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Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes
Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten

Landesvereinigung NRW

 

30.04.2010

Zum 100. Geburtstag von Maria Wachter, Ehrenvorsitzende der VVN-BdA NRW

Interview mit Maria Wachter zum NS-Faschismus, Frauen im Widerstand, Lagerhaft und Antifaschismus heute (1996)

Maria Wachter ist am 21. April 2010 100 Jahre alt geworden. Maria, Dir einen herzlichen Glückwunsch zum Hundertsten. Im folgenden lesen Sie/lest Ihr die Glückwunschadresse der VVN-BdA NRW an Maria und ein Interview mit Maria, das Christoph Leclaire für den Semesterspiegel (Nr. 296, November 1996), Zeitung der Studierendenschaft der Uni Münster, im Sommer 1996 führte.

Herzlichen Glückwunsch zum 100. Geburtstag von Maria Wachter, Ehrenvorsitzende der VVN-BdA NRW!

Maria Wachter, 2005 (Foto: Jochen Vogler)Maria Wachter wird am 21. April 2010 einhundert Jahre alt. Maria ist in Nordrhein-Westfalen eine der letzten bis heute Überlebenden aus dem Widerstands­kampf gegen den Faschismus. Maria blickt auf ein kampferfülltes Leben zurück. 1910 in Düsseldorf geboren. Seit 1930 Mitglied der KPD. Sie gehörte zu den wenigen Mahnern, die 1933 vor dem Düsseldorfer Industrieclub warnten: „Wer Hindenburg wählt, wählt Hitler! Wer Hitler wählt, wählt den Krieg!“. Von 1933 bis 1935 illegaler Widerstand in Düsseldorf. Von 1935 bis 1937 Internationale Lenin-Schule in Moskau. Von 1937 bis 1939 von Amsterdam aus illegale Arbeit in Deutschland. 1939 Verhaftung in Paris und Inter­nierung. 1942 zu Zuchthaus in Deutschland verurteilt, dann Zwangsarbeit. Die Befreiung im April 1945 rettete sie vor der Deportation ins KZ Ravensbrück. Ihren harten Weg durch Gefängnisse, Zuchthäuser und Zwangsarbeit hielt Maria durch. 

Mit Gründung der VVN Mitglied wurde Maria viele Jahre in Bundesgremien und später im Landesausschuss der VVN-BdA NRW verantwortlich tätig. Heute ist Maria Ehrenvorsitzende der VVN-BdA NRW. 

Für ihre Arbeit in Förderkreis der Mahn- und Gedenkstätte Düsseldorf wurde sie auch dort zur Ehrenvorsitzenden gewählt. 

Ihre Erfahrungen gab sie mit großer Überzeugungskraft an nachwachsende junge Generationen weiter. Für ihre Jahrzehnte andauernde antifaschistische Arbeit möchten wir unserer Kameradin und Freundin Maria heute danken. Gemeinsam mit der Mahn- und Gedenkstätte hatten wir eine würdige Geburtstagsfeier im Heinrich-Heine-Institut vorbereitet. Leider lässt ihr derzeitiger Gesundheitszustand die Teilnahme nicht zu. 

Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten VVN-BdA 
Landesvereinigung NRW

ZEITZEUGINNENGESPRÄCHE - Wider das Vergessen

Maria Wachter

Widerstandskämpferin

? Liebe Maria, du bist in einer Arbeiter-Familie in Düsseldorf aufgewachsen. 
Wie kam es dazu, dass du diesen politischen Weg eingeschlagen hast?
Wie war die Reaktion deiner Familie und deines Umfeldes darauf?

Maria Wachter und Christoph Leclaire beim Interview am 11. Juli 1996 in ihrer Wohnung in Düsseldorf

! Ja, ich bin in einem sozial­demo­kra­ti­schen Elternhaus aufgewachsen. Mein Vater war als junger Mann ein ausgesprochen revolutionärer Ge­werk­schafter, der sich an allen sozialen Kämpfen beteiligt hat. Als er nach dem Ersten Weltkrieg nach Hause kam, in den er übrigens mit außerordentlichem Unwillen gezogen ist, bekam er eine Arbeit bei den Düsseldorfer Stadt­werken. Und so nach und nach ließ die Kampfkraft meines Vaters nach. Die Stadtwerke und die feste Stelle wurden ihm außerordentlich wichtig. Als dann '29, '30, '31 die große Ar­beits­losig­keit einsetzte, wurde er in Bezug auf Äußerungen, auch gegen Faschisten, außerordentlich vorsichtig, weil ihm seine Arbeits­stelle derart wichtig war. Dieses Verhalten hat er auch nach 1933 beibehalten. Das hat mich außer­ordent­lich gestört und konnte ich nicht nachvollziehen. Ich bin bis auf den heutigen Tag ein sehr wissbegieriger, neugieriger Mensch und versuche für Entscheidungen, die ich zu treffen habe, Zusammenhänge zu erkennen. Also nicht einfach hinzunehmen, was mir jemand aus den Medien oder sonst jemand vorsagt, sondern selbst mir Gedanken zu machen. Meine Gedanken damals stimmten mit dem Verhalten meines Vaters eben nicht mehr überein.

Wo kommen die vielen Millionen Arbeitslosen her, dafür muss es Gründe geben, ist ja kein Schicksalszustand, darauf konnte er mir keine Antwort geben, aber andere auch nicht. Bereits in der Zeit vor '33 trieben sich die Nazis in unseren Arbeitervierteln herum, auch dazu hat er, heute muss ich sagen, wohl aus Angst, kein Wort gesagt. Aber ich wollte wissen, woher die zum Beispiel ihre Uniformen bekamen. Woher die das Geld bekamen, um in den SA-Lokalen in Düsseldorf jeden Mittag Essen für Arbeitslose auszugeben, die bereit waren, Mitglied der SA zu werden. Und es gab ja vor allen Dingen im Jahr 1932 in Deutschland ununterbrochen Wahlen: Reichstags-, Landtags-, Reichspräsidentenwahlen, das hörte überhaupt nicht mehr auf. Ich kann mich bis heute erinnern, dass an den Litfaßsäulen Plakate klebten auf denen es hieß: "Wer Hitler wählt, wählt den Krieg!" Darunter konnte ich mir natürlich nichts vorstellen. Im Elternhaus bekam ich darauf keine Antwort, weil meine Eltern als Sozialdemokraten, sagen wir mal, bemüht waren, möglichst alles, was politisch ist, von meiner schrecklichen Neugierde weg zu halten. Was natürlich nichts genutzt hat, denn ich war dann schon vor 1933 zu deren Entsetzen Mitglied der Kommunistischen Partei. Ich wurde Mitglied der Agitprop-Truppe "Nordwest ran" mit unserem Lehrer Wolfgang Langhoff. Ich war also schon vorgeprägt, als dann am 30. Januar der Hitler-Faschismus zur Macht kam.

? Was war für dich der Anlass in den Widerstand zu gehen?

! Es gab keinen besonderen Anlass. Dass ich in der Agitprop-Truppe war, die täglich im Wahlkampf unterwegs war und bestimmte Szenen brachte, war für mich natürlich eine gute politische Schule. Und als dann der 30. Januar kam, da war das für uns alle in der Agitprop-Truppe eine Selbstverständlichkeit. Ich muss immer wieder betonen: Es gab keinen besonderen Anlass und auch keinen besonderen Knackpunkt, sondern das ist ein Hinüberwachsen aus dem vorherigen Zustand der Protestbewegung in die Situation des Widerstandes. Ich kann mir auch heute nicht vorstellen, anders gehandelt zu haben. Wenn auch mein Elternhaus so klein war in seinem Verhalten, hat das aber doch ein bisschen dazu beigetragen. Denn es gab bei uns im Elternhaus keine starken religiösen Bindungen, die mich davon abgehalten hätten, noch gab es bestimmte Beschneidungen in unseren Rechten. Das war ausgesprochen sozialdemokratisch. Bloß sie taten nichts.

? Wie war euer Widerstand organisiert und welche Ziele hattet ihr?
Wie sahen die illegale Arbeit und die illegalen Aktionen eurer Widerstandsgruppe aus?

Maria Wachter, 1934
© Foto: Mahn- und Gedenkstätte der Landeshauptstadt Düsseldorf

! In meiner Gruppe im "Nordwest ran" waren wir ungefähr 20 junge Leute in meinem Alter. Wir ver­suchten uns in etwa eine Vor­stellung zu machen, was da an Faschismus auf uns zukommt. Aber ich behaupte heute, dass es keiner von uns sich vorstellen konnte, wie entsetzlich und wie schrecklich das war oder wurde. Das ist das Erste. Das Zweite: Es gab in meiner Gruppe in Bilk vor allen Dingen bei den älteren Genossen die Auf­fassung: das lässt sich die deutsche Arbeiterbewegung nicht gefallen. Ich höre den alten Genossen heute noch reden, "diese Nazi-Bewegung wird höchstens zwei, drei Monate da sein, dann ist Schluss damit." Das war das zweite Versäumnis. Um nun den Wider­stand zu organisieren, mussten wir natürlich ver­ständ­licher­weise sehr, sehr viel lernen. Denn es ist ja ein Unterschied, ob man in der Demokratie, auch wenn sie noch so klein und bedürftig ist, offen ein Flugblatt machen oder auf die Straße gehen kann, wie die Arbeitslosen in der Zeit, oder ob jede Äußerung und jedes Verhalten beobachtet wurde und auch Folgen haben konnte, so dass wir uns überlegen mussten, wie organisieren wir den Widerstand, so dass er die wenigsten Opfer kostet. Nach dem 30. Januar [1933] waren ja Tausende schon längst verhaftet, und nach dem Reichstagsbrand wurde es besonders schlimm. Wir mussten uns überlegen, wie man am besten Widerstand leistet, ohne die Gruppe zu gefährden.

Dazu haben wir in Düsseldorf als Erstes eine Fünfer-Gruppe gebildet. In dieser Gruppe waren zwei Frauen, eine davon ich, dann kam dazu ein Student, der sagte, "Jetzt kann man nicht mehr studieren, jetzt muss man gegen Hitler kämpfen." Dann hatten wir einen, der war damals kein Kommunist, und es gab den ältesten in unserer Gruppe von der KPO, Kommunistische Partei Opposition. Nebenbei bemerkt hat in der Widerstandsgruppe seine politische Auffassung und meine überhaupt keine Rolle gespielt. Wir hatten einen gemeinsamen Feind, das waren die Faschisten. Dann gab es einen sehr katholischen, frommen Arbeiter, vom Fernsprechamt, der ein fantastischer Widerstandskämpfer geworden ist. Die anderen Gruppen waren auch so breit gefächert. Wir hatten auch viele Frauen in unseren Gruppen. Du musst dir das vorstellen wie olympische Ringe, einer in den anderen. Einer aus der Gruppe hatte Kontakt zu einer anderen Gruppe, und der hatte wieder Kontakt zur nächsten. Es gab eine ganze Menge, von der aber immer nur einer Kenntnis von der nächsten Gruppe hatte. Denn niemand wusste vorher, wenn er verhaftet und bei der Gestapo gefoltert wurde, damit er seine Mitkämpfer angab, ob er dem widerstehen konnte. Es gab ein unausgesprochenes Gebot: Keiner darf mehr wissen als notwendig, denn was er nicht weiß, kann er auch nicht aussagen. Erst einmal waren wir natürlich sehr auf uns selbst angewiesen, später wurde das organisiert. Da hatten wir auch schon einen Berater, der nicht aus Düsseldorf kam, denn er wäre viel zu sehr gefährdet gewesen.

Erstens mal mussten wir ja zusammenkommen, wir fünf, um zu besprechen, was ist jetzt wichtig, wozu müssen wir etwas sagen. Das konnten wir in keiner Wohnung machen, da das Denunziantentum ja schon blühte. Wir kauften uns alte Fahrräder und fuhren im Sommer nach Altenberg, da war eine Jugendherberge. Dort schliefen wir in der Nacht auf Stroh und am anderen Morgen setzten wir uns auf unsere Fahrräder und fuhren in die Wiesen oder Wälder und haben dort besprochen, was wir nun vorhatten. Im Winter war das schwierig. Dann gingen wir in Düsseldorf in ein Tanzlokal am Rhein. Wir setzten uns an einen Tisch, wir tanzten auch, und bei dem Krach der Musik konnten wir wunderbar, ohne dass jemand das hörte, unsere Arbeit besprechen. Eine andere Methode war, in die Düsseldorfer Altstadt zu gehen, die damals wie heute immer sehr bevölkert war. Wir achteten immer darauf, dass wir unter möglichst viel Menschen waren, weil man da nämlich nicht so auffällt. Wir mussten zusammenkommen, um zu besprechen, zu welchem Anlass wir zum Beispiel ein Flugblatt herstellen.

Zum Beispiel für den Dimitroff-Prozess. In Düsseldorf wurde in den ersten Wochen der Prozess öffentlich übertragen. Ich kann mich noch gut erinnern, dass ich in Bilk an der Bachstraße gestanden habe, um mich herum hunderte von Menschen. Und dann hörten wir aus dem Lautsprecher das, was Dimitroff sagte. Ein SA-Mann, das hat mich außerordentlich beeindruckt, sagte: "Verdammt, das ist 'nen Kerl, der hat vielleicht Mut, so was brauchten wir bei uns." Der Dimitroff-Prozess hat für Düsseldorf eine große Bedeutung gehabt. Das haben sie dann später alles abgestellt, weil es zuviel beeinflusst hat. Darüber Aufklärung zu schaffen, dass die Kommunisten den Reichstag nicht angezündet haben, sondern dass die Nazis den Reichstagsbrand als Fanal brauchten, um den Widerstand in seiner ganzen Breite niederzuhalten, war äußerst wichtig. Dazu haben wir ein Flugblatt gemacht. Im Dezember war der Prozess, dem der Reichstagsbrandprozess in London vorausgegangen war. Dann kam das Braunbuch über den Prozess. Wir hatten natürlich nur eins. Also wir haben uns zusammengesetzt und gelesen. Zum Schluss war es ganz zerfleddert. An Hand dieses Buches konnten wir nachvollziehen, was sich wirklich in Berlin abgespielt hat. Das war eine Sache.

Wir haben noch mehr Propagandamethoden entwickelt. Aber es hat kein Material von uns gegeben, und darauf bin ich nach wie vor stolz, in dem es nicht mit großen Lettern oben geheißen hat: "Hitler bedeutet Krieg". Die nächste große Aktion, die ich noch im Gedächtnis habe, war in Gerresheim. Da marschieren also 3.500 SA-Leute ins Arbeiterviertel, weil die Arbeiter angeblich Waffen versteckt haben. Wie das Arbeiterviertel aussah, nachdem die da fertig waren, kannst du dir ja vorstellen. Sie haben natürlich keine Waffen gefunden, haben aber mindestens 300 Arbeiter mitgenommen. Sie haben von denen einige, die völlig unbefleckt waren, freigelassen. Aber ich weiß, dass vier ohne Prozess in der Düsseldorfer Haftanstalt hingerichtet worden sind. Ohne irgendeinen Beweis, dass die Leute tatsächlich Waffen gehabt haben. Das war für uns Anlass, eine Broschüre zu verteilen, die wir nicht selbst gemacht haben. Vielleicht haben wir sie von Holland bekommen, über die Rheinschiffer, denn die brachten uns ja Material, aber das weiß ich heute nicht mehr genau. Ich weiß nur, dass wir 15.000 Broschüren verteilt haben, mit allen Gruppen, "Die Wahrheit über die Razzia in Gerresheim". Das war eine große Aktion.

? Was hattest du persönlich für Aufgaben und Tätigkeiten im Widerstand?

! Ich war in der Gruppe die einzige, die Schreibmaschine schreiben konnte. Ich habe - bis ich 1935 weggegangen bin - alle Flugblätter, alle Zeitungen, geschrieben. Da kam ich nicht dran vorbei. Das war aber ein Problem. Die Schreibmaschine musste ja irgendwo stehen, wo sie keinen Verdacht erregte. Man musste damit rechnen, dass rechts und links in der Wohnung in der ich saß, die Leute das Klappern hörten und sich Gedanken darüber machten. Zuerst hatte ich eine Decke über dem Kopf, mit einer kleinen Taschenlampe. Das war entsetzlich und ging auf die Dauer nicht. Dann hat unser Ältester auf der Inselstraße einen Vertreter gefunden. Vertreter konnten Maschine schreiben, die mussten ja Bestellscheine und Berichte schreiben. Das fiel im Hause überhaupt nicht auf. Dort habe ich dann alles geschrieben. Dann musste es abgezogen werden. Wir hatten dazu einen Abzugsapparat, auf dem man immer nur ein Blatt abziehen konnte, das dauerte ziemlich lange. Der war in Düsseldorf irgendwo auf einem Speicher. Der wusste nicht, wo ich mit meiner Maschine war und ich wusste nicht, wo der mit seinem Apparat war. Unten wartete ein Kurier, der nahm die Matrizen in Empfang und brachte sie auf den Speicher. Dort wurden sie abgezogen. Das hat wunderbar geklappt.

Jetzt musste das Zeug noch verteilt werden. Eine Methode sah so aus: Auf einem etwas abgeflachten Dach, beispielsweise auf der Schadowstraße, in einer relativ menschenvollen Gegend, legten wir ein Brett hin. Auf der einen Seite die Flugblätter, auf der anderen Seite ein Wasserkessel mit einem Loch. Das Wasser tropfte weg und im Maße wie der Kessel leer wurde, wurden die Flugblätter schwerer und flogen 'runter in die Menschenmenge. Die Gestapo hat sich sehr über den hartnäckigen Widerstand der Düsseldorfer Antifaschisten beklagt. Das hat damit zu tun, dass hier vor dem 30. Januar die NSDAP keinen großen Einfluss hatte. Die wichtigsten Parteien waren die SPD, die KPD und das Zentrum.

Eine andere Sache erinnert an die Aktion der späteren "Weißen Rose". In Düsseldorf gab es ein Kaufhof, gibt es auch heute noch, am Cornelius-Platz. Unten standen Stände, oben hatte der Kaufhof eine Rotunde mit breiter Aufgangstreppe. Da waren keine Verkaufsstände, sondern man konnte von oben hinunter gucken. Also gingen wir mit unseren Flugblättern die Treppe rauf, wenn sie voller Menschen war. Oben in der Menschenmenge ließen wir unsere Flugblätter runterfallen. Ich bin überzeugt, dass ein Teil die Flugblätter aufgehoben und sie zur Gestapo geschafft hat. Ein Teil hat die Flugblätter schnell in die Tasche geschoben, gelesen hat sie keiner aus lauter Angst. Und ein Teil hat sie zerknüttert und weggeschmissen, wenn sie gesehen haben, was das war. Wie weit wir damit Wirkung erzielt haben, das kann ich nicht sagen. Aber ich bin der festen Überzeugung, dass wir zumindestens Anlass gegeben haben, mal ein bisschen nachzudenken - wieso bedeutet Hitler Krieg, zum Beispiel. Das ist das Schwierige heute. Ich werde immer gefragt: "Was hat denn der Widerstand erreicht?" Wir haben Hitler nicht weggekriegt.

? Welche Rolle und Bedeutung hatten die Frauen im Widerstand, und wie war die Akzeptanz der Frauen bei den Männern im Widerstand?

Maria Wachter als Skulptur im Eingangsbereich der Düsseldorfer Mahn- und Gedenkstätte für die Opfer des Nationalsozialismus in den Räumen des ehemaligen Polizeipräsidiums
© Foto: Mahn- und Gedenkstätte der Landeshauptstadt Düsseldorf

! Zum Beispiel, wenn wir nachts Flugblätter in die Briefkästen ge­steckt haben. Dann gingen wir zu vieren. Da stand einer an jeder Ecke der Straße, und eine von uns mit einem Mann verteilte die Flugblätter in die Briefkästen. Wenn jemand jetzt eine Uniform sah, dann pfiff der, und wir benahmen uns wie ein Liebespaar. Das ging wunderbar. Wir haben auch Widerstandsmaterial im Kinder­wagen transportiert. Auf die Idee sind die, jedenfalls nicht in der ersten Zeit, nicht gekommen. Aber das konnten nur Frauen, denn es war nicht so, dass Männer Kinderwagen geschoben hätten. Da war die Rolle der Frau gefragt, aber nicht als spezifische Rolle, sondern weil das nicht anders ging. Ich komme immer in Streit mit einigen Genossinnen, weil ich behaupte, dass es keine spezifischen Aufgaben für Frauen im Widerstand gab. In meiner und auch in den anderen Gruppen hatten die Frauen Auf­gaben im Rahmen des Kampfes gegen den Faschismus.

Wenn zum Beispiel Frauen ihre Männer in den Konzentrationslagern hatten, saßen viele von ihnen verlassen, hilflos und meistens ohne Geld in ihren Wohnungen. Also mussten wir sie betreuen. Wenn wir Geld hatten, gaben wir das auch, aber das hatten wir selten. Diese Wohnungen konnten keine Männer besuchen, denn die Gestapo beobachtete sie wochen-, monatelang in der Annahme: da muss doch mal ein Gesinnungsgenosse hingehen. Auf Frauen haben sie nicht geachtet, also konnten sie die Frauen betreuen. Aber das waren keine spezifischen Frauenrollen. Denn Emma und Änne Bachmann und noch eine ganze Reihe anderer haben genauso wie ich Flugblätter verteilt. Wir haben mit Kinderdruckkästen kleine Zettelchen gemacht: "Hitler bedeutet Krieg". Die hatten wir in der Hand und ließen sie in der Menschenmenge fallen. Das habe doch nicht ich oder ein Mann allein getan, das hat doch meine Genossin neben mir auch gemacht. Ich spreche jetzt vom aktiven Widerstand. Ich will nicht die Frauen im Widerstand auf eine bestimmte Frauenrolle reduzieren, weil ich davon ausgehe, dass wir einen gemeinsamen Feind hatten, den Faschismus.

Der beinhaltete natürlich auch die Frauenrolle der Faschisten, insofern kämpften wir auch für unsere Rechte. Wir hatten alle Rechte, die die Männer auch hatten. Vielleicht mal etwas im Zusammenhang: Der katholische Arbeiter in meiner Gruppe war ein fantastischer Mitarbeiter, aber als katholischer Arbeiter hatte er eine bestimmte Vorstellung von Frauen. Er war der Meinung, dass, wenn er mal verheiratet ist, seine Frau nicht arbeiten geht. Er ernährt die Familie. Ich war entsetzt. Ich habe von Emanzipation zu der Zeit noch nichts gewusst, aber ich war es, ohne es zu wissen. Ich habe gesagt: "Was soll denn deine Frau den ganzen Tag tun?" "Ja", hat er gesagt, "solang sie noch keine Kinder hat, kann sie ja Gardinen waschen und stricken und häkeln." "Ach", sagte ich, "hör mal, den ganzen Tag kann man das doch nicht machen." "Meine Frau schon.", hat er gesagt. In seinen Vorstellungen haben meine überhaupt keinen Raum gehabt. Wenn wir uns über persönliche Dinge unterhalten haben, sind wir uns in die Haare geraten. Aber, ich habe als Frau eine größere Chance gehabt Widerstand zu leisten als ein Mann. Und zwar ergab sich das meiner Auffassung nach aus diesem Frauenbild der Faschisten.

Ich mache jetzt mal einen großen Sprung. Ich habe '42 in Hamm vor dem Sondergericht gestanden. Ich saß dort, um mich herum vier riesige SS-Leute und vorne der Richter aus Berlin vom Sondergericht. Der hatte buchstäblich Schaum am Mund gehabt. Wenn ich ein Mann gewesen wäre, dann hätte der sich wahrscheinlich auch aufgeregt. Aber dass da eine Frau saß und dann auch noch so ein zierliches Weibchen, das war für den unfassbar. Das sage ich mit Absicht jetzt. Der hat mir Vorwürfe gemacht, dass ich die Männer aus dem Widerstand nicht zu guten Nazis erzogen habe. Ich hätte mich nicht als nazistische Frau verhalten. Ich kann gar nicht alles erzählen, was er von sich gegeben hat. Es war schrecklich. Da habe ich wieder gemerkt, welch einen Unterschied die Nazis machten in Bezug auf Männer und Frauen. Vielleicht hat mir das ein bisschen geholfen, möglichst lange Widerstand leisten zu können.

? Du bist im Mai 1935 zunächst in die Sowjetunion, dann in die Niederlande und schließlich nach Frankreich gegangen.
Warum bist du ins Ausland gegangen und was hast du dort gemacht?

! 1935 waren meine Genossen der Meinung, ich müsste den Widerstand eine Weile verlassen. Der zweite Grund war, dass der 7. Weltkongress bevorstand. Und Stefan fragte mich bei einer Zusammenkunft der Gruppen, ob ich am Kongress teilnehmen könnte. Da ich arbeitslos war, war das kein Problem. Aber dann stellte sich heraus, dass sie eine andere Delegierte hatten und sie der Meinung waren, ich sollte zur Lenin-Schule in Moskau. Das habe ich natürlich zuerst mit großer Freude angenommen. Ich musste von Holland aus in die Sowjetunion reisen. In Holland bekam ich schrecklichen Bammel. Ich wollte nicht mehr zur Schule. Ich habe mir vorgestellt, da sind Schüler, die alles schon wissen und ich überhaupt nichts. Ich wusste wie man Widerstand leistet, schweigt, Flugblätter verteilt und sie schreibt. Aber von Theorie hatte ich überhaupt keine Ahnung. Ich bin in die Partei gekommen und dann gleich in den Widerstand. Theoretische Kenntnisse konnte ich doch gar nicht haben. Deshalb habe ich zu dem Genossen, der mich in Amsterdam betreute, gesagt: "Ich fahr da nicht hin." Daraufhin hat er mir "Staat und Revolution" besorgt und Engels "Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats". Ich habe mich in mein Quartier gesetzt und angefangen zu ochsen. Ich habe natürlich alleine fast nichts verstanden. Ich bekam zum Beispiel Schwierigkeiten mit dem Verhältnis zwischen Minderheit und Mehrheit in der Demokratie. Bei mir hatte die Minderheit genauso viel Rechte wie die Mehrheit. Es war wirklich schlimm. Aber der Genosse hat dann mit mir sehr geduldig diskutiert und ich bin doch gefahren.

? Wie erging es dir in Moskau und auf der Lenin-Schule?

! Das war die schönste Zeit in meinem Leben. Es bedeutete zu lernen: Geschichte der Arbeiterbewegung, deutsche Geschichte, Politische Ökonomie, also Marx und alle diese ganzen Fragen. Mir fielen nach und nach die Schuppen von den Augen. Und die Maschine da oben begann richtig zu laufen und zu rennen. Ich war auf der Schule unterernährt, weil ich soviel Kräfte brauchte zum Studieren. Das zeigte, mit welch einem Bedürfnis ich das aufgenommen habe, wie ein Schwamm habe ich das alles aufgesogen. Wir hatten einen Zwölf-Stunden-Tag. Also es war wunderbar. Es gab einen 9-Monatskursus und einen 18-Monatskursus. Bevor man anfing zu studieren, wurde man geprüft, auf was weiß ich nicht mehr. Auf jeden Fall hat man mich einiges gefragt und dann hat die Kaderabteilung gesagt, "für dich käme der neunmonatige Lehrgang in Frage". Das bedeutete, dass wir in neun Monaten dasselbe lernen mussten wie andere in 18 Monaten.

Ich bin auch nur unter der Bedingung in die Schule gegangen, dass ich in den Widerstand zurückkomme. Das war das Wichtigste für mich. Es stellte sich denn auch heraus, dass der ganze Lehrgang aus antifaschistischen Widerstandskämpfern bestand, von denen keiner den anderen kannte, alle mit großen Erfahrungen. Nach neun Monaten wollten wir nach Hause fahren. Das war aber nicht möglich. Ich bin dann vom Mai '35 bis zum Frühherbst '37 in der Sowjetunion gewesen, was für mich nur von Vorteil war. Ich berichte davon mit einiger Euphorie, weil das für mich so wichtig war und bis heute ist. Es war eine internationale Schule. Unsere Lehrer waren zum Teil Deutsche, später waren die in der DDR in wichtigen Funktionen. Und wir hatten russische Lehrer und Lehrerinnen, teilweise mit Übersetzung. In unserem Lehrgang waren 45 Leute, davon 12 im Jugendkursus. Die einen waren Parteilehrgang, die anderen Jugendlehrgang. Ernst Buschmann war im Jugendkursus auf der gleichen Etage. Die hatten ein etwas anderes Seminar. Und da haben wir gelernt.

Wir haben uns auch Moskau angesehen. Erstens mal war es Vorschrift jede Woche ins Kino und mindestens zweimal im Monat ins Theater zu gehen. In der Stube hocken sollte man nicht. Es gab morgens Pflichtgymnastik, Sport musste gemacht werden. Es wurde extra ein Ehepaar engagiert, welches uns die modernen Tänze beibrachte. Wilhelm Pieck ist mal bei uns gewesen und hat gesagt: "Ihr müsst alles lernen, was euch später im Widerstand nicht von anderen Menschen unterscheidet. Ihr müsst also alles können, bis zu Skat- und Schachspielen." Wenn wir morgens gelernt haben, dann holte der Verantwortliche aus der Bücherei die entsprechenden Materialien und wir saßen da und brüteten über mehreren Themen. Zwei Tage später mussten wir dann zu einem der Themen, ohne dass wir vorher wussten welches, referieren. Das war nicht immer einfach. Ich habe manches Mal gezittert. Ich kann mich erinnern, dass ich einmal einen Vortrag halten musste über "Das Haus Hohenzollern als Stab im Leibe von Habsburg". Ich glaube, ich habe es ganz gut gemacht.

Maria Wachter beim Interview

Was mir besonders leicht gefallen ist, war die Politische Ökonomie. Das hat mir überhaupt keine Schwie­rig­keiten gemacht, Mehr­wert­theorie, Akku­mu­la­tions­kapi­tal und alle diese Dinge. Wir hatten in der ersten Zeit auch Russischunterricht. Aber da wir damit zu viele Kräfte verbrauchten, wurde das abgestellt. Die Schule auf dem Lenin-Berg war ein modernes, großes Bauwerk mit Einzel- oder Doppel­zimmern, großen Lektions­räumen, einer Riesen­bibliothek, und dort zogen wir im Oktober hinauf. Ich war im Doppelzimmer mit meiner Freundin Helga, die später in Marseille hingerichtet worden ist. Es gab auf der Schule eigentlich nichts, was man uns nicht beigebracht hätte. Deshalb finde ich es so gut, dass ich die Möglichkeit hatte, die Schule zu besuchen. Vor allen Dingen, Christoph, wenn du dir vorstellst, dass du von manchen theoretischen Dingen gar keine oder eine falsche Vorstellung hattest, und auf einmal fallen dir die Scheu­klappen weg. Du fängst an, Zu­sammen­hänge zu begreifen, Hinter­gründe. Vor allen Dingen habe ich gelernt, immer "warum" zu fragen. Es gibt einen guten Genossen, der in der Zwischenzeit gestorben ist, der hat gesagt, "Maria, wenn du mal begraben wirst, kommt auf dein Grabstein nur ein einziges Wort: "Warum?" Das habe ich gelernt. Ich habe meine ganze Umgebung verrückt gemacht.

? Du warst dann ab Herbst 1937 in den Niederlanden.
Warum bist du in die Niederlande gegangen?

! Das wurde festgelegt, das war in der Illegalität so, wo jeder von uns eingesetzt wird. In der Zwischenzeit hatte die Partei, das hatte uns Pieck auch genauso vermittelt, aufgrund großer Opfer im Widerstand eine Einrichtung geschaffen. Um Deutschland herum gab es jetzt Abschnittsleitungen. Eine Abschnittsleitung West in Amsterdam, eine in den skandinavischen Ländern, eine in Prag, eine in der Schweiz und eine in Belgien. Es war ja noch kein Krieg 1937. Jetzt fuhren die Instrukteure, die aus der Sowjetunion kamen, oder sonst irgendwo geschult waren wie ich, ins Land. Ich kam zur Abschnittsleitung West nach Amsterdam und bekam den Bezirk Bielefeld, die Dürrkopp-Werke, die Oetker-Werke und noch einen Jugendbetrieb zum Betreuen. Dann wurde ich durch den Genossen, der bei Dürrkopp von mir abgelöst wurde, mit dem verantwortlichen Leiter der Widerstandsgruppe, Bruno, bekannt gemacht. Ich traf den Bruno alle drei Wochen, denn die vorgesehenen vier Wochen schienen mir zu lang und ich habe mit den Genossen in Amsterdam immer darüber gestritten. Der Bruno hatte eine Frau, von der er sich unter den Bedingungen des Widerstandskampfes nicht trennen konnte, die ihm aber auch keine Sicherheit bot, wenn sie etwas erfahren hätte. So mussten wir möglichst alle Lokale meiden, denn da hätte ja jemand ihn mit mir, einer blonden, gut aussehenden Frau sehen können. Was daraus geworden wäre, konnte der Bruno sich nur mit Schrecken vorstellen. In dem Dürrkopp-Werk gab es eine Widerstandsgruppe von 60 Sozialdemokraten. Ich war richtig stolz auf diese Gruppe. Und Bruno war der Verbindungsmann, nur mit ihm kam ich zusammen. Er brachte die ganzen Probleme aus dem Betrieb an mich heran. Wir diskutierten darüber, ich gab ihm, wenn ich konnte, Ratschläge, wie man damit fertig wird.

Vielleicht nehm' ich ein Beispiel. Es hört sich jetzt so klein und dürftig an, war aber für die Genossen im Dürrkopp-Werk sehr wichtig. Wenn im Werk eine Appell stattfand, das heißt, wenn Hitler wieder mal eine Rede hielt, mussten sich die Arbeiter nach der Arbeit unten im Hof aufstellen und sich diese schreckliche Rede anhören. Das bekamen sie aber nicht bezahlt. Wenn der also zwei Stunden sprach, hatten sie zwei Stunden Arbeit ohne Bezahlung. Also hat Bruno gesagt: "Maria", ich hieß ja gar nicht mehr Maria, "was können wir dagegen tun?" "Oh", habe ich gesagt, "habt ihr 'nen gutes Verhältnis zu eurem DAF-Mann?" Die Arbeiter mussten Mitglied der DAF sein. Das hat manchen Genossen sehr viel Kraft gekostet, aber zum Schluss haben sie es doch gemacht. Jedenfalls der DAF-Mann musste, um überhaupt sein Gesicht zu wahren, etwas für die Belegschaft tun. Bei der Tatsache, dass in den Betrieben die Arbeiter überhaupt keine Rechte mehr hatten, da angeblich zwischen Betriebsleiter und Arbeiter Volksgemeinschaft bestand, war das natürlich schwierig. Also sind die Arbeiter - nicht der Bruno, der durfte sich solche Sachen nicht erlauben - zu ihm gegangen und haben 'was von der Ehre und Würde der deutschen Arbeiter gesprochen und der Notwendigkeit ihrer Arbeitskrafterhaltung. Er hat wissen wollen, warum: "Ja wegen der Stunden, die wir da unten stehen müssen." Das haben sie abgestellt. Es war eine kleine Sache, aber für die Arbeiter bedeutete sie sehr viel. Denn sie haben etwas gegen die Faschisten durchgesetzt. Und der Bruno war natürlich bei ihnen nun eine größere Autorität.

? Du wurdest schließlich am 31. August 1939 in Frankreich verhaftet.
Warum bist du nach Frankreich gegangen und wie kam es zu der Verhaftung?

! Eigentlich um auszuruhen. Ich war bis 1938 im Widerstand und bin immer mit einem falschen Pass nach Deutschland gefahren. Mir sind tolle Dinge passiert unterwegs. Ich fuhr von Amsterdam über Emmerich nach Deutschland. Und ein Genosse hat mir gesagt: "Wenn du an der Grenze ankommst, wirst du ganz zitterig werden. Also fängste am besten an dein Butterbrot zu essen, nimm dir 'nen Butterbrot mit." Das habe ich auch gemacht. Ich saß auf meinem Platz am Fenster, auf dem Brettchen hatte ich mein Butterbrot, und an der Grenze habe ich das Butterbrotspapier aufgemacht und angefangen zu essen. Das hat mich unglaublich beruhigt. Plötzlich geht die Tür auf, SS und Bahnpolizei: "Die Ausweise bitte!" Dann habe ich mit einer unnachahmlich hochmütigen Bewegung, ohne die anzugucken, meinen Pass dahin gehalten. Und dann hat man mir ihn zurückgegeben, hat gesagt, "Danke schön, gnädige Frau!" Jedes Mal. Ich war natürlich entsprechend angezogen. Das mussten wir ja sein. Aber jedenfalls hat mir das immer geholfen. Ich hatte vorher an einem Lehrgang teilgenommen, um nochmal unsere Kenntnisse über den Faschismus aufzufrischen und blieb noch eine Weile in Paris im Hinblick auf einen neuen Einsatz. Um dort leben zu können, musste man sich aber legalisieren. Frankreich war das einzige Land, in dem man legal als Emigrant leben konnte. Das bedeutet, dass man zur Präfektur musste, um da den Antrag zu stellen, sich in Paris aufhalten zu dürfen. Das gab vom ersten Tag an Schwierigkeiten. Ich musste jedes Mal auf die Präfektur, um meine Aufenthaltserlaubnis, die dann für eine Woche galt, verlängern zu lassen.

Am 1. September '39 marschierten die Deutschen in Polen ein. Auf Grund der Tatsache, dass wir der französischen Polizei unsere ganzen Lebensläufe abgegeben hatten, wussten die genau, mit wem sie es zu tun hatten. Da wir aber in der Zeit eine äußerst rechte Regierung in Frankreich hatten, wurden wir gleich am 31. August verhaftet. Am 1. September marschierten die Deutschen in Polen ein, am 31. August waren wir schon verhaftet und kamen dann über das Polizeipräsidium ins Internierungslager. Dann marschierten die Deutschen in Frankreich ein und im unbesetzten Gebiet installierte sich die Vichy-Regierung. Es gab zwischen den Okkupanten und der Vichy-Regierung ein Abkommen, wonach sie alle von den Nazis angeforderten Leute ausliefern musste. Sie haben es auch gerne getan und so wurde ich Ende 41 der Gestapo übergeben.

Ich bin vom Dezember '41 bis zum Februar '42 in einer grünen Minna nach Deutschland gereist, über 13 Gefängnisse, bis ich im Februar in Düsseldorf bei der Gestapo ankam. Die wollten als Erstes wissen, wann ich in der Sowjetunion war. Das habe ich natürlich geleugnet, weil ich annahm, das wüssten die nicht. Doch der Gestapo-Beamte sagte, "Ich gebe ihnen Papier und 'was zu schreiben und dann schreiben Sie bitte Ihren Lebenslauf. Aber vergessen Sie die Sowjetunion nicht." Ich habe den Lebenslauf geschrieben, als wenn ich mich für eine Stelle interessierte. Er ist am nächsten Tag gekommen, hat das Ding abgeholt, hat draufgeguckt und war natürlich nichts mit Sowjetunion. "Naja", hat er gesagt, "das werden wir ja noch rauskriegen." Dieser Beamte war vorher Sozialdemokrat gewesen und hatte sich freiwillig zur Gestapo gemeldet. Er war aber ein Mann, der auf beiden Schultern trug. Das war '42. Moskau war nicht genommen, der Blitzkrieg vorbei, die Nazis mussten sich jetzt auf einen langen Krieg einrichten. Und der Mann war nicht dumm. "Einerseits", hat er gesagt, "wenn ich Sie gut behandle, werden Sie, wenn wir den Krieg verlieren sollten, für mich eine gute Zeugin sein. Sollten wir den Krieg gewinnen und ich hab Sie gut behandelt, kann mir auch nichts passieren." Also hat er mich immer nur mit äußerster Vorsicht in den Keller in der Prinz-Georg-Straße schaffen lassen. Sie haben mich auch ein paar Mal misshandelt. Das war aber auszuhalten. Aber sie haben von mir nicht erfahren, dass ich in der Abschnittsleitung war. Darauf hätte nämlich Todesstrafe gestanden.

Dass ich in der Sowjetunion war, war nicht mehr zu verheimlichen. Sie hatten nämlich Zeugen dafür, die ausgesagt hatten. Und sie hatten auch Fotos aus Moskau sowie eine dicke Akte der früheren Widerstandsarbeit in Bilk. Sie haben mir Zeugen gegenübergestellt, die bezeugen sollten, dass ich damals mit ihnen zusammen im Widerstand gearbeitet habe. Die haben das alle abgeleugnet, da sie ja alle schon verurteilt waren. Zum Schluss hat der Richter gesagt: "Wir können der Angeklagten nichts nachweisen, aber wir müssen annehmen, dass sie aufgrund ihrer Engagiertheit und ihrer Intelligenz vielmehr getan hat, als wir wissen", womit er übrigens Recht hatte, "und aus dem Grunde verurteilen wir die Angeklagte zu fünf Jahren Zuchthaus nach dem Annahmegesetz". Die Nazis brauchten niemanden 'was zu beweisen. Sie brauchten bloß anzunehmen, dass du in deinem Kopfe antifaschistisch denkst, dann wurdest du nach dem Annahmegesetz bestraft. Nach '45 hat man diesen Gestapo-Beamten, Wagner hieß er, verhaftet. Da hat er sich auf mich und zwei andere berufen, als Zeugen, dass er uns gut behandelt hat. Wir sollten ihm das schriftlich geben. Das haben wir alle drei verweigert, weil wir wussten, dass er vor uns mit einer unmenschlichen Härte Gefangene behandelt hatte. Er hat beispielsweise einen Freund so misshandelt, dass er ins Irrenhaus musste und angeblich auf der Flucht erschossen wurde. Sollte ich dem jetzt meine Unterschrift geben, dass er mich gut behandelt hat? Konnte ich doch nicht. Das haben wir alle abgelehnt und er hat sich aufgehängt. Der ist ja eigentlich blöd gewesen, denn hinterher hätte der doch eine wunderbare Stelle bekommen.

? Du bist zu fünf Jahren Zuchthaus und anschließendem Konzentrationslager verurteilt worden.
Wie erging es dir im Gefängnis?

! Ich kam im Zuchthaus Anrath in Einzelhaft. Das war schrecklich. Keine Arbeit, kein Buch, keine Unterhaltung, gar nichts. Man sitzt da auf dem Holzschemelchen, der an der Wand festgemacht ist. Ins Bett darf man nur nachts. Ich wusste oder ahnte, um das zu überstehen, diese Einsamkeit, muss man sich eine Denkaufgabe stellen. Ich habe meine ganze Sowjetzeit nochmal durchgearbeitet, alles was ich da gelernt habe. Als ich entlassen wurde, war ich noch nicht einmal fertig damit, weil das nämlich immerhin fast zweieinhalb Jahre waren. In den Zuchthäusern gab es zu der Zeit alle möglichen Arbeitskommandos. Ein Bauernkommando, da kam ich hinein, musste beim ersten Sonnenstrahl raus, beim letzten Sonnenstrahl in die Anstalt zurück. Dann musste man bei den Bauern um Anrath herum Rüben ziehen, Kartoffeln auslösen, Unkraut ziehen oder Gerstegarben aufstellen. Wir arbeiteten trotz Regen, auch wenn wir triefnass waren. Das Pensum, das der Bauer gestellt hatte und wofür er der Anstalt bezahlte, musste geschafft werden.

1943 kam ich noch für einige Monate in ein anderes Arbeitskommando: Kaiser's Kaffeegeschäft. Das war ein besonders schönes Kommando, weil nämlich die Nazis kein dafür eingestelltes Bewachungspersonal mehr hatten, die mussten alle an die Front. Da haben sie die Vorarbeiterinnen und Meister in den Betrieben, in denen wir arbeiteten, zum Bewachen vereidigt. Den Vorarbeiterinnen an der Maschine, an der ich arbeitete, Nora und Käthe, war ich aus politischen Gründen außerordentlich sympathisch. Sie brachten mir jeden Morgen die Zeitung mit, dann ging ich auf das Klo und las den "Völkischen Beobachter" zwischen den Zeilen. Die Gestapo machte in diesen Kommandos Razzien, um gut aussehende, ich meine damit kräftige, gesunde Frauen heraus zu holen und sie in die Rüstungskommandos zu schaffen. Da haben die beiden mich immer geschützt. Die haben gesagt, "Morgen kommt die Gestapo", und da verschwand ich auf dem Klo.

Wir kriegten auch morgens nur eine Wassersuppe und hatten Hunger. Wir waren 120 Gefangene, davon 25 Französinnen. Das waren meine Freundinnen, ist doch klar. Die musste ich mit Essen versorgen. Ich war auch noch Stubenälteste und die couragierteste von der ganzen Bande. Also hat die Nora Schwarzbrot mitgebracht, und ich bin in eine andere Abteilung gegangen und habe da so ein scheußliches Fettbrot mitgebracht. Dann habe ich das Brot beschmiert und es an meine Schützlinge verteilt. Auf diese Weise habe ich eigentlich in Kaiser's Kaffeegeschäft gar nichts zu leiden gehabt. Im Gegenteil. Ich hatte immer weiß gestärkte Kittel an, eine wunderbare Haube auf dem Kopf. Nora und Käthe brachten sie mir jede Woche mit. Und vor allen Dingen bekam ich einen Büstenhalter, den gab es im Gefängnis nicht. Ich habe in den ganzen Jahren ein einziges schwarzes Kleid getragen, mit einer gelben Biese, und sonst nichts. Das wurde nie gewaschen. Das war so im Zuchthaus. Aber Nora und Käthe sorgten dafür, dass ich immer tiptop aussah. Denen verdank ich sehr viel.

? Welche Augenblicke aus der Zeit des Widerstandes und der Gefangenschaft sind für dich menschlich am wichtigsten?

! Im Kaiser's Kaffeegeschäft naht Weihnachten und die Kommandoleiterin von uns 120 Frauen, Fräulein Kirst hieß sie, mochte mich. Und zwar deshalb, weil ich ihr - das tat ich in meinem und dem Interesse meiner Schützlinge - viel Arbeit abnahm. Der Kommandoführerin war es ganz recht, mir einiges zu überlassen. Also, es kommt Weihnachten heran. Da hab ich zu Fräulein Kirst gesagt: "Sagen sie mal, was sollen wir denn Weihnachten tun? Da wird ja nicht gearbeitet, da sitzen wir ja nur in unserm fürchterlichen Keller. Aber wenn wir Weihnachten da unten sitzen, dann heulen wir bloß." Da hat sie gesagt, wir sollten uns doch überlegen, was wir tun könnten. Ich sagte wir könnten ja eine Weihnachtsfeier organisieren. "Könnten Sie so was?" "Ja", sage ich, "ich kann mir ja mal 'nen paar Gedanken machen." Ich habe meine Freunde und Freundinnen um mich versammelt, und wir haben uns etwas überlegt. Wir haben tolle Sachen organisiert. Unter anderem habe ich Heine-Gedichte rezitiert. Die Kommandoführerin war so stolz auf das, was wir da machten, dass sie die ganzen Angestellten vom Kaiser's Kaffeegeschäft eingeladen haben, auch den Direktor Höltchen. Ich wusste nicht, was das für ein Mann war. Er war aber da. Jedenfalls wir haben die Weihnachtsfeier durchgeführt. Es war wunderbar. Ich rezitierte Heine, und als sie dann gegangen sind, mit viel Applaus, kam der Höltchen zu mir und sagt: "Sag mal, du weißt ja, was du da rezitiert hast?" Ich bin doch nicht auf die Idee gekommen, dass da einer von denen, ohne den Namen zu nennen, Heine kennt. "Ja", habe ich gesagt, "und?" Er hat gesagt, "du hast aber verdammt Mut, Heine zu rezitieren." "Ja", sage ich, "und, was soll denn das?" "Also mir hat es gut gefallen", hat er gesagt. War auch kein Faschist. Man konnte also auch noch im Zuchthaus etwas tun, um ein bisschen aufzurichten.

? Welche Menschen, denen du im Widerstand und in der Gefangenschaft begegnet bist, waren und sind dir besonders wichtig?

! Da war zuerst einmal hier in Düsseldorf Ernst Buschmann, den ich seit 1935 kannte. Dann eine Reihe von Genossen, die in der früheren DDR leben und mit mir auf der Schule waren. Aus dem Widerstand in Bilk lebt niemand mehr. Ich bin die einzige, die noch übrig geblieben ist. Der wichtigste dort war unser Pitt Bechthold. Dort wohnte ich. Er war ein ganz alter Genosse und hatte sich vorgenommen, mich politisch zu erziehen. Das hat er wunderbar gemacht. Mit ihm habe ich über alles Mögliche diskutiert. Von Theorie hat er auch keine große Ahnung gehabt, aber von Dingen, die man mit dem normalen Verstand gut erfasst. Und er hat mir eine ganze Menge beigebracht. Ich habe ihn, bevor ich in die Sowjetunion gefahren bin, besucht und mich von ihm verabschiedet, ohne ihm zu sagen, wo ich hinfahre, das war streng geheim. Aber er war ein kluger Mann und hat es wohl geahnt. Er hat zu mir gesagt: "Weißt du, jetzt will ich dir mal drei Ratschläge mit auf den Weg geben, für das was jetzt kommt. Ich weiß das ja nicht, aber ich ahne es. Erstens mal vergiss nie Gymnastik zu machen. Du musst körperlich fit bleiben. Vergiss nie die körperliche Sauberkeit. Und verzettle dich bitte nicht mit Männern." Das hört sich primitiv an, aber als ich im Zuchthaus war, waren die anderen Gefangenen immer ganz erstaunt, dass ich jeden Morgen Gymnastik machte. Und nach und nach haben sie mitgemacht. Oder aber in Kaiser's Kaffeegeschäft. Dort hatten wir Kriminelle, die haben sich nie gewaschen. Und wir kriegten dann Läuse und Krätze. Also musste ich die dazu erziehen, sich zu waschen. Habe ich auch geschafft. Der Pitt hat Recht gehabt. Unter bestimmten Bedingungen ist es außerordentlich wichtig, dass man Selbstdisziplin hat.

In Düsseldorf im Polizeipräsidium war die Frau Raab, die die Frauenabteilung im Gefängnis beaufsichtigte. Die mochte mich. Als meine Mutter eine Tasche mit Essen gebracht hat, habe ich sie ohne Kontrolle von ihr bekommen. Ich habe meine schmutzige Wäsche eingepackt, habe einen Brief geschrieben und den da rein gesteckt. Frau Raab hat die Tasche ohne Kontrolle dem Soldaten zurückgegeben und meine Mutter hat die Tasche bei dem geholt. Übrigens, ich habe 1958 ja wieder im Gefängnis gesessen, da war Frau Raab immer noch dort. Und dann in Hamm, als ich aus dem Gerichtssaal raus kam, nimmt mich der Direktor des Gefängnisses Hamm in Empfang. Ich stehe so an der Wand, war ganz erschöpft, und da sagte der zu mir: "Sag mal Mädchen, wie viel Strafe hast du denn bekommen?" Ich denke, wie spricht der mit mir? Aber brav wie ich bin, habe ich geantwortet: "Fünf Jahre." "Ja", hat er gesagt, "aber dann sind die Verbrecher doch nicht mehr dran." Was meinst du, wie mein Mut gestiegen ist. Er war ein Sozialdemokrat. Dann hat mich seine Tochter, die war Beamtin, in Empfang genommen und mich in die beste Zelle hineingesteckt. Sie hat mir Bücher besorgt und hat mir das Leben so leicht gemacht wie möglich, weil ich ja anschließend nach Anrath kam, und da war ja alles vorbei. Ja, und dann bei Kaiser's Kaffeegeschäft, Nora, Käthe und der Herr Höltchen. Es sind mir eine ganze Reihe aus dem zivilen Leben begegnet, die mir geholfen haben. Vielleicht lebte ich sonst gar nicht mehr.

? Welche Gefühle hattest du damals den deutschen FaschistInnen gegenüber und haben diese Gefühle sich im Laufe der Jahre geändert?

! Was soll ich darauf antworten? Hass? Ich habe keinen Hass empfunden. Wohl Hass gegenüber dem was sie getan haben. Aber bei mir und ganz sicher auch bei den andern kommt dazu, dass ich mich ihnen sehr überlegen fühlte. Die Nazis hätten mich nie klein gekriegt. Denn das war für mich einfach Abschaum. Ich weiß nicht, ob Hass der richtige Ausdruck dafür ist. Die waren also wirklich für mich ekelhaft. Und da stand ich weit drüber. Allein schon vom Wissen, von meiner ganzen Lebenshaltung und meiner humanen Orientierung her. Von daher habe ich schon ein Verhältnis zu ihnen gehabt, ein sehr ablehnendes, ein Verhältnis wie man mit ekelhaften Dingen umgeht. Obwohl das vielleicht nicht ganz so politisch ist, aber so empfand ich das.

? Du warst 23 Jahre jung, als du in die Illegalität gingst, und 35 Jahre alt, als du aus dem Zwangsarbeiterlager kamst.
Was bedeutete und bedeutet es für dich, einen großen Teil deiner Jugend in der Illegalität und in Gefangenschaft verbracht zu haben?
War und ist es nach diesen Erlebnissen für dich überhaupt noch möglich, ein "normales" Leben zu führen?

! Das ist sehr schwer zu beantworten. Wenn ich die Etappen durchsehe, dann war die Zeit, in der wir am wenigsten für uns persönlich tun konnten, die Zeit von '33 bis '35. Weil wir da darauf fixiert sein mussten Widerstand zu leisten und möglichst nicht verhaftet zu werden. Ich bin zum Beispiel in dieser Zeit in kein Theater gegangen, in kein Kino. Ich hatte keinen Freund, da, wenn mir jemand gefallen hätte, ich ihn ja nicht vorher hätte fragen können, "Sag mal, bist du Antifaschist?" Das geht ja nicht. Aber irgendwen konnte ich mir als Freund nicht erlauben, denn ich hätte ja nicht gewusst, wie er politisch eingestellt ist. Wenn ich ihm nichts von meiner Arbeit gesagt hätte, hätte er ja gemerkt, wenn ich nachts verschwinde, Flugblätter verteilen oder schreiben. Das hätte ihn doch irgendwie veranlasst zu fragen: "Sag mal, was machst du denn da?" Also habe ich es lieber sein lassen.

Was Jugendfreuden anbetrifft, komme ich wieder auf die Sowjetunion zurück. Da waren wir jung. Da tanzten wir, gingen ins Kino, ins Theater und auch trinken. Wir feierten den 1. Mai drei Tage lang. Es war wunderbar. Als ich dann wieder in den Widerstand zurückkam, war er eigentlich noch härter. Der Widerstand von Amsterdam her war mit noch viel mehr Vorsichtsmaßnahmen begleitet, als in der legalen Zeit in Düsseldorf. Denn jetzt war ich ja illegal, wenn ich nach Deutschland reiste. Abgesehen davon - das habe ich allerdings erst bei der Gestapo erfahren - hing auf jedem Polizeikommissariat mein Steckbrief. Ich wurde also in Deutschland gesucht. Vielleicht wär ich dann gar nicht wieder zurückgefahren. Aber da ich das nicht wusste, bin ich also unbefangen gefahren.

Die Regeln, die wir für unsere Arbeit als Instrukteure hatten, hören sich heute sehr hart an, waren aber notwendig. Wenn ich zurückkam aus Bielefeld, dann war der verantwortliche Genosse immer in großer Sorge, ob ich auch heil und gesund bin. Es bestand natürlich zwischen der Leitung und uns ein ausgesprochen großes Vertrauensverhältnis. Das musste sein, sonst kann man ja niemand in solch eine gefährliche Arbeit schicken. Aber die Bedingungen, unter denen wir lebten waren nicht leicht. Und konnten sie auch nicht sein. Ich muss sagen: Ich möchte diese Zeit auf keinen Fall missen. Als ich in Amsterdam anfing zu arbeiten bin ich sozusagen übergelaufen vor lauter Bedürfnis, möglichst viel zu tun und anzubringen von meinem Wissen. Das möchte ich niemals missen. Wobei natürlich aus der Erfahrung vorher manches geblieben ist. Ich habe auch in Amsterdam an den Tagen, an denen wir nicht ins Land fuhren, eisern meine Gymnastik gemacht, jeden Morgen. Also ich hatte meine Selbstdisziplin auch da noch, manchmal sogar überzogen. Aber ich war es so gewohnt. Ich mache manche Dinge auch heute noch immer.

Also ich würde sagen, wenn ich in der Widerstandszeit von '33-'35 nicht in einer solchen Gruppe gewesen wäre, hätte ich den Widerstand gar nicht leisten können. Erstens mal hatten wir zueinander unbedingtes Vertrauen. Wir halfen uns gegenseitig, wir stützten uns, das war meine Familie. Die Solidarität. Wir haben das Wort nie gebraucht, aber sie war vorhanden. Und dann die Solidarität, als ich beim Wagner im Verhör war, und mir meine Anna Bachmann und noch eine ganze Reihe gegenübergestellt wurden, da hab ich Solidarität gespürt. Die haben mich alle geschützt. Es hat kein einziger von denen ausgesagt. Und in Amsterdam war die Solidarität wegen der Härte des Zustandes noch größer. Da konnte ich unbedingt damit rechnen, dass die Verantwortlichen für die Kader unbedingt alles taten, was notwendig war, um ihre und meine Arbeit zu gestalten. Ohne diese Solidarität hätten wenige von uns diesen Widerstand machen können. Du kennst doch das Buch "Jeder stirbt für sich allein", so geht es nicht. Und das kann man auch heute nicht.

? Der Antifaschismus - sowohl begrifflich als auch inhaltlich - steht in der BRD mittlerweile ganz offen zur Disposition.
Was verstehst du unter Antifaschismus und was bedeutet er für dich?

! Also für mich hat der Antifaschismus eine sehr große Bedeutung. Ich habe allerdings in der Zwischenzeit einiges gelernt in Bezug auf ihn. Als wir angefangen haben als VVN, da waren wir ja noch kein Bund der Antifaschisten, da waren es hauptsächlich Widerstandskämpfer, die sich da versammelt haben und die VVN gegründet haben. Es hat dann, als wir uns erweiterten zum Bund der Antifaschisten, innerhalb unserer Organisation heftige Diskussionen darüber gegeben. Es gab bei manchem alten Kamerad, er brauchte kein Genosse zu sein, es waren ja auch Sozialdemokraten bei uns, so ein bestimmtes Elitedenken. Er war Widerstandskämpfer gewesen und die Jungen, die zu uns kamen, hatten seiner Meinung nach von Tuten und Blasen keine Ahnung. Oder zum Beispiel eine Diskussion, in der ich sehr viel gelernt habe: Es gibt diese Dimitroffsche Definition "Was ist Faschismus". Ich bin der Meinung, dass diese Definition richtig ist, um den antifaschistischen Kampf zu führen. Das führt dazu, dass ich auch der Meinung bin, dass es richtig ist zu sagen, man kann Faschismus nicht vom Kapitalismus trennen. Ich weiß das aus meiner Erfahrung. Ich sage das auch, und das steht mir zu.

Aber von jedem Menschen im antifaschistischen Kampf erwarten, dass er auch den antikapitalistischen Kampf anerkennt, das kann ich nicht, das habe ich in der Zwischenzeit gelernt. Also ich habe heute eine weitaus größere Breite für den antifaschistischen Kampf. Dazu gehört Kampf für Gerechtigkeit, Humanität, Freiheitsbestreben und natürlich der Kampf gegen den Neofaschismus, der ist das Wichtigste. Aber zur Breite gehört eben, dass man auch alle die Motive zulässt, die den einen oder den andern zum antifaschistischen Kampf bringen. Das kann christlich, kommunistisch, sozialdemokratisch, gewerkschaftlich oder autonom sein. Wir haben hier in Düsseldorf das "Redhouse". Dort trifft sich ein großer Teil der linken Jugend. Die laden mich ein, ich fühle mich da wohl. Ich bin nicht angesehen, so was will ich gar nicht, auch keine Autorität sein. Aber es gibt einen Gleichklang in dem, was wir erreichen wollen. Dabei hat der eine eine ganz andere Vorstellung vom Sozialismus und der andere eine Vorstellung vom Kapitalismus, kann gut möglich sein, aber das schalten wir aus. Ich finde das wunderbar mit den jungen Leuten.

? In der BRD tritt heute mehr denn je der Antisemitismus und der Rassismus offen zu Tage. Abgesehen davon ist der Rechtsextremismus eine nicht zu unterschätzende Kraft in der BRD geworden und die Rechtsentwicklung der gesamten BRD geht in großen Schritten voran.
Wie beurteilst du diese Entwicklung, und mit welchen Gefühlen betrachtest du sie?

! Als die ganzen Vorfälle - Rostock, Mölln und Solingen - waren, da habe ich große Sorge gehabt, weil auch Teile der Bevölkerung nicht dagegen waren. Ich war der Meinung, dass die Lichterdemonstrationen, die wir in Düsseldorf gemacht haben, im Grunde genommen nur eine Ablenkung waren von dem wirklichen Problem. Die sind sich toll vorgekommen, die da marschiert sind mit ihren Kerzchen und Lampen. Aber das war doch kein antifaschistischer Kampf zur Verhinderung oder zur Veränderung dieser Situation! Die Neonazis brauchen doch im Grunde genommen gar keine eigene Partei. Ich sehe das jedenfalls so. Das heißt nicht, dass sie nicht bestrebt wären, eine einheitliche Partei zu bilden und man ihnen im Grunde genommen doch die Möglichkeit dazu gibt. Da wird zum Beispiel die FAP verboten - und was geschieht? Die stehen am nächsten Tag unter einer andern Bezeichnung wieder da. Weil nämlich das Verbot wohl ausgesprochen, aber nicht durchgesetzt wird.

Letztendlich liegt die Ursache darin, was nach 1945 hier bei uns versäumt worden ist. Dies könnte doch überhaupt nicht passieren, wenn wirklich antifaschistisches Gedankengut vermittelt worden wäre. Das regt mich schrecklich auf. Und deshalb bemühe ich mich wenigstens den Schülern zu vermitteln, was sie heute tun müssten. Um sie dagegen zu wappnen das alles zu glauben, was ihnen erzählt wird. Ich denke mir, das ist auch mit einer der wichtigsten Punkte, die Leute zum kritischen Denken zu bewegen. Ich bin sicher, dass nicht jeder mit einem anderen Bewusstsein herausgeht aus solch einer Unterhaltung, aber ich bin davon fest überzeugt, dass irgendwo ein Gedanke hängen bleibt, der dann bei Gelegenheit wieder zum Vorschein kommt. Wobei bei mir dazu kommt, dass ich natürlich mich sehr bemühe, das auch mit entsprechender Überzeugung zu vermitteln. Ich gehe von dem Standpunkt aus: Wer selbst nicht glüht, kann andere nicht entzünden.

Liebe Maria, ich bedanke mich ganz herzlich für dieses sehr persönliche und sehr ausführliche Interview. Ich wünsche dir alles Gute und noch ganz viele Jahre bei bester Gesundheit.

© Christoph Leclaire

Das Interview mit Maria Wachter führte Christoph Leclaire am 11. Juli 1996 im Rahmen der von der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA) NRW in Münster organisierten Veranstaltungsreihe "ZeitzeugInnengespräche - Wider das Vergessen". Es handelt sich hierbei um eine zur besseren Lesbarkeit leicht überarbeitete und gekürzte Version des Originalinterviews. Es wurde zuerst veröffentlicht im "Semesterspiegel" (Nr. 296, November 1996), der Zeitschrift der Studierenden der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Für diese Veröffentlichung wurde es der neuen Rechtschreibung angepasst.

Maria Wachter lebt heute in Düsseldorf und ist Ehrenvorsitzende der VVN-BdA NRW sowie Ehrenmitglied des Fördervereins der Mahn- und Gedenkstätte Düsseldorf.

Christoph Leclaire ist Historiker aus Münster und Mitglied der VVN-BdA Münster sowie der Lagergemeinschaft Buchenwald-Dora/Freundeskreis e.V.

Zum Thema "Frauen und Widerstand": Wolfgang Benz und Barbara Distel (Hrsg,): Frauen. Verfolgung und Widerstand (= Dachauer Hefte, Nr. 3), München 1993; Strobl, Ingrid: Die Angst kam erst danach. Jüdische Frauen im Widerstand 1939-1945, Frankfurt am Main 1998.

Siehe dazu auch den Beitrag "Frauen im antifaschistischen Widerstand im Dritten Reich" von Konstanze Hanitzsch auf dem Informationsportal shoa.de:

http://www.shoa.de/drittes-reich/widerstand-resistenz-und-dissens/
198-frauen-im-antifaschistischen-widerstand-im-dritten-reich.html