18.06.2010
Die deutsche Militärdoktrin
Welchen Auftrag hat das deutsche Militär? Vom
Grundgesetz her nur den Verteidigungsauftrag. Insofern hatte Jürgen
Trittin, Vorsitzender der Grünen, recht, als er die vom bisherigen
Bundespräsidenten Horst Köhler auf dem Rückflug von Afghanistan,
seiner letzten Dienstreise, holprig, aber deutlich gegebenen
Hinweise auf die wirtschaftlichen Interessen, denen die Bundeswehr
diene, als grundgesetzwidrig beanstandete. Aber diese auch von
sozialdemokratischen Politikern geäußerte Kritik sorgte nicht für
Klarheit über den tatsächlichen Auftrag des deutschen Militärs,
im Gegenteil:
Sie verschleierte, daß die Bundeswehr schon jahrzehntelang,
spätestens seit dem Ende des Warschauer Pakts, nicht defensiv,
sondern offensiv ausgerichtet ist, daß in den geltenden
"Verteidigungspolitischen Richtlinien" seit 1992 die
"Aufrechterhaltung des freien Welthandels und des ungehinderten
Zugangs zu Märkten und Rohstoffen in aller Welt" als
militärische Aufgaben benannt sind, daß seitdem alle
Regierungsparteien und -koalitionen, auch Rot-Grün, diese
imperialistische Militärdoktrin gebilligt und angewendet haben und
daß diese Doktrin inzwischen - der Öffentlichkeit verborgen - noch
ausgeweitet worden ist und jetzt auch die militärische
Gewaltanwendung im Innern umfaßt.
Begründer der neuen deutschen Militärdoktrin war Anfang der
1990er Jahre der damalige Generalinspekteur der Bundeswehr, Klaus
Naumann. Laut Naumann hat die Bundeswehr "für deutsche
Interessen" zu kämpfen und für das, was er laut Spiegel 3/93
dafür hält: "Es gibt zwei Währungen in der Welt:
wirtschaftliche Macht und die militärischen Mittel, sie
durchzusetzen." SPD-Kriegsminister Rudolf Scharping formulierte
Anfang 2001 auf dem Programmforum "Sicherheit für
Deutschland", mit dem die SPD ihren Wahlkampf eröffnete, ganz
unverblümt: "In 25 Jahren ist das Gas in der Nordsee alle,
aber in der Region um Afghanistan und im Kaukasus ist alles
vorhanden. Und ob dort regionale Sicherheit entsteht, ist im
Interesse aller, die in Zukunft aus der Region Energie beziehen
wollen."
Rot-Grün hat die alle Grenzen ("out of area")
überschreitende Entwicklung und Verdrehung der Militärpolitik
mitgemacht und gibt sich nun empört. Wenn künftig mal ein
Politiker zu erkennen gibt, daß die Bundeswehr Krieg im Innern
vorbereite, werden wir wieder Empörungsgeschrei hören. Aber die
Beschlüsse dafür sind gefaßt, nur leider kaum veröffentlicht und
beachtet.
Unter der Bezeichnung LÜKEX 2010 - länderübergreifende
Krisenmanagement-Übung - fand jetzt die vierte Übung dieser Art in
der Nachfolge der WINTEX-Übungen aus der Zeit des Kalten Krieges
statt. "Übung für Atom-Anschlag am Flughafen" titelte
der Kölner Stadtanzeiger selbstentlarvend seinen Bericht - wo es
doch wohl "gegen" heißen müßte. Gemeint war: Der
"weltweite Terror" werde nicht nur in Afghanistan und am
Horn von Afrika bekämpft, sondern auch bei uns zu Hause. Und zu den
"Terroristen" sind laut Bundeswehrdokumenten auch
Demonstranten, Globalisierungsgegner und ähnliche zu zählen. Nicht
nur in Afghanistan spielt zudem die Polizei als Hilfstruppe der
Bundeswehr eine große Rolle, sondern auch im Inland soll die
Bundeswehr mit der Polizei zusammenwirken. Zwischen 1000 und 1500
Polizisten und Soldaten waren gemeinsam in Köln im Einsatz.
Mit den Zeitungsüberschriften ist es so eine Sache. Mit den
wirklichen und den nicht erschienenen. Spätestens am Samstag, dem
19. Februar 2005, wäre folgende Schlagzeile in den Zeitungen
fällig gewesen - sie unterblieb jedoch: "Bundeswehrkader um
Millionen Reservisten vergrößert - Einsatzalter auf 60 Jahre
angehoben". Am 17. Februar 2005 hatte nämlich der Bundestag in
einer Nachtsitzung das "Gesetz über die Neuordnung der Reserve
der Streitkräfte und zur Rechtsbereinigung des
Wehrpflichtgesetzes" beschlossen. Ohne mündliche Aussprache
und fast ohne Berichterstattung der Medien. Mit dem Gesetz wurde das
Alter, bis zu dem Reservisten zu Einsätzen - nicht nur zu Übungen
- mobilisiert werden können, auf 60 Jahre angehoben. Reservistinnen
und Reservisten wurden in den Umbau - man sagt hier
"Transformation" - der Bundeswehr von einer
Verteidigungsarmee zu einer weltweit agierenden Interventionsarmee
aktiv einbezogen. Mit § 6c des Gesetzes regelte der Bundestag den
Einsatz der Bundeswehr im Inneren der Bundesrepublik Deutschland;
die Reservistinnen und Reservisten sind einbezogen.
Am 29. August 2009 hätte die Schlagzeile lauten müssen:
"Bundesregierung will mit Bundeswehr Streiks bekämpfen".
Eine Antwort der Bundesregierung an die Linkspartei im Bundestag vom
28.8.09 besagte eindeutig, daß die Kampfbedingungen der
Gewerkschaften erheblich eingeschränkt werden. Zumindest im
Öffentlichen Dienst steht Streikbruch mittels Bundeswehr auf der
Tagesordnung. Denn in der Antwort an den Bundestag schließt das
Bundesverteidigungsministerium nicht aus, daß die ZMZ-Kommandos
(Zivil-Militärische Zusammenarbeitskommandos) bei Demonstrationen
zum Einsatz kommen. Dies obliege den Landesbehörden. Selbst der
bewaffnete Militäreinsatz anläßlich von Streiks im Transport-,
Energie- oder Gesundheitswesen sowie bei der Müllabfuhr wird nicht
ausgeschlossen - eine Entscheidung darüber sei "dem jeweiligen
Einzelfall vorbehalten". Die Bundestagsabgeordnete Ulla Jelpke
(Linkspartei) kommentierte: "Die Bundesregierung hält sich
damit alle Optionen für den Militäreinsatz im Inneren offen. Die
ZMZ-Kommandos wirken gleichsam als militärische Vorauskommandos,
die schleichend in die zivilen Verwaltungsstrukturen einsickern. Das
Konzept der ZMZ läuft damit letzten Endes auf einen offenen
Verfassungsbruch hinaus."
"Militarisierung schreitet voran", meldet Neues
Deutschland am 31. Mai 2010, aber auch nicht als Schlagzeile,
sondern unauffällig auf Seite 14 unter "Aus den
Ländern". Berichtet wird über Verträge der Bundeswehr mit
den Job Centers und den Schulministerien der Länder, die den Zweck
verfolgen, Schüler und Berufsanfänger zu indoktrinieren und
anzuwerben. Ein Thema, das weit größere Beachtung verdient.
Denn der heutige globale Kapitalismus steuert weltweit "auf
einen autoritären Ausweg" zu, schreibt Conrad Schuhler im
jüngsten ISW-Report. Die Teilung in Menschen im Überfluß und
solche in Not und Unsicherheit finde sich zunehmend in den
"Wohlstandsgesellschaften" selbst: einerseits gute Arbeit,
Mitgestaltung und Konsum für Wenige, andererseits sinnentleerte
Arbeit, Kommandostrukturen und Existenzminimum für Viele. Die Zahl
der "Verlierer" werde national und global weiter zunehmen.
Zäune um die Wohlstandsinseln zu errichten, werde nicht genügen.
"Die wachsenden Massen der Armen und Hoffnungslosen", so
Schuhler, "müssen unter Kontrolle gehalten werden, und die
Kontrollmaßnahmen werden umso mehr Zwang enthalten, je mehr das
Einverständnis oder das bloße Stillhalten der Verlierer abnimmt.
National müssen aus der Logik dieser Art von Kapitalherrschaft
Elemente des Polizei- und Überwachungsstaates, international der
immer totaleren militärischen Kontrolle erwachsen." So
erklärt sich, daß in Deutschland die politischen und ökonomischen
Eliten den Einsatz der Bundeswehr im Innern und die Verschmelzung
aller Sicherheitssysteme - vor allem Militär und Polizei - mit
immer größerem Nachdruck anstreben.
Ulrich Sander Mit freundlicher Genehmigung des Ossietzky.
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