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Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes
Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten

Landesvereinigung NRW

 

15.07.2010

Drachenzahn

Protokolliert. Aus einer (nicht gehaltenen) Rede der designierten Ministerpräsidentin von Nordhein-Westfalen, Hannelore Kraft (SPD) 

Von Hans Daniel 

Die zweite Landesregierung in NRW (v. l.) 1947: Heinrich Weitz (CDU), Walter Menzel (SPD), Rudolf Amelunxen (Zentrum), Ministerpräsident Karl Arnold (CDU), Heinz Renner (KPD), Erik Nölting (SPD), Hugo Paul (KPD) 

(...) Sie alle haben in diesen Tagen ein Schreiben der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) erhalten. Wir werden darin zur Aufarbeitung der Geschichte des Landtages aufgefordert, der zur politischen Strafjustiz des Kalten Krieges und zu den Berufsverboten geschwiegen habe wie zu der Beteiligung zahlreicher Nazis an der Landtagsarbeit. (Siehe Spalte)

Dem Vorwurf ist nicht zu widersprechen. Der Landtag hat zur politischen Strafjustiz der 50er Jahre, die unserem heutigen Rechtsempfinden zuwiderläuft, geschwiegen. Das Landesparlament hat es widerspruchslos hingenommen, daß Josef Angenfort (1924–2010) als jüngster Abgeordneter dieses Hauses am 12. März 1953 in Duisburg unter Bruch seiner Immunität verhaftet und dabei unsere Landesverfassung von den politischen Strafbehörden kurzerhand außer Kraft gesetzt wurde. Wir haben zu seiner Verurteilung zu fünf Jahren Zuchthaus geschwiegen und uns bis zu seinem Tode am 13. März dieses Jahres nicht aufraffen können, Forderungen nach seiner Rehabilitierung zu unterstützen, uns bei ihm zu entschuldigen.

Nach den Wahlen vom 9. Mai hatte sich die Möglichkeit ergeben, eine neue Landesregierung und den angestrebten Politikwechsel in Nordrhein-Westfalen durch eine rot-grün-rote Koalition herbeizuführen. Ein dazu geführtes Sondierungsgespräch mit Vertretern der Fraktion der Partei Die Linke endete ohne ein Ergebnis; ein weiteres hat es nicht gegeben. Das Echo darauf war über die Landesgrenzen hinaus beachtlich – sowohl bedauernd als auch im Sinne »Wir haben es ja immer gesagt, mit den Linken geht es nicht«. 

NRW-Geschichte 

Dafür steht ein Kommentar der recht konservativen Frankfurter Allgemeinen Zeitung, die am 25.Mai schrieb– ich zitiere: »Dort – in Düsseldorf – fühlen sich die Linken von beiden Wunschpartnern vorgeführt, weil bei den Sondierungsgesprächen die meiste Zeit offensichtlich über die DDR gesprochen wurde. Wer aber den Unrechtsstaat Honeckers in Teilen verklärt, muß es sich auch gefallen lassen, daß man ihm auf den vergangenheitspolitischen Drachenzahn fühlt.« Ende des Zitats. Der Parlamentarische Geschäftsführer der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen, Volker Beck, der an diesem Gespräch teilgenommen hat, hat es im Gespräch mit dem Parteiblatt der Partei Die Linke, Neues Deutschland, vom 16. Juni als skandalös und »unangemessen« empfunden, daß die Linke zwar die DDR als »Diktatur« klassifiziert, aber auch die Verfolgung von Kommunisten in Westdeutschland zum Gesprächsthema machte.

Mit dem Fühlen auf den »vergangenheitspolitischen Drachenzahn« ist das so eine Sache. Man muß wohl akzeptieren, daß in der BRD sozialisierte Bürger der Meinung sind, dieses »Fühlen« müsse ehrlicherweise auch für die Vergangenheit der Alt-BRD gelten. Ich teile Becks Meinung, daß man die DDR und die BRD nicht auf eine Stufe stellen darf. Wenn wir aber, wie die Überschrift unseres Koalitionsvertrages lautet »Gemeinsam Neue Wege gehen« wollen, sollten wir es, auch mit Blick auf die Geschichte dieses Hauses, nicht von vornherein als »skandalös« und »unangemessen« abtun, wenn Die Linke – wenn wir schon beim Neubeginn die Vergangenheit der DDR zum Gesprächsgegenstand gemacht haben – auch über die Vergangenheit der BRD sprechen will.

VVN-BdA an den neuen Landtag

Aus Anlaß der Konstituierung des neuen Landtages von Nordrhein-Westfalen (NRW) am 9.Juni richtete der Landesverband NRW der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA) an alle Abgeordneten einen Brief. Darin heißt es:

» (...) Als größte und traditionsreiche Organisation der NS-Verfolgten und Opfer des Faschismus hat die VVN-BdA sich stets für die Entschädigung der Opfer des Faschismus eingesetzt. Wir werden es weiter tun. Wir hoffen dabei auf Unterstützung des neuen Landtags.«

Die VVN-BdA äußert sich erfreut, »von einer nun dem Landtag angehörenden Abgeordneten anläßlich der Beisetzung unseres Ehrenvorsitzenden Josef Angenfort (ehemaliges Landtagsmitglied) zu hören: ›Und werden wir nicht Ruhe geben, bis es auch ganz offiziell aus dem NRW-Landtag heißt: Jung, wir haben dir Unrecht getan.‹ In Anspielung auf eine seiner Aussagen in der WDR-Dokumentation ›Als der Staat rot sah – Justizopfer des Kalten Krieges‹, sagte dies Frau Bärbel Beuermann (Die Linke NRW) in der Trauerrede für Josef (Jupp) Angenfort. Er war 1951 der jüngste Abgeordnete im Düsseldorfer Landtag und wurde 1954 trotz seiner Immunität, die er als Landtagsabgeordneter besaß, verhaftet und wegen seines Friedensengagements angeklagt und zu einer Zuchthausstrafe von fünf Jahren und Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte verurteilt. Daß der Landtag von NRW sich nie für sein Mitglied Josef Angenfort eingesetzt hat, daß er nicht protestierte, als Tausende Bürgerinnen und Bürger des Landes in der Zeit des Kalten Krieges in politischen Prozessen zu Haftstrafen verurteilt wurden, als zahlreiche von ihnen mit Berufsverboten belegt wurden – all das gereicht dem Landtag nicht zu Ehren. Nicht einmal eine Untersuchung leitete er ein, als ein Friedensaktivist, der 21jährige Arbeiter Philipp Müller am 11.Mai 1952 in Essen bei einer Friedensdemonstration von einem Polizisten getötet wurde. Der Landtag sollte sich dafür bei den politischen Opfern des Kalten Kriegs und deren Hinterbliebenen entschuldigen. Er sollte ferner eine Untersuchung zu dem Vorwurf einleiten, er habe in den ersten Legislaturperioden eine größere Anzahl von Nazis in seinen Reihen gehabt.«

Ich sage das auch in bezug auf den geforderten Blick auf die Geschichte unseres Bundeslandes und dieses Parlaments. An dieser Geschichte haben, ich erinnere daran auch im Hinblick auf die bevorstehenden Feiern zur Gründung des Landes Nordrhein-Westfalen am 23. August 1946 durch die britische Besatzungsmacht, zur Konstituierung des ersten Landtages und der Bildung der ersten Regierung, daran ist nicht zu deuteln, Kommunisten mitgeschrieben. Dem ersten Kabinett unter dem Ministerpräsidenten Rudolf Amelunxen (Zentrum) gehörte der vom Hitlerregime verfolgte frühere Reichstagsabgeordnete der KPD, Hugo Paul (1905–1962), als Minister für Wiederaufbau an. 1934 vom Volksgerichtshof zu zweieinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt, war er nach Strafverbüßung bis 1939 im KZ Sachsenhausen inhaftiert. 1943 wurde er erneut verhaftet und wegen »Vorbereitung zum Hochverrat« zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilt. Bei Kriegsende kam er frei. Von Oktober 1946 bis Juni 1950 war er nordrhein-westfälischer Landtagsabgeordneter. 

Rentenaberkennung 

Aus dem Widerstand gegen das NS-Regime, der Haft in verschiedenen französischen Internierungslagern und dem Zuchthaus Ludwigsburg kam Heinz Renner (1902–1974) wieder nach Essen. Er war Oberbürgermeister dieser Stadt und im zweiten Landeskabinett unter Ministerpräsident Karl Arnold (CDU) zeitweise Sozialminister und Verkehrsminister in Nordrhein-Westfalen. Dem Landtag gehörte er von Oktober 1946 bis September 1949 an. Nach dem 1956 vom Bundesverfassungsgericht ausgesprochenen Verbot der KPD trat er mit einigen seiner Genossen zu den Landtagswahlen 1958 als unabhängiger Kandidat an. Der Essener Rechtsanwalt Diether Posser, viele Jahre Mitglied der sozialdemokratischen Fraktion dieses Landtags, Landesjustiz- und Finanzminister und stellvertretender Ministerpräsident, hat Heinz Renner juristisch vertreten. Obwohl es nach seiner zeitweisen Inhaftierung nicht zu einer rechtskräftigen Verurteilung kam, wurde ihm, weil er laut Schreiben der Landesrentenbehörde durch seine geplante Kandidatur »als führender Funktionär der KPD die auf die Beseitigung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung gerichteten Bestrebungen dieser Partei gefördert« habe, der Status als NS-Verfolgter aberkannt, die Entschädigungszahlung für erlittene Schäden und Verfolgung auf der Grundlage des Bundesentschädigungsgesetzes wurde eingestellt. Bis dahin erhaltene Leistungen in Höhe von 27283,60 D-Mark mußte er zurückzahlen. In einem Beileidsschreiben von Johannes Brock, Landtagsabgeordneter der Zentrumspartei an die Familie des 1974 Verstorbenen hieß es, er habe »in schwerster Zeit unserem Volk große Dienste geleistet und dafür wird man ihm immer dankbar sein und sein Andenken hoch in Ehren halten«. 

Haftstrafen 

Die meisten Mitglieder unseres Hauses haben diese Jahre, in denen es, wie der ehemalige sozialdemokratische Innenminister von Nordrhein-Westfalen Dr. Herbert Schnoor im Januar 1990 in einem Brief schrieb, ich zitiere, »viele Strafurteile gegen KPD-Mitglieder und -Anhänger gegeben hat, die unserem heutigen Rechtsempfinden zuwiderlaufen« nicht erlebt. Unserem heutigen Rechtsempfinden zuwider läuft ganz sicher der Umgang mit dem ehemaligen Abgeordneten unseres Landtages Karl Schabrod (1900–1981). Nach dem Reichstagsbrand wurde der kommunistische Redakteur am 28.Februar 1933 bis zum 1. Mai 1934 in »Schutzhaft« genommen und nach kurzer Freiheit am 28. Juli 1934 erneut verhaftet. Das Dortmunder Sondergericht beantragte gegen ihn und einen weiteren Angeklagten die Todesstrafe. Er wurde schließlich zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt. Nach der Befreiung 1945 gehörte er zu den ersten ernannten Landtagsabgeordneten, er blieb es bis 1954. Besondere Verdienste erwarb er sich bei der Ausarbeitung unserer Landesverfassung. Auch Karl Schabrod wollte nach dem KPD-Verbot von 1956 gemeinsam mit anderen zu den Landtagswahlen 1958 und zu den Bundestagswahlen 1961 als unabhängiger Kandidat antreten. Beide Male wurde er wegen »Staatsgefährdung«, »Geheimbündelei« oder »Rädelsführerschaft« in einer »verfassungsfeindlichen Vereinigung« angeklagt. 1959 wurde er zu neun Monaten und 1962 zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt. Die Entschädigungskammer des Landgerichts Düsseldorf erkannte ihm parallel dazu die Anerkennung als Verfolgter des NS-Regimes ab, verbunden mit dem Verlust einer Wiedergutmachungsrente. Dieses »Ärgernis«, so Diether Posser, der auch Schabrod in seinen Verfahren vertreten und vor Gericht verteidigt hat, »konnte bis zu seinem Tod nicht beseitigt werden.

Ich nehme noch einmal die Eingangs zitierten Formulierung von den »vergangenheitspolitischen Drachenzähnen« aus der Frankfurter Allgemeine Zeitung auf. Politische Hygiene erfordert, daß wir uns alle zu diesem Thema verhalten. (...)

Mit freundlicher Genehmigung der Jungen Welt.