17.05.2010
Die Gegenrevolution
Thesen zur Analyse des
historischen Faschismus
Mit dem Blick auf den 65. Jahrestag des
militärischen Sieges über den deutschen Faschismus hat die
Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes/Bund der Antifaschisten
Ende April 2010 in Berlin eine geschichtspolitische Konferenz
veranstaltet. In deren Verlauf kam es zu einer kontroversen Debatte
über die Analyse des historischen Faschismus. Sie gab Anstoß für
die Formulierung der folgenden Thesen.
Von Kurt Pätzold
1.
Wird in Deutschland über den Faschismus gesprochen, muß bedacht
werden, daß hierzulande der Begriff in dreierlei Sinn gebraucht
wird: Er bezeichnet – erstens – eine politische Bewegung, die in
Form von Parteien und weiteren Organisationen existierte. Er steht
– zweitens – für eine spezifische reaktionäre,
antiaufklärerische Ideologie. Und mit ihm wird – drittens –
verkürzt der faschistische Staat bezeichnet. Wiewohl die Beziehung
von Bewegung, Ideologie und Staat logisch und historisch zutage
liegt, ist zwischen ihnen doch zu unterscheiden, denn sie sind nicht
identisch. Die Kennzeichnung oder Definition des einen begreift die
anderen nicht ein. Wird das nicht in Rechnung gestellt, läßt sich
trefflich aneinander vorbeireden.
2.
Die politischen Bewegungen, die mit der Kennzeichnung
faschistisch erfaßt und von anderen gesondert werden, entstanden in
mehreren Ländern Europas am Ende des Ersten Weltkriegs. Die
Bewegung, die am frühesten in der Lage war, in die Staatsmacht
einzudringen und sich dann in ihr festzusetzen, war die
italienische. Das hat ihr Aufmerksamkeit verschafft, und ihre
Verwandten in anderen Ländern haben sich am italienischen Beispiel
und Vorbild orientiert – bis hin zu Formen des äußerlichen
Hervortretens und den Ritualen. Die italienischen Faschisten gaben
schließlich der Bewegung in anderen Ländern und deren Gesamtheit
auch den Namen. Dabei besaß jede dieser Gruppen ihre eigenen
»nationalen« Charakteristika. Die deutsche präsentierte sich
unter dem Namen Nationalsozialisten. Auch im Sprachgebrauch von
Publizistik, Politik und Gesellschaftswissenschaft wurde Faschismus
zum weithin benutzten Sammelbegriff für die neuartige
internationale Erscheinung. Damit wurde in Deutschland auch die
demagogische Selbstkennzeichnung vermieden, derer sich die
Nazifaschisten bedienten.
3.
So alt wie die faschistischen Bewegungen, so alt sind die
Anstrengungen, diese neue politische Erscheinung zu begreifen, ihre
Herkunft und ihren Platz in den geschichtlichen Kämpfen der Staaten
zu bestimmen, um sich auf diese Weise auf deren Existenz und Wirken
einstellen zu können. Wie auf allen Erkenntniswegen gab es auch auf
diesem Fortschritte, Irrwege und Rückschläge. An den Bemühungen,
Wesen, Perspektiven und Ziele dieser faschistischen
Zusammenschlüsse zu erfassen, waren ihre politischen Nachbarn,
Konkurrenten und Rivalen ebenso beteiligt wie ihre strikten Gegner
und Feinde. Mit der Frage: »Was sind die Faschisten und was wollen
sie?« befaßten sich Politiker und Theoretiker. Unter den letzteren
waren Marxisten, Nicht- und Antimarxisten. In dieser oder jener
Weise haben viele Verfechter unterschiedlicher Strömungen
beigetragen, das nicht so große »Geheimnis« zu enthüllen, mit
dem sich die Faschisten in Wort und Schrift zur Tarnung ihrer
eigenen Absichten umgaben.
4.
Energische und erfolgreiche Anstrengungen zur Analyse des
Faschismus wurden naturgemäß vor allem in den Reihen ihrer
entschiedenen Gegner, von den Arbeiterparteien und deren
Theoretikern unternommen. Zu begreifen, welcher Feind ihnen und der
proletarischen Bewegung erwachsen war, galt zu Recht als
Voraussetzung für dessen erfolgreiche Bekämpfung. In Deutschland
haben Führer und Ideologen der Kommunistischen wie der
Sozialdemokratischen Partei früh beigetragen, die Partei Hitlers
als eine Organisationsform der Gegenrevolution bloßzustellen. Als
die wichtigsten Kennzeichen der faschistischen Ideologie und Politik
wurden die Feindschaft gegen alle liberalen, demokratischen,
sozialistischen und kommunistischen Bestrebungen hervorgehoben sowie
der extreme Nationalismus und Revanchismus, der sich vor allem in
einer hemmungslosen demagogischen Anti-Versailles-Hetze äußerte,
die Kriegsstimmung und Kriegsbereitschaft erzeugen sollte. Zur
Entlarvung der Rolle, welche die Faschisten in der Weimarer Republik
spielten, haben auch Künstler und Schriftsteller beigetragen, so
daß bis heute Bilder, Zeichnungen, Karikaturen, Erzählungen und
Gedichte zusammen mit wissenschaftlicher Literatur einen Zugang zum
Verständnis dieser damals neuartigen Erscheinung geben.
5.
Eine sich früh zeigende Schwierigkeit der Faschismusanalyse
bestand darin, diese neuartige politische Bewegung von anderen, den
älteren reaktionären Parteien und Organisationen, ihren nahen oder
ferneren Vorläufern und Zeitgenossen, abzugrenzen und deren
jeweilige Spezifik richtig zu erfassen. Das ist in der
Arbeiterbewegung nicht durchweg gelungen, mitunter auch in den
Reihen der Kommunisten weit verfehlt worden. Der Begriff Faschismus
geriet in eine Art inflationären Gebrauch. Gesprochen und
geschrieben wurde vom Brüning-Faschismus, vom Papen-Faschismus und
vordem schon vom Sozialfaschismus, eine diffamierende
Kennzeichnung der Sozialdemokratie, so falsch, irreführend und die
Fronten verkehrend wie – umgekehrt – die sozialdemokratische
Bezeichnung von den »rotlackierten Nazis«, die den Kommunisten
galt. In diesen Kombinationen wurde das Wort Faschist in den
politischen Tageskämpfen zu einem Schimpfwort, zum Knüppel,
geschwungen gegen Gegner und Rivalen. Dieser Gebrauch zeigte, daß
sich das adäquate Bild von den Faschisten, die Hitler führte, in
den Reihen der Gegner noch nicht klar abzeichnete und verfestigt
hatte.
6.
Nachdem in Deutschland die Faschisten an die Staatsmacht gelangt
waren, standen die Antifaschisten vor der Notwendigkeit, unter
Einbeziehung der italienischen wie der deutschen Erfahrungen zu
beschreiben, was das Spezifische dieser neuen Staatsform ausmachte
und was deren Entstehung insbesondere, aber nicht allein für die
Arbeiterbewegung bedeutete. Auch daran und an den sich daran
knüpfenden Prognosen waren viele beteiligt. Unter diesen Analysen
der Situation hat eine theoretisch wie praktisch eine besondere
Rolle gespielt. Auf sie wird bis heute zustimmend, kritisch
abwägend und ablehnend Bezug genommen. Das ist die in eine
Definition geronnene Kennzeichnung des Faschismus, welche die
Kommunistische Internationale in einem Beschluß vornahm, den ihr
Exekutivkomitee, eines ihrer Führungsgremien, im Dezember 1933
faßte: »Der Faschismus an der Macht ist die offene terroristische
Diktatur der reaktionärsten, am meisten chauvinistischen, am
meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals.«
7.
Die historische Bewertung dieser Definition wird häufig dadurch
erschwert oder verdorben, daß die Tatsache übergangen wird, daß
die Autoren dieser Definition ausdrücklich sagen, sie kennzeichnen
den »Faschismus an der Macht«, d.h. in seiner Rolle als
Staatsmacht. Die Aussage würde anders lauten, ginge es um die
knappe Kennzeichnung des Faschismus als politische Bewegung vor der
Macht oder als Ideologie. Manche Einwände ergeben sich daraus, daß
– zweitens – von dieser Definition verlangt wird, was Aufgabe
und Sinn von Definitionen nicht ist. Die zielen stets auf die
Hervorhebung des Wesentlichen einer Erscheinung, die aus der
Vielfalt der Erscheinungsformen gleichsam destilliert wird. Mithin
bietet jede Definition, ist sie treffend, den Vorzug, das
Wesentliche hervorzuheben, und ist doch zugleich ärmer als die
Theorie, deren konzentrierten Ausdruck sie bildet, wie diese wieder
ärmer ist als die Wirklichkeit. Vorwürfe, es fehle dieses oder
jenes Detail in einer Definition, sind folglich abwegig.
8.
Staaten waren zu allen Zeiten Formen des Überbaus einer
Gesellschaft, deren Bestand und Entwicklung sie mit ihren Mitteln zu
sichern hatten. Übergänge von einer in eine andere Gesellschaft,
revolutionär oder nicht, gehen notwendig mit Veränderungen von
Staaten einher, die entweder diesem Übergang folgen oder ihm auch
vorausgehen können. Die Kennzeichnung eines Staates verlangt also
zunächst und vor allem, daß dessen Beziehung zu der Gesellschaft
hergestellt wird, deren Überbau er darstellt. Die Faschisten,
namentlich die deutschen, traten mit dem Anspruch an, Revolutionäre
zu sein. Sie gaben vor, wären sie am Staatsruder, eine Gesellschaft
des nationalen und sozialen Friedens (die »Volksgemeinschaft«) auf
dem Wege einer »nationalsozialistischen Revolution« herzustellen.
Demgegenüber, und das ist der erste Vorzug der Definition von 1933,
wurde klargestellt, daß der faschistische Staat nicht Überwinder,
sondern Bestandteil und Stütze der bürgerlichen Gesellschaft ist
und diese Rolle in einem geschichtlichen Moment übernommen hat, da
der Kapitalismus, der das imperialistische Stadium erreicht hatte,
sich in einer Krise befand. Es ist die Bloßstellung dieses
Zusammenhangs, die der Definition bis heute ihre Befeindung durch
alle einträgt, die diese Einordnung des Faschismus an der Macht als
mögliche und verwirklichte Staatsform der bürgerlichen
Gesellschaft nicht wahrhaben wollen.
9.
Manche Theoretiker haben diese richtige Einstufung dadurch
verballhornt, daß sie den faschistischen Staat gleichsam als die
höchste und ideale Staatsform bürgerlicher Herrschaft ansahen, der
bürgerliche Gesellschaften gesetzmäßig zustreben würden. Diese
Auffassung hat dazu geführt, hinter allen möglichen Veränderungen
bürgerlicher Herrschaftsverhältnisse faschistische Tendenzen zu
wittern oder zu diagnostizieren. In Wahrheit aber kann bürgerliche
Herrschaft unter voneinander sehr verschiedenen staatspolitischen
Verhältnissen stabil sein und bleiben, wie die Geschichte beweist
– unter denen der konstitutionellen Monarchie wie denen der
parlamentarischen oder präsidialen Republik, denen der
Militärdiktatur und auch anderen autokratischen Systemen. Der
faschistische Staat bildet mithin keinen Idealtypus. Er ist eine
Herrschaftsalternative, die bürgerlichen zivilen und militärischen
Eliten als brauchbar und geeignet erscheint, wenn sie – erstens
– ihre Macht dadurch besser gesichert sehen als mit den bisher
praktizierten herkömmlichen Mitteln und Methoden oder – zweitens
– ihre Pläne für die Zukunft auf diese Weise zu verwirklichen
hoffen. Beides war der »Fall« des 30. Januar 1933.
10.
Die Installierung des Faschismus in die Staatsmacht ist für die
herrschenden Kreise einer bürgerlichen Gesellschaft, Bankiers,
Industrielle, große Landbesitzer, Militärs u.a., nicht ohne
Risiko. Das ist ein doppeltes. Das momentane besteht darin, daß der
Widerstand starker demokratischer und sozialistischer Kräfte gegen
diesen Wandel statt der gewollten Machtstabilisierung deren
Erschütterung bewirken kann. Und das chronische ergibt sich aus der
Tatsache, daß die neue faschistische Staatselite, wenn sie
verbraucht ist und versagt, weniger leicht verabschiedet werden
kann, als das mit einer Politikergruppe in parlamentarischen
Zuständen möglich ist. Die konzentrierte diktatorische Gewalt
derer, die am Staatsruder stehen, kann dann gegen die Installateure
und Profiteure dieser Macht schlagen. Die kommen in die Situation
des Zauberlehrlings, der die Geister nicht mehr bannen kann, die er
rief. Ein Teil der deutschen Herrschaftselite erfuhr das am 20. Juli
1944. Auch diese Erfahrung hat beigetragen, andere
Herrschaftssicherungen zu bevorzugen als die faschistische, zumal
sich dafür geeignete Instrumente haben finden lassen.
11.
Die Faschismusdefinition des Jahres 1933 hat Autoren, die
namentlich nicht bekannt sind. Georgi Dimitroff, der sich Ende 1933
in Leipzig in der Gewalt der Faschisten befand, gehört nicht dazu.
Er hat indessen durch seine Rede auf dem VII. Weltkongreß der
Kommunistischen Internationale zwei Jahre später, als die
Definition in seinem Bericht zitiert wurde, zu deren Autorität und
Verbreitung beigetragen. So ist die Bezeichnung Dimitroff-Definition
(abwertend: Dimitroff-Formel) zustande gekommen. Wer sich in dieser
Rede und anderen, die 1935 auf dem denkwürdigen Kongreß gehalten
wurden, namentlich in der von Palmiro Togliatti, informiert, erkennt
leicht, daß die Reduzierung der marxistischen Beurteilung des
Faschismus auf diese Definition im Mindestfall unzulässig ist oder
eine absichtliche Verfälschung darstellt.
12.
Die Definition von 1933 ist, wie alle vergleichbaren, ein Kind
ihrer Zeit. Ihr sind die deutschen Erfahrungen des zu Ende gehenden
Jahres 1933 abzulesen. Die Charakterisierung des Faschismus an der
Macht als offene terroristische Diktatur bezog sich sowohl auf das
errichtete System der Konzentrationslager als auch auf die Rolle der
Gerichte, die sich mit Todesurteilen und – das Reichsgericht mit
dem Prozeß gegen Dimitroff und Genossen – als Instrumente des
Terrors erwiesen hatten. Opfer dieser Methode der öffentlichen
Gewaltanwendung waren früh auch deutsche Juden geworden. Daß sich
das Regime später zeitweilig gesittetere Formen der Anwendung der
Staatsgewalt aufzuschminken suchte, hat nichts daran geändert, daß
es nie auf die groben, durch kein Gesetz begrenzten Methoden der
Niederhaltung von Gegnern verzichtet hat. Im Kriege hat dieser
Terror Formen und ein Ausmaß angenommen, die alle geschichtlichen
Vorbilder weit übertrafen.
13.
Die Definition des Jahres 1933 war zugleich dazu bestimmt, sich
von anderen Faschismusdeutungen und -analysen abzugrenzen,
namentlich von jener, die in dieser Staatsgewalt ein Instrument
kleinbürgerlicher Kreise zu erkennen glaubte. Im Widerspruch
dagegen wurde konstatiert, daß diese Macht im Interesse der am
meisten chauvinistischen und imperialistischen Kräfte des
Finanzkapitals, also von Großbanken und industriellen Konzernen,
wirke. Diese Feststellung drückte sich in der Zufriedenheit aus,
welche diese wirtschaftsmächtigen Kreise mit der neuen Diktatur
kundtaten, was sich in ihrem eigenen Beitrag zu deren Befestigung
zeigte und auch personell in der direkten Beteiligung einschlägig
geprägter Personen der Wirtschaftselite an der Staatslenkung. Diese
Kreise haben von der Vernichtung der politischen wie der
gewerkschaftlichen Arbeiterbewegung profitiert und dann von der
Hochrüstung. Die Charakteristik des Faschismus an der Macht war
mithin auch eine Warnung, die Expansion und die Gefahr eines Krieges
signalisierte.
14.
Die materialistisch fundierte und sich an der marxistischen
Theorie orientierende Analyse des Faschismus wird mitunter abwertend
als »Agententheorie« bezeichnet. Es wird behauptet, mit ihr
würden die Faschistenführer als »bloße Agenten« des Kapitals
oder in der Rolle von Hampelmännern der Geschichte dargestellt, ein
Bild, das jedem Kind geläufig ist und besagen soll, es werde das
Verhältnis von ökonomisch Herrschenden und politisch Agierenden
primitiv mechanisch dargestellt. Wie in der marxistischen
Gesellschaftstheorie insgesamt dem Überbau eine aktive, relativ
selbständige, auf die Basis zurückwirkende Rolle zuerkannt wird,
so auch der faschistischen Staatsmacht. Die faschistischen Führer
an der Staatsspitze tanzen nicht nach der Pfeife irgendwelcher
Kapitalistenvereinigungen. Sie treffen am Staatsruder in Fragen der
Innen- wie der Außenpolitik eigene Entscheidungen, doch bewegten
sich diese unbezweifelbar im wesentlichen, solange sie Erfolg
hatten, im Bereich von Kapitalinteressen. Als sie militärisch
geschlagen abtreten mußten, war in der deutschen Gesellschaft nach
wie vor oben, was 1933 oben gewesen war. Die an der Spitze der
gesellschaftlichen Pyramide hatten ihr Eigentum im Ganzen erhalten,
und manche hatten es gemehrt, die kleinen Leute waren zu Millionen
um dieses Eigentum gebracht.
15.
Jene Kritik an der Definition des Jahres 1933, die auf das
»Fehlen« der Rolle der Rassenideologie und auf die der
Massengefolgschaft – das sind zwei Haupteinwände – verweist,
ist unhistorisch und im Hinblick auf das Verdienst der Autoren
ungerecht. Denn Ende 1933 war nicht abzusehen, daß die
Massengefolgschaft, die das Regime im ersten Jahr der Diktatur
gewonnen hatte, stabil bleiben werde. Es wurde geglaubt, daß
innere, namentlich wirtschaftliche Krisen eine neue Situation
schaffen und diese Herrschaft erschüttern würden. Und Ende 1933,
als die antisemitische Aktivität der Machthaber zu einem
zeitweiligen und irritierenden Stillstand gebracht wurde, um deren
negative ökonomische Folgen zu begrenzen, war nicht entfernt zu
erkennen, daß dieser Weg über Pogrome nach Auschwitz führen
werde. Die Kritik, daß diese Kennzeichen in die Definition nicht
eingingen, kann nur Spätere treffen, also namentlich die
marxistischen Historiker, die nach Faschismus und Krieg forschten.
Doch trifft sie in der Sache nicht zu. Die marxistischen Analysen
waren über den Wissensstand des Jahres 1935 hinausgelangt. Doch
hatten die Fortsetzer keinen Grund gesehen, aufzugeben, was an
Erkenntnissen sich als richtig erwiesen hatte. Daß die Definition
unangetastet blieb, war weniger ihrer Dogmatisierung geschuldet als
Bedenken, daß sie durch Zusätze überladen und darüber der Kern
der Aussage unscharf werden würde. Darüber läßt sich streiten.
16.
Die faschistischen Regime, die in den zwanziger bis vierziger
Jahren in Europa entstanden, gleichen nicht wie ein Ei dem anderen.
Sie haben viele Gesichter und unterscheidbare Prägungen, weshalb
zwischen ihnen auch sprachlich differenziert wird. Begriffe wie
Hitler-, Nazi-, Mussolini-, Monarcho-, Klerikalfaschismus werden in
der Literatur benutzt. Jeder dieser Faschismen, ob als politische
Bewegung, Ideologie und Staatsmacht, besitzt seine Besonderheiten
von Land zu Land. Die wurden zum einen durch die Wege
voraufgegangener, Traditionen stiftender nationaler Geschichte
geprägt, zum anderen durch die konkreten Bedingungen, unter denen
die Faschisten an die Staatsmacht gelangten, davon vor allem, ob ihr
Sieg über Feinde und Rivalen vollständig war oder ob sie ihren
Erfolg nur gemeinsam mit nahen Verwandten errangen und die gewonnene
Macht mit diesen bis zu einem gewissen Grade teilen mußten. Diese
Wege an die Macht differierten sehr, so der, den die Nazis in
Deutschland gingen, von dem der Franco-Faschisten in Spanien, die
nur mit deutsch-italienischer militärischer Hilfe an das
Staatsruder gelangen konnten, und dieser wieder von dem der
Klerikalfaschisten im Ustascha-Staat Kroatien, der nach der
Zerschlagung Jugoslawiens von deutschen Gnaden geschaffen wurde. Das
Kräfteverhältnis der herrschenden Kräfte in diesen Staaten –
Bourgeoisie, Grundbesitzer, Militärs, Kirchenobrigkeit – war
unterschiedlich und trug ebenso bei, daß die faschistischen
Staatsgebilde ihr besonderes Gesicht erhielten. Das konnte
zusätzlich durch Vorlieben und selbst durch Marotten der jeweiligen
Führer mitbestimmt werden. Daher ist es abwegig, die »Dimitroff-Formel«
mit dem Verweis abtun zu wollen, sie »passe« auf diese oder jene
Ausformung des Faschismus nicht. Militant, chauvinistisch, expansiv,
kriegerisch waren alle diese Regime. Wie im deutschen Nazistaat die
Devise von Großdeutschland ausgegeben wurde, so die – und das
schon vorher – vom Mittelmeer als dem mare italiano (mare nostrum)
durch die Faschisten in Rom, die von Großungarn in Budapest, von
Großrumänien in Bukarest. Nur waren die Voraussetzungen von der
Bevölkerungszahl bis zum technisch-industriellen Niveau sehr
verschieden, diese Ziele zu verfolgen und zu erreichen.
17.
Der deutsche Faschismus an der Macht war der Initiator einer
Judenverfolgung, die über die Vertreibung von Hunderttausenden
deutschen Juden aus ihrem Vaterland bis zur Vernichtung aller
ergreifbaren Juden im deutsch beherrschten Europa reichte. Dieses
gemeinhin »Holocaust« genannte Verbrechen wird zum Kern der
Politik der deutschen Faschisten erklärt, und da Faschisten anderer
Länder an ihm beteiligt, aber nicht dessen Planer und Organisatoren
waren, wird sodann der »Nationalsozialismus« als eine ganz eigene
politische Herrschaft bezeichnet und seine Charakterisierung als
Faschismus geradezu als eine Verharmlosung gesehen. So furchtbar,
unvorstellbar, einzigartig in aller bisherigen Weltgeschichte der
Massenmord an den Juden war, den die deutschen Faschisten
inszenierten und nahe an ihr Ziel führten – die Achse des Regimes
und sein Endziel bildete nicht er, sondern die durch Kriege und
Eroberung erstrebte weltbeherrschende Stellung des deutschen
Imperialismus. Es blieb von 1933 bis Auschwitz dafür gesorgt, daß
Verfolgung, Vertreibung und Vernichtung der Juden sich diesem
Hauptinteresse zuordnete und dessen Rahmen nie sprengte.
18.
Wie verschieden diese faschistischen Staaten sich auf den ersten
Blick auch ausnahmen, ihre Gemeinsamkeiten überwogen: ihr
diktatorischer Charakter und die Anwendung terroristischer Methoden
gegen alle ihre wirklichen oder vermeintlichen Feinde, ihre
Versuche, sich durch Terror, Demagogie und Erfolgsbestechung in der
Bevölkerung eine stabile Basis zu schaffen, ihre
antiaufklärerische Propaganda zum Zwecke der Verdummung und
Beherrschung der Massen, ihre Verbreitung von Bildern von Feinden im
Innern und jenseits der Grenzen zum Zweck der Militarisierung von
Massen und zur Weckung eines kriegerischen Expansionsdrangs. Zu den
Gemeinsamkeiten der faschistischen Regime gehörte – last but not
least – auch ihr absolut wahrheitswidriges Verhältnis zur
Geschichte der eigenen Nation, die Verweigerung jeder nach innen
gerichteten kritischen Geschichtsbetrachtung und die Heroisierung
der Vergangenheit, als deren Ziel- und Höhe- und Schlußpunkt sich
die Faschisten ansahen. Von Kurt Pätzold erschien zuletzt (zusammen
mit Manfred Weißbecker): Geschichte der NSDAP 1920–1945,
überarbeitete und erweiterte Neuausgabe, PapyRossa Verlag, Köln
2009
Mit freundlicher Genehmigung Junge
Welt vom 17.5.2010
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