faschismus bedeutet, wenn er einmal an der Macht ist. Aber heute haben wir alle die Erfahrung, was Faschismus bedeutet. Für alle künftigen Generationen gibt es keine Entschuldigung mehr, wenn sie den Faschismus nicht verhindern.“