09.06.2010
Antifaschisten schreiben an die neu gewählten
Landtagsabgeordneten aus Anlass der Konstituierenden Sitzung des
Landtages vom 9. Juni 2010
NRW-Verfassungsaussagen
endlich verwirklichen
Der Text der Landesverfassung von NRW wird seit
einiger Zeit behandelt wie ein dubioses Dokument des
Linksextremismus. Daher wird er kaum zitiert. Er ist jedoch ein
Dokument des antifaschistischen Konsenses. Verständlich, dass die
VVN-BdA aus Nordrhein-Westfalen zu Beginn ihres Schreibens an die
neu gewählten Landtagsabgeordneten Auszüge aus der von der
bisherigen Regierungskoalition CDU/FDP ungeliebten Landesverfassung
zitiert. Auch wenn es keine Regierungsmehrheit links von CDU und FDP
geben sollte, so besteht dennoch eine Abstimmungsmehrheit. Diese
könnte zur Verwirklichung der Landesverfassung und anderer
grundlegender demokratischer Postulate genutzt werden. Die VVN-BdA
legt zahlreiche Vorschläge für eine andere Politik vor und bietet
sich als Gesprächspartner an. Eine vordringliche Forderung ist die
nach einem NPD-Verbot und einer Beseitigung des
V-Leute-Unrechtssystems. Notwendig sei eine Aufarbeitung der
Geschichte des Landtages, der zur politischen Strafjustiz des Kalten
Krieges und zu den Berufsverboten ebenso geschwiegen habe wie zur
Beteiligung zahlreicher Nazis an der Landtagsarbeit. Hierzu sollten
sich die Landtagsabgeordneten verhalten.
Der Brieftext:
Sehr geehrte Damen und Herren,
wir möchten Ihnen Glückwünsche aussprechen zu Ihrer Wahl. Es
wäre sehr zu begrüßen, wenn Sie auch nach dem vergangenen
Wahlkampf noch das Gespräch mit den Wählerinnen und Wählern
suchten und Interesse an ihren Vorschlägen und Vorstellungen
zeigten. Zu solchen Gesprächen sind wir bereit. Wir möchten dazu
die folgenden Überlegungen vorbringen.
Mit Befremden mussten wir in jüngster Zeit einen verwerflichen
Umgang mit der Landesverfassung feststellen: Es führte zu
diskriminierenden Vorhaltungen, wenn sich Bürgerinnen und Bürger
auf unsere Landesverfassung beriefen, die in wenigen Tagen ihren 60.
Jahrestag hat. Wir möchten daher ganz betont auf einige
Verfassungsaussagen verweisen, die wir für besonders aktuell
halten. Grundsätzlich bitten wir dringend, die Lehren aus der Zeit
von Faschismus und Krieg zu beherzigen, wie sie in unserer
Landesverfassung – bezogen auf gesellschaftliche Ursachen des
Faschismus - zum Ausdruck kommen:
„Im Mittelpunkt des Wirtschaftslebens steht das Wohl des
Menschen. Der Schutz seiner Arbeitskraft hat den Vorrang vor dem
Schutz materiellen Besitzes. Jedermann hat ein Recht auf Arbeit. Der
Lohn muss der Leistung entsprechen und den angemessenen Lebensbedarf
des Arbeitenden und seiner Familien decken. Für gleiche Tätigkeit
und gleiche Leistung besteht Anspruch auf gleichen Lohn, das gilt
auch für Frauen und Jugendliche.“ (Artikel 24 der
Landesverfassung NRW) Ergibt sich daraus nicht die Verpflichtung,
dem Vorrang Privat vor Staat, Profit vor Mensch endgültig den
Abschied zu geben? Zeigt sich nicht, dass die Schaffung eines
ausreichenden Mindestlohnes ein unmittelbarer Verfassungsauftrag
ist? Sollte das Recht auf Arbeit nicht endlich als Menschenrecht
verstanden und verwirklicht werden?
„Großbetriebe der Grundstoffindustrie und Unternehmen, die
wegen ihrer monopolartigen Stellung besondere Bedeutung haben,
sollen in Gemeineigentum überführt werden. Zusammenschlüsse, die
ihre wirtschaftliche Macht missbrauchen, sind zu verbieten.” So
heißt es in Artikel 27 der „Verfassung für das Land
Nordrhein-Westfalen vom 28. Juni 1950”. Die war per Volksentscheid
von der Mehrheit der Abstimmenden angenommen worden. Sie gilt noch
immer. Und es ist daraus abzuleiten, dass z.B. die Enteignung von
Energieriesen zum Wohle der Allgemeinheit zwingend geboten ist. Auch
dieser Artikel 27 stellt eine Schlussfolgerung aus den Entwicklungen
von 1933 bis 1945 dar. Ferner der Artikel 26, der
Mitbestimmungs-Artikel, der lautet: Es „wird das Recht der
Arbeitnehmer auf gleichberechtigte Mitbestimmung bei der Gestaltung
der wirtschaftlichen und sozialen Ordnung anerkannt und
gewährleistet.” Wie viel Politikverdrossenheit, das Gefühl des
Ausgeliefertseins, das wir überall beobachten, könnte durch die
Verwirklichung dieses Artikels behoben werden?
Besonders bemerkenswert ist auch der Artikel 32, der lautet: „Vereinigungen
und Personen, die es unternehmen, die staatsbürgerlichen Freiheiten
zu unterdrücken oder gegen Volk, Land oder Verfassung Gewalt
anzuwenden, dürfen sich an Wahlen und Abstimmungen nicht
beteiligen.” Könnte dieser Artikel nicht helfen bei der Abwehr
neofaschistischer und rassistischer Kräfte? Und dies auch in
Verbindung mit Artikel 7 der Landesverfassung, der die Erziehung „zur
Völkergemeinschaft und zur Friedensgesinnung“ verlangt. Die jetzt
gewählten Abgeordneten Ute Schäfer (SPD), Anne Conrads (Die Linke)
und Sylvia Löhrmann (Die Grünen) haben im Wahlkampf mit Hinweis
auf diesen Artikel 7 die Kooperationsvereinbarung der bisherigen
Landesregierung mit der Bundeswehr kritisiert, mit der
militaristisch in die Schulen hineinregiert wird. Frau Schäfer
bekräftigte zudem die Empfehlung der UNESCO vom 19. 11. 1974, in
der es heißt: „Die Erziehung soll auf die Unzulässigkeit der
Kriegsführung zum Zwecke der Eroberung, des Angriffs oder der
Beherrschung sowie der Gewaltanwendung zum Zwecke der Unterdrückung
hinweisen und jedermann dazu bringen, seine Verantwortung für die
Erhaltung des Friedens zu erkennen und auf sich zu nehmen.“ Gleich
den Schüler-, Jugend- und Friedensorganisationen im Lande fordern
wir die Rücknahme des Kooperationsvertrages Schule-Bundeswehr durch
den neuen Landtag. Wir fordern, die Bundeswehr soll nicht länger in
Hochschulen und Argen/Jobcentern wirken dürfen, um die Jugend zur
Kriegsführung anzuwerben.
Überhaupt sollte der Landtag sich nicht friedenspolitisch
abstinent verhalten. Wann werden in NRW die Grünen-Fraktion und die
SPD-Fraktion zur antimilitaristischen Vernunft zurückkehren, um die
Truppen aus Afghanistan zurückholen zu helfen? Das
Streitkräfteunterstützungskommando Köln und der
Bundesverteidigungsministerium in Bonn organisieren die Einsätze
Deutschlands auf den Kriegsschauplätzen der Welt und die
Zivil-Militärische Zusammenarbeit zu Militäreinsätzen im In- und
Ausland, auch in NRW. Es wurde eine ZMZ-Reservistentruppe für den
Bundeswehreinsatz im Innern geschaffen. Dazu muss sich der neue
Landtag verhalten.
Widerstand sollte er gegen die ausländerfeindliche Pro-NRW
entwickeln. Die in NRW übliche Abschiebepraxis ist zu beenden.
Besonders das Los der ständig von Abschiebung bedrohten Sinti und
Roma ist zu verbessern; ihnen ist das Bleiberecht zu gewähren. Dem
Wirken gegen den Antisemitismus ist – entsprechend den Lehren der
Geschichte – das Vorgehen gegen den Antizyganismus zur Seite zu
stellen.
Es vergeht kaum ein Tag und kein Wochenende, an dem nicht auch in
unserem Land faschistische Banden auf den Straßen und Plätzen
aufmarschieren. Die V-Leute-Praxis des Verfassungsschutzes im
NRW-Innenministerium hat zur Stärkung des Neonazismus und zur
faktischen Bestandsgarantie für die NPD geführt. Die Polizei sieht
dem Treiben der Nazis wie gelähmt zu - und die Nazis entfalten sich
weiter. Die Tolerierung faschistischer Umtriebe schreitet fort. Das
ist die Bilanz der bisherigen fünfjährigen Politik im Lande NRW.
Vor fünf Jahren haben wir uns an die nun abgewählte
Landesregierung gewandt und erklärt: Unsere Organisation
konzentriert sich sechs Jahrzehnte nach der Befreiung von Krieg und
Faschismus auf folgende nächste Ziele – und wir hoffen, wir
können bei Ihnen dafür Unterstützung erlangen:
- Durchsetzung des Prinzips „Eine rechtsextremistische
Ideologie lässt sich auch nicht mit den Mitteln des
Demonstrationsrechts legitimieren“. (Beschluss des höchsten
Gerichts von Nordrhein-Westfalen, OVG NRW, Az 5 B B 585/01)
Damit wird beigetragen zur Wiederherstellung des
Verfassungsprinzips des Artikels 139 GG, das die 1945/46
geschaffenen Bestimmungen zur Zerschlagung von NS-Organisationen
auch für das Heute verbindlich regelt. Höchste NRW-Richter
haben sich mit ihren Urteilen gegen die Neonazis gewandt. Ihre
Rechtssprechung sollte endlich in NRW volle Gültigkeit
erhalten.
- Verbot der sog. „freien“ und „nationalen“
Kameradschaften als illegale Nachfolgeorganisationen der in den
90er Jahren von den Innenministern verbotenen
Neonaziorganisationen und kriminelle Vereinigungen. Diese
Kameradschaften üben Gewalt, Mord und Terror gegen Ausländer
und Antifaschisten aus, und am Ostermontag 2005 kam es in
Dortmund erneut zu einer Mordtat eines Täters aus den Reihen
der Kameradschaften. Dennoch unterblieb bisher ein Vorgehen –
oder wenigstens ein Demo-Verbot – gegen diese Organisationen
seitens der Behörden.
- Schluss mit der Verfolgung von Antifaschisten, denen „Störung“
von Naziaufmärschen vorgeworfen wird, während doch solche
Proteste nach den Aufrufen zum „Aufstand der Anständigen“
dringend geboten waren.
- Rückgabe des digitalisierten Archivs der VVN-BdA und ihres
Landessprechers, das beschlagnahmt wurde, nachdem die VVN-BdA
gegen mutmaßliche Kriegsverbrecher Anzeige erstattet hatte.
(Sie blieben unbehelligt, doch nicht unsere Organisation!) Diese
Rückgabe des Archivs ist nach Einstellung des Verfahrens durch
die Justizbehörden und nach der Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts Az. 2 BvR 1027/02
(Bundesverfassungsgericht verbietet willkürliche
Datenbeschlagnahme) dringend geboten.
- Durchsetzung wirkungsvoller kommunalpolitischer Positionen des
Antifaschismus und der Friedenserziehung in den Städten und
Gemeinden. Die VVN-BdA hat dazu ihre Vorschläge vorgelegt. Wir
rufen alle Kommunalpolitiker/innen auf, diese Vorschläge in der
Praxis anzuwenden. Wir unterstützen die Aktion „Stolpersteine“
zur Erinnerung an die Opfer des Faschismus.
- Antifaschistische und antimilitaristische Geschichtsarbeit in
den Schulen und unter der Jugend, ferner umfassende
Unterstützung der Bewegung für „Schulen ohne Rassismus“.
In einer Zeit, da wir auf die Zeitzeugengeneration leider fast
ganz verzichten müssen, sind wir aufgerufen, als Angehörige
und Hinterbliebene wie auch als antifaschistische Mitstreiter
der älteren Generation ihren Auftrag zu übernehmen.
Bis auf Punkt 4 (die gezogene Kopie unseres Archivs wurde laut
NRW-Datenschutzbeauftragte vernichtet; andererseits bemühte sich
die Landesregierung immer wieder an vorderster Stelle um den Ausbau
des Überwachungsstaates) müssen wir sämtliche Punkte erneut
bekräftigen, da die bisherige Landesregierung sie unbeachtet
gelassen hat bzw. ihnen zuwider handelte. Insbesondere der Einsatz
von V-Leuten zur faktischen Absicherung der NPD wird von uns
verurteilt. Wir hoffen, der neue Landtag wird dafür sorgen, dass
NRW seinen Beitrag zum Verbot der NPD leistet.
Wir erwarten vom neuen Landtag Initiativen, um die Städte und
Gemeinden in die Lage zu versetzen, ihre sozialen und
bildungspolitischen Aufgaben zu erfüllen. Denn anders lassen sich
Resignation der Bürgerinnen und Bürger und der wachsende Einfluss
der Rechten kaum verhindern.
Als größte und sehr traditionsreiche Organisation der
NS-Verfolgten und Opfer des Faschismus hat die VVN-BdA sich stets
für die Entschädigung der Opfer des Faschismus und für die
Bestrafung der Täter eingesetzt. Wir werden es weiter tun. Wir
hoffen dabei auf die Unterstützung des neuen Landtages.
Deshalb waren wir erfreut, von einer nun dem Landtag
angehörenden Abgeordneten anlässlich der Beisetzung unseres
Ehrenvorsitzenden Josef Angenfort (ehem. Landtagsmitglied) zu
hören: "Und wir werden nicht Ruhe geben, bis es auch ganz
offiziell aus dem NRW-Landtag heißt: ‚Jung, wir haben dir Unrecht
getan.’“ In Anspielung auf eine seiner Aussagen in der
WDR-Dokumentation "Als der Staat rot sah – Justizopfer des
Kalten Krieges" sagte dies Frau Bärbel Beuermann (DieLinke
NRW) in der Trauerrede für Josef „Jupp“ Angenfort. Er war 1951
der jüngste Abgeordnete im Düsseldorfer Landtag und wurde 1954
trotz seiner Immunität, die er als Landtagsabgeordneter besaß,
verhaftet und wegen seines Friedensengagements angeklagt und zu
einer Zuchthausstraße von fünf Jahren und Aberkennung der
bürgerlichen Ehrenrechte verurteilt. Dass der Landtag von NRW sich
nie für sein Mitglied Josef Angenfort eingesetzt hat, dass er nicht
protestierte, als tausende Bürgerinnen und Bürger des Landes in
der Zeit des Kalten Krieges zu Haftstrafen verurteilt wurden, als
zahlreiche von ihnen mit Berufsverboten belegt wurden – all das
gereicht dem Landtag nicht zur Ehren. Nicht einmal eine Untersuchung
leitete er ein, als ein Friedensaktivist, der 21jährige Arbeiter
Philipp Müller, am 11. Mai 1952 in Essen bei einer
Friedensdemonstration vor der Polizei getötet wurde. Der Landtag
sollte sich dafür bei den politischen Opfern des Kalten Krieges und
ihren Hinterbliebenen entschuldigen. Er sollte ferner eine
Untersuchung zu dem Vorwurf einleiten, er habe in den ersten
Legislaturperioden eine größere Anzahl von Nazis in seinen Reihen
gehabt.
Sehr geehrte Damen und Herren, wir hoffen sehr, mit unseren
Vorschlägen und Anregungen beim Landtag auf Zustimmung zu stoßen
und wünschen uns Antworten von Ihnen.
Mit freundlichen Grüßen
Ulrike Düwel, Landessprecherin – Ulrich Sander, Landessprecher
– Jochen Vogler, Landessprecher
Für den Landesausschuss der Vereinigung der Verfolgten des
Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten von
Nordrhein-Westfalen (gegründet – bei Anwesenheit des damaligen
Ministerpräsidenten von NRW - im Jahre 1946 durch die
Vertreterinnen und Vertreter von 50.000 NS-Opfern und Überlebenden
des Widerstandes)
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