11.09.2010
Ruhr 2010
Todestunnel und Lebenshalde
Unser alter Peugeot machte es nicht mehr. Das
Feriengeld ging für die Reparatur drauf. Wir blieben in Dortmund
und folgten dem Ruf Herbert Grönemeyers "Kooomm zur
Ruhr".
Zuerst: der Dortmunder Westfalenpark. Eine einzigartige
Parklandschaft mit Teichen, Bächen, Hügeln, Rosenfeldern, begrenzt
von den Resten der Hörder Hochöfen. Die Cola-Werbung am
Fernsehturm Florian war zum Glück endlich verschwunden. Lange Zeit
hatte ich vermutet, man werde noch Auswuchtungen am Turm anbringen,
um die typische Cola-Flaschenform zu schaffen. Angebracht wurde
vielmehr eine Absprungplattform für das Bungeespringen, doch deren
Überreste waren in diesem Sommer endlich auch abmontiert. Der Rest
hatte das Aussehen eines Galgens. Er erinnerte an den Tod eines
Bungeespringers vor sieben Jahren. Da war ein Herr Schweitzer aus
dem Süden angereist, der ein selbst fabriziertes Gummiseil
anbrachte und die Leute, an den Beinen gefesselt, nach Zahlung eines
beträchtlichen Betrages abspringen ließ. Das Seil riß. Nach dem
Todesfall kam es bis heute nicht zu einem Gerichtsverfahren. Herr
Schweitzer handelte privat. Privat geht vor Staat. Profit geht vor
Sicherheit.
"Privat vor Staat" war dann fünf Jahre die Hauptlosung
des schwarzgelben Koalitionsvertrages im Lande NRW. Gegen Ende
dieser Koalition kam wieder ein Herr aus dem Süden, ein Herr
Schaller, und redete der Landesregierung und dem Duisburger
Oberbürgermeister ein, daß eine Loveparade gerade das Richtige
für diesen Standort sei; denn wenn schon Arbeitsplätze fehlen,
dann soll es wenigstens Freizeitplätze geben. Der einzige Zugang
zum Gelände der Loveparade bestand aus einem langen, nicht in Zu-
und Abgangsweg getrennten Tunnel, in den 30.000 Menschen passen. Das
Fünffache an Besuchern sollte den Tunnel in einer Stunde
durchqueren, das heißt, die Verweildauer, so die
Genehmigungspapiere, sollte zehn Minuten betragen. Die Menschen
kamen aber viele Stunden lang nicht voran und nicht zurück. 21
starben im Gedränge, 500 wurden schwer verletzt.
Die Braunen sagten einst: Gemeinnutz geht vor Eigennutz. Das war
gelogen. Die Schwarzgelben sagten: Privat vor Staat. Das meinten sie
ganz ernst. Kein Aktenordner durfte mehr von den Kommunen beschafft
werden, die mußten einen Privaten damit beauftragen. Eine gewaltige
Bürokratie entstand, um aufzupassen. Nur die
Sicherheitsbestimmungen in Duisburg mißachtete sie. Der private
Herr Schaller durfte machen, was er wollte. Er machte eine
Riesenreklame für seine Muckibudenkette McFit. Eintritt frei, Tod
und Leid inbegriffen.
2006 wurde Essen stellvertretend für das Ruhrgebiet zur
europäischen Kulturhauptstadt 2010 ernannt. Die Kampagne "Ruhr
2010" begann. Die Leute aus dem Pütt als Gastgeber machen es
gut. Hier ist schon lange weniger Fremdenhaß als anderswo
anzutreffen. Es sei denn, man haßt sich untereinander: Schalker
gegen Borussen und umgekehrt. "Ruhr 2010" soll Land und
Leute sympathisch zeigen. Wenn endlich der Psychokampf zwischen
Gelsenkirchen und Dortmund aufhörte, wäre viel gewonnen. Es gab
Ansätze dazu. So beim größten Chor der Welt, der im Rahmen der
"Ruhr 2010" in der Schalker Arena auftrat. Alles Leute von
hier. Ein Erlebnis. Rührselig sangen alle gemeinsam das
Bergarbeiterlied vom Steiger, der kommt und "das Leder vor dem
Arsch" trägt.
Einst gab es 140 Zechen im Ruhrgebiet mit 485.000 Beschäftigten,
heute sind es noch vier mit 21.000 Bergleuten. Vom einstigen
Ruhrbergbau künden die inzwischen begrünten Abraumhalden. Das
Bergwerk Prosper-Haniel in Bottrop liegt am Fuße der Halde an der
Beckstraße. Dieselbe Adresse hat das Alpin-Center Bottrop, die
weltweite längste Skihalle (640 Meter inklusive Kurven) am Fuße
der Halde, über deren Gipfel der Tetraeder ragt, ein 50 Meter hohes
Kunstwerk aus Stahl und Aluminium. Es steht da schon einige Jahre,
aber erstmals steigen wir in diesen Ferien hinauf. Wiederum ein
wirkliches Erlebnis, ich sag mal nicht Event. Das ganze Ruhrgebiet
ist zu sehen, viel mehr Grün als Grau. Die Tour geht weiter zum
"Schönsten Museum der Welt", wie sich das Folkwang-Museum
in Essen für einige Wochen nennt, in denen der Bestand aus dem
Jahre 1933 wiederhergestellt ist. Die Nazis hatten ihn zerschlagen.
Anderntags besuchen wir die ehemalige Zeche Zollverein, das
heimliche Zentrum der Kulturhauptstadt. Weltweit bekannt ist
inzwischen die Rotlicht-Rolltreppe zum Ruhr-Museum. Wo früher
Steinkohle gewaschen wurde, findet man jetzt die Regionalgeschichte
von Kohle, Stahl und Gesellschaft nachgezeichnet. Wer genau
hinsieht, kann auch Andeutungen von Herrschaftsverhältnissen
erkennen. Fast auf den Bauch muß ich mich legen, um die Exponate
über Ernst Achenbach (Kriegsverbrecher, Krupp-Vertrauter und
später FDP-Politiker) und Werner Best (Stinnes-Vertrauter aus
Mülheim, Hitlers Putsch-Planer und NS-Diktator von Dänemark) zu
erkennen. Das Museum erinnert auch an Widerstandskämpfer von der
Ruhr. Aber es ist zu wenig, was da vom Widerstand der Arbeiter gegen
Hitler und vom Paktieren der Unternehmer mit Hitler gezeigt wird.
Erkennbar wird: Mit der übermächtigen Kraft der Ruhrindustrie,
ihrer Schlüsselgewalt über Krieg und Frieden ist es vorbei. Daß
Ruhr-Kohle und Ruhr-Stahl an Bedeutung verloren haben, mag
beruhigend auf den wirken, der sich vor einem Wiederauferstehen
deutscher imperialistischer Autarkiebestrebungen fürchtet. Doch es
sei beachtet: Krupp, nun mit Hoesch und Thyssen zu ThyssenKrupp
vereint, mischt beim U-Boot- und Panzerbau wieder mit - mittels
Subunternehmen. Nach den Schwüren von 1945 hätte es niemals mehr
dahin kommen dürfen. Ob deutsche Kriegstreiberei nun auf dem
deutschen Sonderweg vorankommt oder auf dem Weg der Eingliederung in
EU und NATO - in jedem Fall bleibt sie brandgefährlich.
Als trauriger Höhepunkt von "Ruhr 2010" wird die
Duisburger Katastrophe vom 24. Juli in Erinnerung bleiben, als
fröhlicher Höhepunkt hingegen das RuhrStillleben vom 18. Juli. Von
drei Millionen Bewohnern des Ruhrgebiets war an diesem Julisonntag
rund die Hälfte auf der Schnellstraße B 1/A 40 zu Fuß oder per
Rad unterwegs. Auf 60 Kilometern von Duisburg bis Dortmund war die
Autobahn beidseitig gesperrt, stillgelegt. Zwei Spuren waren - je
eine in Richtung Duisburg und in Richtung Dortmund, also nicht so
verbrecherisch geregelt wie eine Woche später im Duisburger
Karl-Lehr-Tunnel - für Radfahrer freigehalten. Eine Spur für
Tausende Tische und Schirme und Bänke mit Kunst und Kultur aus dem
Alltag. Eine weitere für Fußgänger. So viel Engagement der
Menschen aus dem Ruhrgebiet hatte man seit langem nicht erlebt,
eigene Ideen und Aktionen, Essen und Trinken und Malerei und Musik.
So viel Ehrenamt und Uneigennützigkeit für die Heiterkeit eines
Sommertages auf der dafür eigens stillgelegten B1/A40.
Zur Freundlichkeit der Menschen an der Ruhr gehört auch die
Freundlichkeit der kleinen Leute gegenüber denen, die sie nicht
verdient haben. Das war aber nicht immer so. Ich denke an den 14.
Februar 1997, den Tag, an dem der Ruhrschnellweg B1/A40 schon einmal
gesperrt war. Es war eine spektakuläre Demonstration, eine mehr als
90 Kilometer lange Kette mit 220.000 Menschen, die ein Mahnzeichen
"Band der Solidarität" in Richtung Bonn richteten, wo die
Kohlegespräche der Konzerne und Regierenden stattfanden. Es ging um
den Erhalt des Steinkohlebergbaus und um die Arbeitsplätze der
Stahlarbeiter, besonders jener aus dem östlichen Ruhrgebiet. Ein
letztes Aufbäumen. Schon in den Jahren 1960 bis 1994 hatte sich
allein in Dortmund die Zahl der Industriearbeitsplätze von 127.000
auf 37.000 verringert, und so ging es weiter. Aber es gab auch
Widerstand. Bei der Besetzung des stillgelegten Ruhrschnellwegs 2010
war nur noch Frohsinn zu spüren. Gut, daß kein Trübsinn
herrschte, aber ein bißchen rebellisch hätte es doch zugehen
dürfen. Denn von den drei Millionen Ruhrgebietsbewohnern ist jetzt
fast eine Million von Hartz IV betroffen., darunter auch wieder
viele mit Migrationshintergrund - sie machen fast ein Viertel der
Menschen im Ruhrgebiet aus.
Das Image ändern? Warum eigentlich? "Leder vor dem Arsch
fallara", dabei bleibt es. In der ehemaligen Zeche Zollern in
Dortmund-Böwinghausen wurde passend zu "Ruhr 2010" eine
Ausstellung gezeigt: "Helden im Zeichen von Schlägel und
Eisen". Es ging um die Bergbaukatastrophen und den Umgang mit
ihnen. Für die Herren der Zechen waren ihre Arbeiter "in
treuer Pflichterfüllung gefallen", wie man es auch über die
im Krieg Getöteten sagte. Die Arbeiterbewegung nahm die Unglücke
zum Anlaß, Ausbeutung und Unsicherheit der Kumpel anzuprangern.
Entsprechend griffen die kommunistischen und sozial-demokratischen
Parlamentsabgeordneten an. Was wird man später über die
Ver-unglückten von Duisburg sagen? Werden sie tragisch einem bösen
Schicksal erlegene sein? Oder wird man auch die Gier anprangern, die
das alles mit auslöste? Heldenepos oder Kapitalverbrechen? Wie
gehabt, aber mit neuem Image? Warum lassen sich die Menschen in die
mörderischen Events treiben wie einst in die Knochenmühlen der
Rüstungsschmieden und Blutkohlezechen?
Wir brauchen wieder Rebellentum. Wir brauchen Mutige, nicht die
Mutigen der Bungees und Ravefahrer, sondern die des Protests. Wir
brauchen Mutige wie Jürgen Lodemann und Albert Lortzing. Der
Ruhrschriftsteller Jürgen Lodemann hielt bei Beginn von "Ruhr
2010" anläßlich der Vorstellung des Buches "Meine Heimat
- Lieblingsorte in Nordrhein-Westfalen" (an dem auch ich
mitarbeiten durfte) einen Vortrag, in dem er abwich vom Üblichen
und Erwarteten. Er forderte, endlich die Oper "Regina" von
Albert Lortzing (1801-1851) aus dem Revolutionsjahr 1848 im Essener
Aalto-Palast uraufzuführen. Diese Freiheitsoper aus den Anfängen
der deutschen Industrieentwicklung und Demokratiebestrebung ist
beste Arbeiterliteratur. Lortzing - man hat es ihm nicht gedankt, er
starb im Elend - läßt seine Industriearbeiter singen: "Es
handelt sich um höheren Lohn, es handelt sich um noch weit mehr,
beschlossen ist, zu Ende sei die Knechtschaft und die Tyrannei! Wir
werden Recht uns jetzt beschaffen, wenn nicht mit Worten, dann mit
Waffen." Heute würde ich vorschlagen: mit Witz und
Verweigerung.
Ulrich Sander
Zuerst erschienen in Ossietzky
17/2010
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