30.04.2010
Zum 100. Geburtstag von Maria Wachter,
Ehrenvorsitzende der VVN-BdA NRW
Interview mit Maria Wachter zum
NS-Faschismus, Frauen im Widerstand, Lagerhaft und Antifaschismus
heute (1996)
Maria Wachter ist am 21. April 2010 100 Jahre alt
geworden. Maria, Dir einen herzlichen Glückwunsch zum Hundertsten.
Im folgenden lesen Sie/lest Ihr die Glückwunschadresse der VVN-BdA
NRW an Maria und ein Interview mit Maria, das Christoph Leclaire
für den Semesterspiegel (Nr. 296, November 1996), Zeitung der
Studierendenschaft der Uni Münster, im Sommer 1996 führte.
Herzlichen Glückwunsch zum 100.
Geburtstag von Maria Wachter, Ehrenvorsitzende der VVN-BdA NRW!
Maria
Wachter wird am 21. April 2010 einhundert Jahre alt. Maria ist in
Nordrhein-Westfalen eine der letzten bis heute Überlebenden aus dem
Widerstandskampf gegen den Faschismus. Maria blickt auf ein
kampferfülltes Leben zurück. 1910 in Düsseldorf geboren. Seit
1930 Mitglied der KPD. Sie gehörte zu den wenigen Mahnern, die 1933
vor dem Düsseldorfer Industrieclub warnten: „Wer Hindenburg
wählt, wählt Hitler! Wer Hitler wählt, wählt den Krieg!“.
Von 1933 bis 1935 illegaler Widerstand in Düsseldorf. Von 1935 bis
1937 Internationale Lenin-Schule in Moskau. Von 1937 bis 1939 von
Amsterdam aus illegale Arbeit in Deutschland. 1939 Verhaftung in
Paris und Internierung. 1942 zu Zuchthaus in Deutschland verurteilt,
dann Zwangsarbeit. Die Befreiung im April 1945 rettete sie vor der
Deportation ins KZ Ravensbrück. Ihren harten Weg durch
Gefängnisse, Zuchthäuser und Zwangsarbeit hielt Maria durch.
Mit Gründung der VVN Mitglied wurde Maria viele Jahre in
Bundesgremien und später im Landesausschuss der VVN-BdA NRW
verantwortlich tätig. Heute ist Maria Ehrenvorsitzende der VVN-BdA
NRW.
Für ihre Arbeit in Förderkreis der Mahn- und Gedenkstätte
Düsseldorf wurde sie auch dort zur Ehrenvorsitzenden
gewählt.
Ihre Erfahrungen gab sie mit großer Überzeugungskraft an
nachwachsende junge Generationen weiter. Für ihre Jahrzehnte
andauernde antifaschistische Arbeit möchten wir unserer Kameradin
und Freundin Maria heute danken. Gemeinsam mit der Mahn- und
Gedenkstätte hatten wir eine würdige Geburtstagsfeier im
Heinrich-Heine-Institut vorbereitet. Leider lässt ihr derzeitiger
Gesundheitszustand die Teilnahme nicht zu.
Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der
Antifaschistinnen und Antifaschisten VVN-BdA
Landesvereinigung NRW
ZEITZEUGINNENGESPRÄCHE - Wider das
Vergessen
Maria Wachter
Widerstandskämpferin
? Liebe Maria, du bist in einer Arbeiter-Familie in
Düsseldorf aufgewachsen.
Wie kam es dazu, dass du diesen politischen Weg eingeschlagen hast?
Wie war die Reaktion deiner Familie und deines Umfeldes darauf?
Maria Wachter und Christoph Leclaire beim
Interview am 11. Juli 1996 in ihrer Wohnung in Düsseldorf |
! Ja, ich bin in einem sozialdemokratischen Elternhaus
aufgewachsen. Mein Vater war als junger Mann ein ausgesprochen
revolutionärer Gewerkschafter, der sich an allen sozialen Kämpfen
beteiligt hat. Als er nach dem Ersten Weltkrieg nach Hause kam, in
den er übrigens mit außerordentlichem Unwillen gezogen ist, bekam
er eine Arbeit bei den Düsseldorfer Stadtwerken. Und so nach und
nach ließ die Kampfkraft meines Vaters nach. Die Stadtwerke und die
feste Stelle wurden ihm außerordentlich wichtig. Als dann '29, '30,
'31 die große Arbeitslosigkeit einsetzte, wurde er in Bezug auf
Äußerungen, auch gegen Faschisten, außerordentlich vorsichtig,
weil ihm seine Arbeitsstelle derart wichtig war. Dieses Verhalten
hat er auch nach 1933 beibehalten. Das hat mich außerordentlich
gestört und konnte ich nicht nachvollziehen. Ich bin bis auf den
heutigen Tag ein sehr wissbegieriger, neugieriger Mensch und
versuche für Entscheidungen, die ich zu treffen habe,
Zusammenhänge zu erkennen. Also nicht einfach hinzunehmen, was mir
jemand aus den Medien oder sonst jemand vorsagt, sondern selbst mir
Gedanken zu machen. Meine Gedanken damals stimmten mit dem Verhalten
meines Vaters eben nicht mehr überein.
Wo kommen die vielen Millionen Arbeitslosen her, dafür muss es
Gründe geben, ist ja kein Schicksalszustand, darauf konnte er mir
keine Antwort geben, aber andere auch nicht. Bereits in der Zeit vor
'33 trieben sich die Nazis in unseren Arbeitervierteln herum, auch
dazu hat er, heute muss ich sagen, wohl aus Angst, kein Wort gesagt.
Aber ich wollte wissen, woher die zum Beispiel ihre Uniformen
bekamen. Woher die das Geld bekamen, um in den SA-Lokalen in
Düsseldorf jeden Mittag Essen für Arbeitslose auszugeben, die
bereit waren, Mitglied der SA zu werden. Und es gab ja vor allen
Dingen im Jahr 1932 in Deutschland ununterbrochen Wahlen:
Reichstags-, Landtags-, Reichspräsidentenwahlen, das hörte
überhaupt nicht mehr auf. Ich kann mich bis heute erinnern, dass an
den Litfaßsäulen Plakate klebten auf denen es hieß: "Wer
Hitler wählt, wählt den Krieg!" Darunter konnte ich mir
natürlich nichts vorstellen. Im Elternhaus bekam ich darauf keine
Antwort, weil meine Eltern als Sozialdemokraten, sagen wir mal,
bemüht waren, möglichst alles, was politisch ist, von meiner
schrecklichen Neugierde weg zu halten. Was natürlich nichts genutzt
hat, denn ich war dann schon vor 1933 zu deren Entsetzen Mitglied
der Kommunistischen Partei. Ich wurde Mitglied der Agitprop-Truppe
"Nordwest ran" mit unserem Lehrer Wolfgang Langhoff. Ich
war also schon vorgeprägt, als dann am 30. Januar der
Hitler-Faschismus zur Macht kam.
? Was war für dich der Anlass in den Widerstand zu gehen?
! Es gab keinen besonderen Anlass. Dass ich in der
Agitprop-Truppe war, die täglich im Wahlkampf unterwegs war und
bestimmte Szenen brachte, war für mich natürlich eine gute
politische Schule. Und als dann der 30. Januar kam, da war das für
uns alle in der Agitprop-Truppe eine Selbstverständlichkeit. Ich
muss immer wieder betonen: Es gab keinen besonderen Anlass und auch
keinen besonderen Knackpunkt, sondern das ist ein Hinüberwachsen
aus dem vorherigen Zustand der Protestbewegung in die Situation des
Widerstandes. Ich kann mir auch heute nicht vorstellen, anders
gehandelt zu haben. Wenn auch mein Elternhaus so klein war in seinem
Verhalten, hat das aber doch ein bisschen dazu beigetragen. Denn es
gab bei uns im Elternhaus keine starken religiösen Bindungen, die
mich davon abgehalten hätten, noch gab es bestimmte Beschneidungen
in unseren Rechten. Das war ausgesprochen sozialdemokratisch. Bloß
sie taten nichts.
? Wie war euer Widerstand organisiert und welche Ziele hattet
ihr?
Wie sahen die illegale Arbeit und die illegalen Aktionen eurer
Widerstandsgruppe aus?
Maria Wachter, 1934
© Foto: Mahn- und Gedenkstätte der Landeshauptstadt
Düsseldorf |
! In meiner Gruppe im "Nordwest ran" waren wir
ungefähr 20 junge Leute in meinem Alter. Wir versuchten uns in etwa
eine Vorstellung zu machen, was da an Faschismus auf uns zukommt.
Aber ich behaupte heute, dass es keiner von uns sich vorstellen
konnte, wie entsetzlich und wie schrecklich das war oder wurde. Das
ist das Erste. Das Zweite: Es gab in meiner Gruppe in Bilk vor allen
Dingen bei den älteren Genossen die Auffassung: das lässt sich die
deutsche Arbeiterbewegung nicht gefallen. Ich höre den alten
Genossen heute noch reden, "diese Nazi-Bewegung wird höchstens
zwei, drei Monate da sein, dann ist Schluss damit." Das war das
zweite Versäumnis. Um nun den Widerstand zu organisieren, mussten
wir natürlich verständlicherweise sehr, sehr viel lernen. Denn es
ist ja ein Unterschied, ob man in der Demokratie, auch wenn sie noch
so klein und bedürftig ist, offen ein Flugblatt machen oder auf die
Straße gehen kann, wie die Arbeitslosen in der Zeit, oder ob jede
Äußerung und jedes Verhalten beobachtet wurde und auch Folgen
haben konnte, so dass wir uns überlegen mussten, wie organisieren
wir den Widerstand, so dass er die wenigsten Opfer kostet. Nach dem
30. Januar [1933] waren ja Tausende schon längst verhaftet, und
nach dem Reichstagsbrand wurde es besonders schlimm. Wir mussten uns
überlegen, wie man am besten Widerstand leistet, ohne die Gruppe zu
gefährden.
Dazu haben wir in Düsseldorf als Erstes eine Fünfer-Gruppe
gebildet. In dieser Gruppe waren zwei Frauen, eine davon ich, dann
kam dazu ein Student, der sagte, "Jetzt kann man nicht mehr
studieren, jetzt muss man gegen Hitler kämpfen." Dann hatten
wir einen, der war damals kein Kommunist, und es gab den ältesten
in unserer Gruppe von der KPO, Kommunistische Partei Opposition.
Nebenbei bemerkt hat in der Widerstandsgruppe seine politische
Auffassung und meine überhaupt keine Rolle gespielt. Wir hatten
einen gemeinsamen Feind, das waren die Faschisten. Dann gab es einen
sehr katholischen, frommen Arbeiter, vom Fernsprechamt, der ein
fantastischer Widerstandskämpfer geworden ist. Die anderen Gruppen
waren auch so breit gefächert. Wir hatten auch viele Frauen in
unseren Gruppen. Du musst dir das vorstellen wie olympische Ringe,
einer in den anderen. Einer aus der Gruppe hatte Kontakt zu einer
anderen Gruppe, und der hatte wieder Kontakt zur nächsten. Es gab
eine ganze Menge, von der aber immer nur einer Kenntnis von der
nächsten Gruppe hatte. Denn niemand wusste vorher, wenn er
verhaftet und bei der Gestapo gefoltert wurde, damit er seine
Mitkämpfer angab, ob er dem widerstehen konnte. Es gab ein
unausgesprochenes Gebot: Keiner darf mehr wissen als notwendig, denn
was er nicht weiß, kann er auch nicht aussagen. Erst einmal waren
wir natürlich sehr auf uns selbst angewiesen, später wurde das
organisiert. Da hatten wir auch schon einen Berater, der nicht aus
Düsseldorf kam, denn er wäre viel zu sehr gefährdet gewesen.
Erstens mal mussten wir ja zusammenkommen, wir fünf, um zu
besprechen, was ist jetzt wichtig, wozu müssen wir etwas sagen. Das
konnten wir in keiner Wohnung machen, da das Denunziantentum ja
schon blühte. Wir kauften uns alte Fahrräder und fuhren im Sommer
nach Altenberg, da war eine Jugendherberge. Dort schliefen wir in
der Nacht auf Stroh und am anderen Morgen setzten wir uns auf unsere
Fahrräder und fuhren in die Wiesen oder Wälder und haben dort
besprochen, was wir nun vorhatten. Im Winter war das schwierig. Dann
gingen wir in Düsseldorf in ein Tanzlokal am Rhein. Wir setzten uns
an einen Tisch, wir tanzten auch, und bei dem Krach der Musik
konnten wir wunderbar, ohne dass jemand das hörte, unsere Arbeit
besprechen. Eine andere Methode war, in die Düsseldorfer Altstadt
zu gehen, die damals wie heute immer sehr bevölkert war. Wir
achteten immer darauf, dass wir unter möglichst viel Menschen
waren, weil man da nämlich nicht so auffällt. Wir mussten
zusammenkommen, um zu besprechen, zu welchem Anlass wir zum Beispiel
ein Flugblatt herstellen.
Zum Beispiel für den Dimitroff-Prozess. In Düsseldorf wurde in
den ersten Wochen der Prozess öffentlich übertragen. Ich kann mich
noch gut erinnern, dass ich in Bilk an der Bachstraße gestanden
habe, um mich herum hunderte von Menschen. Und dann hörten wir aus
dem Lautsprecher das, was Dimitroff sagte. Ein SA-Mann, das hat mich
außerordentlich beeindruckt, sagte: "Verdammt, das ist 'nen
Kerl, der hat vielleicht Mut, so was brauchten wir bei uns."
Der Dimitroff-Prozess hat für Düsseldorf eine große Bedeutung
gehabt. Das haben sie dann später alles abgestellt, weil es zuviel
beeinflusst hat. Darüber Aufklärung zu schaffen, dass die
Kommunisten den Reichstag nicht angezündet haben, sondern dass die
Nazis den Reichstagsbrand als Fanal brauchten, um den Widerstand in
seiner ganzen Breite niederzuhalten, war äußerst wichtig. Dazu
haben wir ein Flugblatt gemacht. Im Dezember war der Prozess, dem
der Reichstagsbrandprozess in London vorausgegangen war. Dann kam
das Braunbuch über den Prozess. Wir hatten natürlich nur eins.
Also wir haben uns zusammengesetzt und gelesen. Zum Schluss war es
ganz zerfleddert. An Hand dieses Buches konnten wir nachvollziehen,
was sich wirklich in Berlin abgespielt hat. Das war eine Sache.
Wir haben noch mehr Propagandamethoden entwickelt. Aber es hat
kein Material von uns gegeben, und darauf bin ich nach wie vor
stolz, in dem es nicht mit großen Lettern oben geheißen hat:
"Hitler bedeutet Krieg". Die nächste große Aktion, die
ich noch im Gedächtnis habe, war in Gerresheim. Da marschieren also
3.500 SA-Leute ins Arbeiterviertel, weil die Arbeiter angeblich
Waffen versteckt haben. Wie das Arbeiterviertel aussah, nachdem die
da fertig waren, kannst du dir ja vorstellen. Sie haben natürlich
keine Waffen gefunden, haben aber mindestens 300 Arbeiter
mitgenommen. Sie haben von denen einige, die völlig unbefleckt
waren, freigelassen. Aber ich weiß, dass vier ohne Prozess in der
Düsseldorfer Haftanstalt hingerichtet worden sind. Ohne irgendeinen
Beweis, dass die Leute tatsächlich Waffen gehabt haben. Das war
für uns Anlass, eine Broschüre zu verteilen, die wir nicht selbst
gemacht haben. Vielleicht haben wir sie von Holland bekommen, über
die Rheinschiffer, denn die brachten uns ja Material, aber das weiß
ich heute nicht mehr genau. Ich weiß nur, dass wir 15.000
Broschüren verteilt haben, mit allen Gruppen, "Die Wahrheit
über die Razzia in Gerresheim". Das war eine große Aktion.
? Was hattest du persönlich für Aufgaben und Tätigkeiten im
Widerstand?
! Ich war in der Gruppe die einzige, die Schreibmaschine
schreiben konnte. Ich habe - bis ich 1935 weggegangen bin - alle
Flugblätter, alle Zeitungen, geschrieben. Da kam ich nicht dran
vorbei. Das war aber ein Problem. Die Schreibmaschine musste ja
irgendwo stehen, wo sie keinen Verdacht erregte. Man musste damit
rechnen, dass rechts und links in der Wohnung in der ich saß, die
Leute das Klappern hörten und sich Gedanken darüber machten.
Zuerst hatte ich eine Decke über dem Kopf, mit einer kleinen
Taschenlampe. Das war entsetzlich und ging auf die Dauer nicht. Dann
hat unser Ältester auf der Inselstraße einen Vertreter gefunden.
Vertreter konnten Maschine schreiben, die mussten ja Bestellscheine
und Berichte schreiben. Das fiel im Hause überhaupt nicht auf. Dort
habe ich dann alles geschrieben. Dann musste es abgezogen werden.
Wir hatten dazu einen Abzugsapparat, auf dem man immer nur ein Blatt
abziehen konnte, das dauerte ziemlich lange. Der war in Düsseldorf
irgendwo auf einem Speicher. Der wusste nicht, wo ich mit meiner
Maschine war und ich wusste nicht, wo der mit seinem Apparat war.
Unten wartete ein Kurier, der nahm die Matrizen in Empfang und
brachte sie auf den Speicher. Dort wurden sie abgezogen. Das hat
wunderbar geklappt.
Jetzt musste das Zeug noch verteilt werden. Eine Methode sah so
aus: Auf einem etwas abgeflachten Dach, beispielsweise auf der
Schadowstraße, in einer relativ menschenvollen Gegend, legten wir
ein Brett hin. Auf der einen Seite die Flugblätter, auf der anderen
Seite ein Wasserkessel mit einem Loch. Das Wasser tropfte weg und im
Maße wie der Kessel leer wurde, wurden die Flugblätter schwerer
und flogen 'runter in die Menschenmenge. Die Gestapo hat sich sehr
über den hartnäckigen Widerstand der Düsseldorfer Antifaschisten
beklagt. Das hat damit zu tun, dass hier vor dem 30. Januar die
NSDAP keinen großen Einfluss hatte. Die wichtigsten Parteien waren
die SPD, die KPD und das Zentrum.
Eine andere Sache erinnert an die Aktion der späteren
"Weißen Rose". In Düsseldorf gab es ein Kaufhof, gibt es
auch heute noch, am Cornelius-Platz. Unten standen Stände, oben
hatte der Kaufhof eine Rotunde mit breiter Aufgangstreppe. Da waren
keine Verkaufsstände, sondern man konnte von oben hinunter gucken.
Also gingen wir mit unseren Flugblättern die Treppe rauf, wenn sie
voller Menschen war. Oben in der Menschenmenge ließen wir unsere
Flugblätter runterfallen. Ich bin überzeugt, dass ein Teil die
Flugblätter aufgehoben und sie zur Gestapo geschafft hat. Ein Teil
hat die Flugblätter schnell in die Tasche geschoben, gelesen hat
sie keiner aus lauter Angst. Und ein Teil hat sie zerknüttert und
weggeschmissen, wenn sie gesehen haben, was das war. Wie weit wir
damit Wirkung erzielt haben, das kann ich nicht sagen. Aber ich bin
der festen Überzeugung, dass wir zumindestens Anlass gegeben haben,
mal ein bisschen nachzudenken - wieso bedeutet Hitler Krieg, zum
Beispiel. Das ist das Schwierige heute. Ich werde immer gefragt:
"Was hat denn der Widerstand erreicht?" Wir haben Hitler
nicht weggekriegt.
? Welche Rolle und Bedeutung hatten die Frauen im Widerstand,
und wie war die Akzeptanz der Frauen bei den Männern im Widerstand?
Maria Wachter als Skulptur im Eingangsbereich
der Düsseldorfer Mahn- und Gedenkstätte für die Opfer des
Nationalsozialismus in den Räumen des ehemaligen Polizeipräsidiums
© Foto: Mahn- und Gedenkstätte der Landeshauptstadt
Düsseldorf |
! Zum Beispiel, wenn wir nachts Flugblätter in die
Briefkästen gesteckt haben. Dann gingen wir zu vieren. Da stand
einer an jeder Ecke der Straße, und eine von uns mit einem Mann
verteilte die Flugblätter in die Briefkästen. Wenn jemand jetzt
eine Uniform sah, dann pfiff der, und wir benahmen uns wie ein
Liebespaar. Das ging wunderbar. Wir haben auch Widerstandsmaterial
im Kinderwagen transportiert. Auf die Idee sind die, jedenfalls
nicht in der ersten Zeit, nicht gekommen. Aber das konnten nur
Frauen, denn es war nicht so, dass Männer Kinderwagen geschoben
hätten. Da war die Rolle der Frau gefragt, aber nicht als
spezifische Rolle, sondern weil das nicht anders ging. Ich komme
immer in Streit mit einigen Genossinnen, weil ich behaupte, dass es
keine spezifischen Aufgaben für Frauen im Widerstand gab. In meiner
und auch in den anderen Gruppen hatten die Frauen Aufgaben im Rahmen
des Kampfes gegen den Faschismus.
Wenn zum Beispiel Frauen ihre Männer in den Konzentrationslagern
hatten, saßen viele von ihnen verlassen, hilflos und meistens ohne
Geld in ihren Wohnungen. Also mussten wir sie betreuen. Wenn wir
Geld hatten, gaben wir das auch, aber das hatten wir selten. Diese
Wohnungen konnten keine Männer besuchen, denn die Gestapo
beobachtete sie wochen-, monatelang in der Annahme: da muss doch mal
ein Gesinnungsgenosse hingehen. Auf Frauen haben sie nicht geachtet,
also konnten sie die Frauen betreuen. Aber das waren keine
spezifischen Frauenrollen. Denn Emma und Änne Bachmann und noch
eine ganze Reihe anderer haben genauso wie ich Flugblätter
verteilt. Wir haben mit Kinderdruckkästen kleine Zettelchen
gemacht: "Hitler bedeutet Krieg". Die hatten wir in der
Hand und ließen sie in der Menschenmenge fallen. Das habe doch
nicht ich oder ein Mann allein getan, das hat doch meine Genossin
neben mir auch gemacht. Ich spreche jetzt vom aktiven Widerstand.
Ich will nicht die Frauen im Widerstand auf eine bestimmte
Frauenrolle reduzieren, weil ich davon ausgehe, dass wir einen
gemeinsamen Feind hatten, den Faschismus.
Der beinhaltete natürlich auch die Frauenrolle der Faschisten,
insofern kämpften wir auch für unsere Rechte. Wir hatten alle
Rechte, die die Männer auch hatten. Vielleicht mal etwas im
Zusammenhang: Der katholische Arbeiter in meiner Gruppe war ein
fantastischer Mitarbeiter, aber als katholischer Arbeiter hatte er
eine bestimmte Vorstellung von Frauen. Er war der Meinung, dass,
wenn er mal verheiratet ist, seine Frau nicht arbeiten geht. Er
ernährt die Familie. Ich war entsetzt. Ich habe von Emanzipation zu
der Zeit noch nichts gewusst, aber ich war es, ohne es zu wissen.
Ich habe gesagt: "Was soll denn deine Frau den ganzen Tag
tun?" "Ja", hat er gesagt, "solang sie noch
keine Kinder hat, kann sie ja Gardinen waschen und stricken und
häkeln." "Ach", sagte ich, "hör mal, den
ganzen Tag kann man das doch nicht machen." "Meine Frau
schon.", hat er gesagt. In seinen Vorstellungen haben meine
überhaupt keinen Raum gehabt. Wenn wir uns über persönliche Dinge
unterhalten haben, sind wir uns in die Haare geraten. Aber, ich habe
als Frau eine größere Chance gehabt Widerstand zu leisten als ein
Mann. Und zwar ergab sich das meiner Auffassung nach aus diesem
Frauenbild der Faschisten.
Ich mache jetzt mal einen großen Sprung. Ich habe '42 in Hamm
vor dem Sondergericht gestanden. Ich saß dort, um mich herum vier
riesige SS-Leute und vorne der Richter aus Berlin vom Sondergericht.
Der hatte buchstäblich Schaum am Mund gehabt. Wenn ich ein Mann
gewesen wäre, dann hätte der sich wahrscheinlich auch aufgeregt.
Aber dass da eine Frau saß und dann auch noch so ein zierliches
Weibchen, das war für den unfassbar. Das sage ich mit Absicht
jetzt. Der hat mir Vorwürfe gemacht, dass ich die Männer aus dem
Widerstand nicht zu guten Nazis erzogen habe. Ich hätte mich nicht
als nazistische Frau verhalten. Ich kann gar nicht alles erzählen,
was er von sich gegeben hat. Es war schrecklich. Da habe ich wieder
gemerkt, welch einen Unterschied die Nazis machten in Bezug auf
Männer und Frauen. Vielleicht hat mir das ein bisschen geholfen,
möglichst lange Widerstand leisten zu können.
? Du bist im Mai 1935 zunächst in die Sowjetunion, dann in
die Niederlande und schließlich nach Frankreich gegangen.
Warum bist du ins Ausland gegangen und was hast du dort gemacht?
! 1935 waren meine Genossen der Meinung, ich müsste den
Widerstand eine Weile verlassen. Der zweite Grund war, dass der 7.
Weltkongress bevorstand. Und Stefan fragte mich bei einer
Zusammenkunft der Gruppen, ob ich am Kongress teilnehmen könnte. Da
ich arbeitslos war, war das kein Problem. Aber dann stellte sich
heraus, dass sie eine andere Delegierte hatten und sie der Meinung
waren, ich sollte zur Lenin-Schule in Moskau. Das habe ich
natürlich zuerst mit großer Freude angenommen. Ich musste von
Holland aus in die Sowjetunion reisen. In Holland bekam ich
schrecklichen Bammel. Ich wollte nicht mehr zur Schule. Ich habe mir
vorgestellt, da sind Schüler, die alles schon wissen und ich
überhaupt nichts. Ich wusste wie man Widerstand leistet, schweigt,
Flugblätter verteilt und sie schreibt. Aber von Theorie hatte ich
überhaupt keine Ahnung. Ich bin in die Partei gekommen und dann
gleich in den Widerstand. Theoretische Kenntnisse konnte ich doch
gar nicht haben. Deshalb habe ich zu dem Genossen, der mich in
Amsterdam betreute, gesagt: "Ich fahr da nicht hin."
Daraufhin hat er mir "Staat und Revolution" besorgt und
Engels "Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des
Staats". Ich habe mich in mein Quartier gesetzt und angefangen
zu ochsen. Ich habe natürlich alleine fast nichts verstanden. Ich
bekam zum Beispiel Schwierigkeiten mit dem Verhältnis zwischen
Minderheit und Mehrheit in der Demokratie. Bei mir hatte die
Minderheit genauso viel Rechte wie die Mehrheit. Es war wirklich
schlimm. Aber der Genosse hat dann mit mir sehr geduldig diskutiert
und ich bin doch gefahren.
? Wie erging es dir in Moskau und auf der Lenin-Schule?
! Das war die schönste Zeit in meinem Leben. Es bedeutete
zu lernen: Geschichte der Arbeiterbewegung, deutsche Geschichte,
Politische Ökonomie, also Marx und alle diese ganzen Fragen. Mir
fielen nach und nach die Schuppen von den Augen. Und die Maschine da
oben begann richtig zu laufen und zu rennen. Ich war auf der Schule
unterernährt, weil ich soviel Kräfte brauchte zum Studieren. Das
zeigte, mit welch einem Bedürfnis ich das aufgenommen habe, wie ein
Schwamm habe ich das alles aufgesogen. Wir hatten einen
Zwölf-Stunden-Tag. Also es war wunderbar. Es gab einen
9-Monatskursus und einen 18-Monatskursus. Bevor man anfing zu
studieren, wurde man geprüft, auf was weiß ich nicht mehr. Auf
jeden Fall hat man mich einiges gefragt und dann hat die
Kaderabteilung gesagt, "für dich käme der neunmonatige
Lehrgang in Frage". Das bedeutete, dass wir in neun Monaten
dasselbe lernen mussten wie andere in 18 Monaten.
Ich bin auch nur unter der Bedingung in die Schule gegangen, dass
ich in den Widerstand zurückkomme. Das war das Wichtigste für
mich. Es stellte sich denn auch heraus, dass der ganze Lehrgang aus
antifaschistischen Widerstandskämpfern bestand, von denen keiner
den anderen kannte, alle mit großen Erfahrungen. Nach neun Monaten
wollten wir nach Hause fahren. Das war aber nicht möglich. Ich bin
dann vom Mai '35 bis zum Frühherbst '37 in der Sowjetunion gewesen,
was für mich nur von Vorteil war. Ich berichte davon mit einiger
Euphorie, weil das für mich so wichtig war und bis heute ist. Es
war eine internationale Schule. Unsere Lehrer waren zum Teil
Deutsche, später waren die in der DDR in wichtigen Funktionen. Und
wir hatten russische Lehrer und Lehrerinnen, teilweise mit
Übersetzung. In unserem Lehrgang waren 45 Leute, davon 12 im
Jugendkursus. Die einen waren Parteilehrgang, die anderen
Jugendlehrgang. Ernst Buschmann war im Jugendkursus auf der gleichen
Etage. Die hatten ein etwas anderes Seminar. Und da haben wir
gelernt.
Wir haben uns auch Moskau angesehen. Erstens mal war es
Vorschrift jede Woche ins Kino und mindestens zweimal im Monat ins
Theater zu gehen. In der Stube hocken sollte man nicht. Es gab
morgens Pflichtgymnastik, Sport musste gemacht werden. Es wurde
extra ein Ehepaar engagiert, welches uns die modernen Tänze
beibrachte. Wilhelm Pieck ist mal bei uns gewesen und hat gesagt:
"Ihr müsst alles lernen, was euch später im Widerstand nicht
von anderen Menschen unterscheidet. Ihr müsst also alles können,
bis zu Skat- und Schachspielen." Wenn wir morgens gelernt
haben, dann holte der Verantwortliche aus der Bücherei die
entsprechenden Materialien und wir saßen da und brüteten über
mehreren Themen. Zwei Tage später mussten wir dann zu einem der
Themen, ohne dass wir vorher wussten welches, referieren. Das war
nicht immer einfach. Ich habe manches Mal gezittert. Ich kann mich
erinnern, dass ich einmal einen Vortrag halten musste über
"Das Haus Hohenzollern als Stab im Leibe von Habsburg".
Ich glaube, ich habe es ganz gut gemacht.
Maria Wachter beim Interview |
Was mir besonders leicht gefallen ist, war die Politische
Ökonomie. Das hat mir überhaupt keine Schwierigkeiten gemacht,
Mehrwerttheorie, Akkumulationskapital und alle diese Dinge. Wir
hatten in der ersten Zeit auch Russischunterricht. Aber da wir damit
zu viele Kräfte verbrauchten, wurde das abgestellt. Die Schule auf
dem Lenin-Berg war ein modernes, großes Bauwerk mit Einzel- oder
Doppelzimmern, großen Lektionsräumen, einer Riesenbibliothek, und
dort zogen wir im Oktober hinauf. Ich war im Doppelzimmer mit meiner
Freundin Helga, die später in Marseille hingerichtet worden ist. Es
gab auf der Schule eigentlich nichts, was man uns nicht beigebracht
hätte. Deshalb finde ich es so gut, dass ich die Möglichkeit
hatte, die Schule zu besuchen. Vor allen Dingen, Christoph, wenn du
dir vorstellst, dass du von manchen theoretischen Dingen gar keine
oder eine falsche Vorstellung hattest, und auf einmal fallen dir die
Scheuklappen weg. Du fängst an, Zusammenhänge zu begreifen,
Hintergründe. Vor allen Dingen habe ich gelernt, immer
"warum" zu fragen. Es gibt einen guten Genossen, der in
der Zwischenzeit gestorben ist, der hat gesagt, "Maria, wenn du
mal begraben wirst, kommt auf dein Grabstein nur ein einziges Wort:
"Warum?" Das habe ich gelernt. Ich habe meine ganze
Umgebung verrückt gemacht.
? Du warst dann ab Herbst 1937 in den Niederlanden.
Warum bist du in die Niederlande gegangen?
! Das wurde festgelegt, das war in der Illegalität so, wo
jeder von uns eingesetzt wird. In der Zwischenzeit hatte die Partei,
das hatte uns Pieck auch genauso vermittelt, aufgrund großer Opfer
im Widerstand eine Einrichtung geschaffen. Um Deutschland herum gab
es jetzt Abschnittsleitungen. Eine Abschnittsleitung West in
Amsterdam, eine in den skandinavischen Ländern, eine in Prag, eine
in der Schweiz und eine in Belgien. Es war ja noch kein Krieg 1937.
Jetzt fuhren die Instrukteure, die aus der Sowjetunion kamen, oder
sonst irgendwo geschult waren wie ich, ins Land. Ich kam zur
Abschnittsleitung West nach Amsterdam und bekam den Bezirk
Bielefeld, die Dürrkopp-Werke, die Oetker-Werke und noch einen
Jugendbetrieb zum Betreuen. Dann wurde ich durch den Genossen, der
bei Dürrkopp von mir abgelöst wurde, mit dem verantwortlichen
Leiter der Widerstandsgruppe, Bruno, bekannt gemacht. Ich traf den
Bruno alle drei Wochen, denn die vorgesehenen vier Wochen schienen
mir zu lang und ich habe mit den Genossen in Amsterdam immer
darüber gestritten. Der Bruno hatte eine Frau, von der er sich
unter den Bedingungen des Widerstandskampfes nicht trennen konnte,
die ihm aber auch keine Sicherheit bot, wenn sie etwas erfahren
hätte. So mussten wir möglichst alle Lokale meiden, denn da hätte
ja jemand ihn mit mir, einer blonden, gut aussehenden Frau sehen
können. Was daraus geworden wäre, konnte der Bruno sich nur mit
Schrecken vorstellen. In dem Dürrkopp-Werk gab es eine
Widerstandsgruppe von 60 Sozialdemokraten. Ich war richtig stolz auf
diese Gruppe. Und Bruno war der Verbindungsmann, nur mit ihm kam ich
zusammen. Er brachte die ganzen Probleme aus dem Betrieb an mich
heran. Wir diskutierten darüber, ich gab ihm, wenn ich konnte,
Ratschläge, wie man damit fertig wird.
Vielleicht nehm' ich ein Beispiel. Es hört sich jetzt so klein
und dürftig an, war aber für die Genossen im Dürrkopp-Werk sehr
wichtig. Wenn im Werk eine Appell stattfand, das heißt, wenn Hitler
wieder mal eine Rede hielt, mussten sich die Arbeiter nach der
Arbeit unten im Hof aufstellen und sich diese schreckliche Rede
anhören. Das bekamen sie aber nicht bezahlt. Wenn der also zwei
Stunden sprach, hatten sie zwei Stunden Arbeit ohne Bezahlung. Also
hat Bruno gesagt: "Maria", ich hieß ja gar nicht mehr
Maria, "was können wir dagegen tun?" "Oh", habe
ich gesagt, "habt ihr 'nen gutes Verhältnis zu eurem
DAF-Mann?" Die Arbeiter mussten Mitglied der DAF sein. Das hat
manchen Genossen sehr viel Kraft gekostet, aber zum Schluss haben
sie es doch gemacht. Jedenfalls der DAF-Mann musste, um überhaupt
sein Gesicht zu wahren, etwas für die Belegschaft tun. Bei der
Tatsache, dass in den Betrieben die Arbeiter überhaupt keine Rechte
mehr hatten, da angeblich zwischen Betriebsleiter und Arbeiter
Volksgemeinschaft bestand, war das natürlich schwierig. Also sind
die Arbeiter - nicht der Bruno, der durfte sich solche Sachen nicht
erlauben - zu ihm gegangen und haben 'was von der Ehre und Würde
der deutschen Arbeiter gesprochen und der Notwendigkeit ihrer
Arbeitskrafterhaltung. Er hat wissen wollen, warum: "Ja wegen
der Stunden, die wir da unten stehen müssen." Das haben sie
abgestellt. Es war eine kleine Sache, aber für die Arbeiter
bedeutete sie sehr viel. Denn sie haben etwas gegen die Faschisten
durchgesetzt. Und der Bruno war natürlich bei ihnen nun eine
größere Autorität.
? Du wurdest schließlich am 31. August 1939 in Frankreich
verhaftet.
Warum bist du nach Frankreich gegangen und wie kam es zu der
Verhaftung?
! Eigentlich um auszuruhen. Ich war bis 1938 im Widerstand
und bin immer mit einem falschen Pass nach Deutschland gefahren. Mir
sind tolle Dinge passiert unterwegs. Ich fuhr von Amsterdam über
Emmerich nach Deutschland. Und ein Genosse hat mir gesagt:
"Wenn du an der Grenze ankommst, wirst du ganz zitterig werden.
Also fängste am besten an dein Butterbrot zu essen, nimm dir 'nen
Butterbrot mit." Das habe ich auch gemacht. Ich saß auf meinem
Platz am Fenster, auf dem Brettchen hatte ich mein Butterbrot, und
an der Grenze habe ich das Butterbrotspapier aufgemacht und
angefangen zu essen. Das hat mich unglaublich beruhigt. Plötzlich
geht die Tür auf, SS und Bahnpolizei: "Die Ausweise
bitte!" Dann habe ich mit einer unnachahmlich hochmütigen
Bewegung, ohne die anzugucken, meinen Pass dahin gehalten. Und dann
hat man mir ihn zurückgegeben, hat gesagt, "Danke schön,
gnädige Frau!" Jedes Mal. Ich war natürlich entsprechend
angezogen. Das mussten wir ja sein. Aber jedenfalls hat mir das
immer geholfen. Ich hatte vorher an einem Lehrgang teilgenommen, um
nochmal unsere Kenntnisse über den Faschismus aufzufrischen und
blieb noch eine Weile in Paris im Hinblick auf einen neuen Einsatz.
Um dort leben zu können, musste man sich aber legalisieren.
Frankreich war das einzige Land, in dem man legal als Emigrant leben
konnte. Das bedeutet, dass man zur Präfektur musste, um da den
Antrag zu stellen, sich in Paris aufhalten zu dürfen. Das gab vom
ersten Tag an Schwierigkeiten. Ich musste jedes Mal auf die
Präfektur, um meine Aufenthaltserlaubnis, die dann für eine Woche
galt, verlängern zu lassen.
Am 1. September '39 marschierten die Deutschen in Polen ein. Auf
Grund der Tatsache, dass wir der französischen Polizei unsere
ganzen Lebensläufe abgegeben hatten, wussten die genau, mit wem sie
es zu tun hatten. Da wir aber in der Zeit eine äußerst rechte
Regierung in Frankreich hatten, wurden wir gleich am 31. August
verhaftet. Am 1. September marschierten die Deutschen in Polen ein,
am 31. August waren wir schon verhaftet und kamen dann über das
Polizeipräsidium ins Internierungslager. Dann marschierten die
Deutschen in Frankreich ein und im unbesetzten Gebiet installierte
sich die Vichy-Regierung. Es gab zwischen den Okkupanten und der
Vichy-Regierung ein Abkommen, wonach sie alle von den Nazis
angeforderten Leute ausliefern musste. Sie haben es auch gerne getan
und so wurde ich Ende 41 der Gestapo übergeben.
Ich bin vom Dezember '41 bis zum Februar '42 in einer grünen
Minna nach Deutschland gereist, über 13 Gefängnisse, bis ich im
Februar in Düsseldorf bei der Gestapo ankam. Die wollten als Erstes
wissen, wann ich in der Sowjetunion war. Das habe ich natürlich
geleugnet, weil ich annahm, das wüssten die nicht. Doch der
Gestapo-Beamte sagte, "Ich gebe ihnen Papier und 'was zu
schreiben und dann schreiben Sie bitte Ihren Lebenslauf. Aber
vergessen Sie die Sowjetunion nicht." Ich habe den Lebenslauf
geschrieben, als wenn ich mich für eine Stelle interessierte. Er
ist am nächsten Tag gekommen, hat das Ding abgeholt, hat
draufgeguckt und war natürlich nichts mit Sowjetunion. "Naja",
hat er gesagt, "das werden wir ja noch rauskriegen."
Dieser Beamte war vorher Sozialdemokrat gewesen und hatte sich
freiwillig zur Gestapo gemeldet. Er war aber ein Mann, der auf
beiden Schultern trug. Das war '42. Moskau war nicht genommen, der
Blitzkrieg vorbei, die Nazis mussten sich jetzt auf einen langen
Krieg einrichten. Und der Mann war nicht dumm.
"Einerseits", hat er gesagt, "wenn ich Sie gut
behandle, werden Sie, wenn wir den Krieg verlieren sollten, für
mich eine gute Zeugin sein. Sollten wir den Krieg gewinnen und ich
hab Sie gut behandelt, kann mir auch nichts passieren." Also
hat er mich immer nur mit äußerster Vorsicht in den Keller in der
Prinz-Georg-Straße schaffen lassen. Sie haben mich auch ein paar
Mal misshandelt. Das war aber auszuhalten. Aber sie haben von mir
nicht erfahren, dass ich in der Abschnittsleitung war. Darauf hätte
nämlich Todesstrafe gestanden.
Dass ich in der Sowjetunion war, war nicht mehr zu verheimlichen.
Sie hatten nämlich Zeugen dafür, die ausgesagt hatten. Und sie
hatten auch Fotos aus Moskau sowie eine dicke Akte der früheren
Widerstandsarbeit in Bilk. Sie haben mir Zeugen gegenübergestellt,
die bezeugen sollten, dass ich damals mit ihnen zusammen im
Widerstand gearbeitet habe. Die haben das alle abgeleugnet, da sie
ja alle schon verurteilt waren. Zum Schluss hat der Richter gesagt:
"Wir können der Angeklagten nichts nachweisen, aber wir
müssen annehmen, dass sie aufgrund ihrer Engagiertheit und ihrer
Intelligenz vielmehr getan hat, als wir wissen", womit er
übrigens Recht hatte, "und aus dem Grunde verurteilen wir die
Angeklagte zu fünf Jahren Zuchthaus nach dem Annahmegesetz".
Die Nazis brauchten niemanden 'was zu beweisen. Sie brauchten bloß
anzunehmen, dass du in deinem Kopfe antifaschistisch denkst, dann
wurdest du nach dem Annahmegesetz bestraft. Nach '45 hat man diesen
Gestapo-Beamten, Wagner hieß er, verhaftet. Da hat er sich auf mich
und zwei andere berufen, als Zeugen, dass er uns gut behandelt hat.
Wir sollten ihm das schriftlich geben. Das haben wir alle drei
verweigert, weil wir wussten, dass er vor uns mit einer
unmenschlichen Härte Gefangene behandelt hatte. Er hat
beispielsweise einen Freund so misshandelt, dass er ins Irrenhaus
musste und angeblich auf der Flucht erschossen wurde. Sollte ich dem
jetzt meine Unterschrift geben, dass er mich gut behandelt hat?
Konnte ich doch nicht. Das haben wir alle abgelehnt und er hat sich
aufgehängt. Der ist ja eigentlich blöd gewesen, denn hinterher
hätte der doch eine wunderbare Stelle bekommen.
? Du bist zu fünf Jahren Zuchthaus und anschließendem
Konzentrationslager verurteilt worden.
Wie erging es dir im Gefängnis?
! Ich kam im Zuchthaus Anrath in Einzelhaft. Das war
schrecklich. Keine Arbeit, kein Buch, keine Unterhaltung, gar
nichts. Man sitzt da auf dem Holzschemelchen, der an der Wand
festgemacht ist. Ins Bett darf man nur nachts. Ich wusste oder
ahnte, um das zu überstehen, diese Einsamkeit, muss man sich eine
Denkaufgabe stellen. Ich habe meine ganze Sowjetzeit nochmal
durchgearbeitet, alles was ich da gelernt habe. Als ich entlassen
wurde, war ich noch nicht einmal fertig damit, weil das nämlich
immerhin fast zweieinhalb Jahre waren. In den Zuchthäusern gab es
zu der Zeit alle möglichen Arbeitskommandos. Ein Bauernkommando, da
kam ich hinein, musste beim ersten Sonnenstrahl raus, beim letzten
Sonnenstrahl in die Anstalt zurück. Dann musste man bei den Bauern
um Anrath herum Rüben ziehen, Kartoffeln auslösen, Unkraut ziehen
oder Gerstegarben aufstellen. Wir arbeiteten trotz Regen, auch wenn
wir triefnass waren. Das Pensum, das der Bauer gestellt hatte und
wofür er der Anstalt bezahlte, musste geschafft werden.
1943 kam ich noch für einige Monate in ein anderes
Arbeitskommando: Kaiser's Kaffeegeschäft. Das war ein besonders
schönes Kommando, weil nämlich die Nazis kein dafür eingestelltes
Bewachungspersonal mehr hatten, die mussten alle an die Front. Da
haben sie die Vorarbeiterinnen und Meister in den Betrieben, in
denen wir arbeiteten, zum Bewachen vereidigt. Den Vorarbeiterinnen
an der Maschine, an der ich arbeitete, Nora und Käthe, war ich aus
politischen Gründen außerordentlich sympathisch. Sie brachten mir
jeden Morgen die Zeitung mit, dann ging ich auf das Klo und las den
"Völkischen Beobachter" zwischen den Zeilen. Die Gestapo
machte in diesen Kommandos Razzien, um gut aussehende, ich meine
damit kräftige, gesunde Frauen heraus zu holen und sie in die
Rüstungskommandos zu schaffen. Da haben die beiden mich immer
geschützt. Die haben gesagt, "Morgen kommt die Gestapo",
und da verschwand ich auf dem Klo.
Wir kriegten auch morgens nur eine Wassersuppe und hatten Hunger.
Wir waren 120 Gefangene, davon 25 Französinnen. Das waren meine
Freundinnen, ist doch klar. Die musste ich mit Essen versorgen. Ich
war auch noch Stubenälteste und die couragierteste von der ganzen
Bande. Also hat die Nora Schwarzbrot mitgebracht, und ich bin in
eine andere Abteilung gegangen und habe da so ein scheußliches
Fettbrot mitgebracht. Dann habe ich das Brot beschmiert und es an
meine Schützlinge verteilt. Auf diese Weise habe ich eigentlich in
Kaiser's Kaffeegeschäft gar nichts zu leiden gehabt. Im Gegenteil.
Ich hatte immer weiß gestärkte Kittel an, eine wunderbare Haube
auf dem Kopf. Nora und Käthe brachten sie mir jede Woche mit. Und
vor allen Dingen bekam ich einen Büstenhalter, den gab es im
Gefängnis nicht. Ich habe in den ganzen Jahren ein einziges
schwarzes Kleid getragen, mit einer gelben Biese, und sonst nichts.
Das wurde nie gewaschen. Das war so im Zuchthaus. Aber Nora und
Käthe sorgten dafür, dass ich immer tiptop aussah. Denen verdank
ich sehr viel.
? Welche Augenblicke aus der Zeit des Widerstandes und der
Gefangenschaft sind für dich menschlich am wichtigsten?
! Im Kaiser's Kaffeegeschäft naht Weihnachten und die
Kommandoleiterin von uns 120 Frauen, Fräulein Kirst hieß sie,
mochte mich. Und zwar deshalb, weil ich ihr - das tat ich in meinem
und dem Interesse meiner Schützlinge - viel Arbeit abnahm. Der
Kommandoführerin war es ganz recht, mir einiges zu überlassen.
Also, es kommt Weihnachten heran. Da hab ich zu Fräulein Kirst
gesagt: "Sagen sie mal, was sollen wir denn Weihnachten tun? Da
wird ja nicht gearbeitet, da sitzen wir ja nur in unserm
fürchterlichen Keller. Aber wenn wir Weihnachten da unten sitzen,
dann heulen wir bloß." Da hat sie gesagt, wir sollten uns doch
überlegen, was wir tun könnten. Ich sagte wir könnten ja eine
Weihnachtsfeier organisieren. "Könnten Sie so was?"
"Ja", sage ich, "ich kann mir ja mal 'nen paar
Gedanken machen." Ich habe meine Freunde und Freundinnen um
mich versammelt, und wir haben uns etwas überlegt. Wir haben tolle
Sachen organisiert. Unter anderem habe ich Heine-Gedichte rezitiert.
Die Kommandoführerin war so stolz auf das, was wir da machten, dass
sie die ganzen Angestellten vom Kaiser's Kaffeegeschäft eingeladen
haben, auch den Direktor Höltchen. Ich wusste nicht, was das für
ein Mann war. Er war aber da. Jedenfalls wir haben die
Weihnachtsfeier durchgeführt. Es war wunderbar. Ich rezitierte
Heine, und als sie dann gegangen sind, mit viel Applaus, kam der
Höltchen zu mir und sagt: "Sag mal, du weißt ja, was du da
rezitiert hast?" Ich bin doch nicht auf die Idee gekommen, dass
da einer von denen, ohne den Namen zu nennen, Heine kennt.
"Ja", habe ich gesagt, "und?" Er hat gesagt,
"du hast aber verdammt Mut, Heine zu rezitieren."
"Ja", sage ich, "und, was soll denn das?"
"Also mir hat es gut gefallen", hat er gesagt. War auch
kein Faschist. Man konnte also auch noch im Zuchthaus etwas tun, um
ein bisschen aufzurichten.
? Welche Menschen, denen du im Widerstand und in der
Gefangenschaft begegnet bist, waren und sind dir besonders wichtig?
! Da war zuerst einmal hier in Düsseldorf Ernst
Buschmann, den ich seit 1935 kannte. Dann eine Reihe von Genossen,
die in der früheren DDR leben und mit mir auf der Schule waren. Aus
dem Widerstand in Bilk lebt niemand mehr. Ich bin die einzige, die
noch übrig geblieben ist. Der wichtigste dort war unser Pitt
Bechthold. Dort wohnte ich. Er war ein ganz alter Genosse und hatte
sich vorgenommen, mich politisch zu erziehen. Das hat er wunderbar
gemacht. Mit ihm habe ich über alles Mögliche diskutiert. Von
Theorie hat er auch keine große Ahnung gehabt, aber von Dingen, die
man mit dem normalen Verstand gut erfasst. Und er hat mir eine ganze
Menge beigebracht. Ich habe ihn, bevor ich in die Sowjetunion
gefahren bin, besucht und mich von ihm verabschiedet, ohne ihm zu
sagen, wo ich hinfahre, das war streng geheim. Aber er war ein
kluger Mann und hat es wohl geahnt. Er hat zu mir gesagt:
"Weißt du, jetzt will ich dir mal drei Ratschläge mit auf den
Weg geben, für das was jetzt kommt. Ich weiß das ja nicht, aber
ich ahne es. Erstens mal vergiss nie Gymnastik zu machen. Du musst
körperlich fit bleiben. Vergiss nie die körperliche Sauberkeit.
Und verzettle dich bitte nicht mit Männern." Das hört sich
primitiv an, aber als ich im Zuchthaus war, waren die anderen
Gefangenen immer ganz erstaunt, dass ich jeden Morgen Gymnastik
machte. Und nach und nach haben sie mitgemacht. Oder aber in
Kaiser's Kaffeegeschäft. Dort hatten wir Kriminelle, die haben sich
nie gewaschen. Und wir kriegten dann Läuse und Krätze. Also musste
ich die dazu erziehen, sich zu waschen. Habe ich auch geschafft. Der
Pitt hat Recht gehabt. Unter bestimmten Bedingungen ist es
außerordentlich wichtig, dass man Selbstdisziplin hat.
In Düsseldorf im Polizeipräsidium war die Frau Raab, die die
Frauenabteilung im Gefängnis beaufsichtigte. Die mochte mich. Als
meine Mutter eine Tasche mit Essen gebracht hat, habe ich sie ohne
Kontrolle von ihr bekommen. Ich habe meine schmutzige Wäsche
eingepackt, habe einen Brief geschrieben und den da rein gesteckt.
Frau Raab hat die Tasche ohne Kontrolle dem Soldaten zurückgegeben
und meine Mutter hat die Tasche bei dem geholt. Übrigens, ich habe
1958 ja wieder im Gefängnis gesessen, da war Frau Raab immer noch
dort. Und dann in Hamm, als ich aus dem Gerichtssaal raus kam, nimmt
mich der Direktor des Gefängnisses Hamm in Empfang. Ich stehe so an
der Wand, war ganz erschöpft, und da sagte der zu mir: "Sag
mal Mädchen, wie viel Strafe hast du denn bekommen?" Ich
denke, wie spricht der mit mir? Aber brav wie ich bin, habe ich
geantwortet: "Fünf Jahre." "Ja", hat er gesagt,
"aber dann sind die Verbrecher doch nicht mehr dran." Was
meinst du, wie mein Mut gestiegen ist. Er war ein Sozialdemokrat.
Dann hat mich seine Tochter, die war Beamtin, in Empfang genommen
und mich in die beste Zelle hineingesteckt. Sie hat mir Bücher
besorgt und hat mir das Leben so leicht gemacht wie möglich, weil
ich ja anschließend nach Anrath kam, und da war ja alles vorbei.
Ja, und dann bei Kaiser's Kaffeegeschäft, Nora, Käthe und der Herr
Höltchen. Es sind mir eine ganze Reihe aus dem zivilen Leben
begegnet, die mir geholfen haben. Vielleicht lebte ich sonst gar
nicht mehr.
? Welche Gefühle hattest du damals den deutschen
FaschistInnen gegenüber und haben diese Gefühle sich im Laufe der
Jahre geändert?
! Was soll ich darauf antworten? Hass? Ich habe keinen
Hass empfunden. Wohl Hass gegenüber dem was sie getan haben. Aber
bei mir und ganz sicher auch bei den andern kommt dazu, dass ich
mich ihnen sehr überlegen fühlte. Die Nazis hätten mich nie klein
gekriegt. Denn das war für mich einfach Abschaum. Ich weiß nicht,
ob Hass der richtige Ausdruck dafür ist. Die waren also wirklich
für mich ekelhaft. Und da stand ich weit drüber. Allein schon vom
Wissen, von meiner ganzen Lebenshaltung und meiner humanen
Orientierung her. Von daher habe ich schon ein Verhältnis zu ihnen
gehabt, ein sehr ablehnendes, ein Verhältnis wie man mit ekelhaften
Dingen umgeht. Obwohl das vielleicht nicht ganz so politisch ist,
aber so empfand ich das.
? Du warst 23 Jahre jung, als du in die Illegalität gingst,
und 35 Jahre alt, als du aus dem Zwangsarbeiterlager kamst.
Was bedeutete und bedeutet es für dich, einen großen Teil deiner
Jugend in der Illegalität und in Gefangenschaft verbracht zu haben?
War und ist es nach diesen Erlebnissen für dich überhaupt noch
möglich, ein "normales" Leben zu führen?
! Das ist sehr schwer zu beantworten. Wenn ich die Etappen
durchsehe, dann war die Zeit, in der wir am wenigsten für uns
persönlich tun konnten, die Zeit von '33 bis '35. Weil wir da
darauf fixiert sein mussten Widerstand zu leisten und möglichst
nicht verhaftet zu werden. Ich bin zum Beispiel in dieser Zeit in
kein Theater gegangen, in kein Kino. Ich hatte keinen Freund, da,
wenn mir jemand gefallen hätte, ich ihn ja nicht vorher hätte
fragen können, "Sag mal, bist du Antifaschist?" Das geht
ja nicht. Aber irgendwen konnte ich mir als Freund nicht erlauben,
denn ich hätte ja nicht gewusst, wie er politisch eingestellt ist.
Wenn ich ihm nichts von meiner Arbeit gesagt hätte, hätte er ja
gemerkt, wenn ich nachts verschwinde, Flugblätter verteilen oder
schreiben. Das hätte ihn doch irgendwie veranlasst zu fragen:
"Sag mal, was machst du denn da?" Also habe ich es lieber
sein lassen.
Was Jugendfreuden anbetrifft, komme ich wieder auf die
Sowjetunion zurück. Da waren wir jung. Da tanzten wir, gingen ins
Kino, ins Theater und auch trinken. Wir feierten den 1. Mai drei
Tage lang. Es war wunderbar. Als ich dann wieder in den Widerstand
zurückkam, war er eigentlich noch härter. Der Widerstand von
Amsterdam her war mit noch viel mehr Vorsichtsmaßnahmen begleitet,
als in der legalen Zeit in Düsseldorf. Denn jetzt war ich ja
illegal, wenn ich nach Deutschland reiste. Abgesehen davon - das
habe ich allerdings erst bei der Gestapo erfahren - hing auf jedem
Polizeikommissariat mein Steckbrief. Ich wurde also in Deutschland
gesucht. Vielleicht wär ich dann gar nicht wieder zurückgefahren.
Aber da ich das nicht wusste, bin ich also unbefangen gefahren.
Die Regeln, die wir für unsere Arbeit als Instrukteure hatten,
hören sich heute sehr hart an, waren aber notwendig. Wenn ich
zurückkam aus Bielefeld, dann war der verantwortliche Genosse immer
in großer Sorge, ob ich auch heil und gesund bin. Es bestand
natürlich zwischen der Leitung und uns ein ausgesprochen großes
Vertrauensverhältnis. Das musste sein, sonst kann man ja niemand in
solch eine gefährliche Arbeit schicken. Aber die Bedingungen, unter
denen wir lebten waren nicht leicht. Und konnten sie auch nicht
sein. Ich muss sagen: Ich möchte diese Zeit auf keinen Fall missen.
Als ich in Amsterdam anfing zu arbeiten bin ich sozusagen
übergelaufen vor lauter Bedürfnis, möglichst viel zu tun und
anzubringen von meinem Wissen. Das möchte ich niemals missen. Wobei
natürlich aus der Erfahrung vorher manches geblieben ist. Ich habe
auch in Amsterdam an den Tagen, an denen wir nicht ins Land fuhren,
eisern meine Gymnastik gemacht, jeden Morgen. Also ich hatte meine
Selbstdisziplin auch da noch, manchmal sogar überzogen. Aber ich
war es so gewohnt. Ich mache manche Dinge auch heute noch immer.
Also ich würde sagen, wenn ich in der Widerstandszeit von
'33-'35 nicht in einer solchen Gruppe gewesen wäre, hätte ich den
Widerstand gar nicht leisten können. Erstens mal hatten wir
zueinander unbedingtes Vertrauen. Wir halfen uns gegenseitig, wir
stützten uns, das war meine Familie. Die Solidarität. Wir haben
das Wort nie gebraucht, aber sie war vorhanden. Und dann die
Solidarität, als ich beim Wagner im Verhör war, und mir meine Anna
Bachmann und noch eine ganze Reihe gegenübergestellt wurden, da hab
ich Solidarität gespürt. Die haben mich alle geschützt. Es hat
kein einziger von denen ausgesagt. Und in Amsterdam war die
Solidarität wegen der Härte des Zustandes noch größer. Da konnte
ich unbedingt damit rechnen, dass die Verantwortlichen für die
Kader unbedingt alles taten, was notwendig war, um ihre und meine
Arbeit zu gestalten. Ohne diese Solidarität hätten wenige von uns
diesen Widerstand machen können. Du kennst doch das Buch
"Jeder stirbt für sich allein", so geht es nicht. Und das
kann man auch heute nicht.
? Der Antifaschismus - sowohl begrifflich als auch inhaltlich
- steht in der BRD mittlerweile ganz offen zur Disposition.
Was verstehst du unter Antifaschismus und was bedeutet er für dich?
! Also für mich hat der Antifaschismus eine sehr große
Bedeutung. Ich habe allerdings in der Zwischenzeit einiges gelernt
in Bezug auf ihn. Als wir angefangen haben als VVN, da waren wir ja
noch kein Bund der Antifaschisten, da waren es hauptsächlich
Widerstandskämpfer, die sich da versammelt haben und die VVN
gegründet haben. Es hat dann, als wir uns erweiterten zum Bund der
Antifaschisten, innerhalb unserer Organisation heftige Diskussionen
darüber gegeben. Es gab bei manchem alten Kamerad, er brauchte kein
Genosse zu sein, es waren ja auch Sozialdemokraten bei uns, so ein
bestimmtes Elitedenken. Er war Widerstandskämpfer gewesen und die
Jungen, die zu uns kamen, hatten seiner Meinung nach von Tuten und
Blasen keine Ahnung. Oder zum Beispiel eine Diskussion, in der ich
sehr viel gelernt habe: Es gibt diese Dimitroffsche Definition
"Was ist Faschismus". Ich bin der Meinung, dass diese
Definition richtig ist, um den antifaschistischen Kampf zu führen.
Das führt dazu, dass ich auch der Meinung bin, dass es richtig ist
zu sagen, man kann Faschismus nicht vom Kapitalismus trennen. Ich
weiß das aus meiner Erfahrung. Ich sage das auch, und das steht mir
zu.
Aber von jedem Menschen im antifaschistischen Kampf erwarten,
dass er auch den antikapitalistischen Kampf anerkennt, das kann ich
nicht, das habe ich in der Zwischenzeit gelernt. Also ich habe heute
eine weitaus größere Breite für den antifaschistischen Kampf.
Dazu gehört Kampf für Gerechtigkeit, Humanität,
Freiheitsbestreben und natürlich der Kampf gegen den Neofaschismus,
der ist das Wichtigste. Aber zur Breite gehört eben, dass man auch
alle die Motive zulässt, die den einen oder den andern zum
antifaschistischen Kampf bringen. Das kann christlich,
kommunistisch, sozialdemokratisch, gewerkschaftlich oder autonom
sein. Wir haben hier in Düsseldorf das "Redhouse". Dort
trifft sich ein großer Teil der linken Jugend. Die laden mich ein,
ich fühle mich da wohl. Ich bin nicht angesehen, so was will ich
gar nicht, auch keine Autorität sein. Aber es gibt einen
Gleichklang in dem, was wir erreichen wollen. Dabei hat der eine
eine ganz andere Vorstellung vom Sozialismus und der andere eine
Vorstellung vom Kapitalismus, kann gut möglich sein, aber das
schalten wir aus. Ich finde das wunderbar mit den jungen Leuten.
? In der BRD tritt heute mehr denn je der Antisemitismus und
der Rassismus offen zu Tage. Abgesehen davon ist der
Rechtsextremismus eine nicht zu unterschätzende Kraft in der BRD
geworden und die Rechtsentwicklung der gesamten BRD geht in großen
Schritten voran.
Wie beurteilst du diese Entwicklung, und mit welchen Gefühlen
betrachtest du sie?
! Als die ganzen Vorfälle - Rostock, Mölln und Solingen
- waren, da habe ich große Sorge gehabt, weil auch Teile der
Bevölkerung nicht dagegen waren. Ich war der Meinung, dass die
Lichterdemonstrationen, die wir in Düsseldorf gemacht haben, im
Grunde genommen nur eine Ablenkung waren von dem wirklichen Problem.
Die sind sich toll vorgekommen, die da marschiert sind mit ihren
Kerzchen und Lampen. Aber das war doch kein antifaschistischer Kampf
zur Verhinderung oder zur Veränderung dieser Situation! Die
Neonazis brauchen doch im Grunde genommen gar keine eigene Partei.
Ich sehe das jedenfalls so. Das heißt nicht, dass sie nicht
bestrebt wären, eine einheitliche Partei zu bilden und man ihnen im
Grunde genommen doch die Möglichkeit dazu gibt. Da wird zum
Beispiel die FAP verboten - und was geschieht? Die stehen am
nächsten Tag unter einer andern Bezeichnung wieder da. Weil
nämlich das Verbot wohl ausgesprochen, aber nicht durchgesetzt
wird.
Letztendlich liegt die Ursache darin, was nach 1945 hier bei uns
versäumt worden ist. Dies könnte doch überhaupt nicht passieren,
wenn wirklich antifaschistisches Gedankengut vermittelt worden
wäre. Das regt mich schrecklich auf. Und deshalb bemühe ich mich
wenigstens den Schülern zu vermitteln, was sie heute tun müssten.
Um sie dagegen zu wappnen das alles zu glauben, was ihnen erzählt
wird. Ich denke mir, das ist auch mit einer der wichtigsten Punkte,
die Leute zum kritischen Denken zu bewegen. Ich bin sicher, dass
nicht jeder mit einem anderen Bewusstsein herausgeht aus solch einer
Unterhaltung, aber ich bin davon fest überzeugt, dass irgendwo ein
Gedanke hängen bleibt, der dann bei Gelegenheit wieder zum
Vorschein kommt. Wobei bei mir dazu kommt, dass ich natürlich mich
sehr bemühe, das auch mit entsprechender Überzeugung zu
vermitteln. Ich gehe von dem Standpunkt aus: Wer selbst nicht
glüht, kann andere nicht entzünden.
Liebe Maria, ich bedanke mich ganz herzlich für dieses sehr
persönliche und sehr ausführliche Interview. Ich wünsche dir
alles Gute und noch ganz viele Jahre bei bester Gesundheit.
© Christoph Leclaire
Das Interview mit Maria Wachter führte Christoph Leclaire am
11. Juli 1996 im Rahmen der von der Vereinigung der Verfolgten des
Naziregimes - Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten
(VVN-BdA) NRW in Münster organisierten Veranstaltungsreihe
"ZeitzeugInnengespräche - Wider das Vergessen". Es
handelt sich hierbei um eine zur besseren Lesbarkeit leicht
überarbeitete und gekürzte Version des Originalinterviews. Es
wurde zuerst veröffentlicht im "Semesterspiegel" (Nr.
296, November 1996), der Zeitschrift der Studierenden der
Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Für diese
Veröffentlichung wurde es der neuen Rechtschreibung angepasst.
Maria Wachter lebt heute in Düsseldorf und ist
Ehrenvorsitzende der VVN-BdA NRW sowie Ehrenmitglied des
Fördervereins der Mahn- und Gedenkstätte Düsseldorf.
Christoph Leclaire ist Historiker aus Münster und Mitglied
der VVN-BdA Münster sowie der Lagergemeinschaft
Buchenwald-Dora/Freundeskreis e.V.
Zum Thema "Frauen und Widerstand": Wolfgang Benz und
Barbara Distel (Hrsg,): Frauen. Verfolgung und Widerstand (=
Dachauer Hefte, Nr. 3), München 1993; Strobl, Ingrid: Die Angst kam
erst danach. Jüdische Frauen im Widerstand 1939-1945, Frankfurt am
Main 1998.
Siehe dazu auch den Beitrag "Frauen im antifaschistischen
Widerstand im Dritten Reich" von Konstanze Hanitzsch auf dem
Informationsportal shoa.de:
http://www.shoa.de/drittes-reich/widerstand-resistenz-und-dissens/
198-frauen-im-antifaschistischen-widerstand-im-dritten-reich.html
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