20.04.2010
Was ist Faschismus? Was ist Islamfeindlichkeit?
Gedenkveranstaltung in der
Wenzelnbergschlucht am 18. April 2010, 11 Uhr
Prof. Dr. Jörg Becker, ehem. DGB-Kreisvorsitzender
in Solingen, hat im Auftrag der VVN-BdA auf der Gedenkveranstaltung
in der Wenzelnbergschlucht am 18. April 2010 eine Ansprache
gehalten. Er sagte u.a., er wolle vor allem über „Was ist
Faschismus? Was ist Islamfeindlichkeit?“ sprechen und führte aus:
„Gelingt es einem politischen System nicht mehr, die Menschen
ökonomisch in den Griff zu bekommen, müssen dann despotische
Mittel her? Stehen wir also kurz vor einem neuen Faschismus? Ist
genau dieses Moment der politische Stellenwert beim gegenwärtig
massiven Abbau bürgerlicher Freiheitsrechte, sei es beim
Datenschutz, der Online-Rasterfahndung oder der Telefonüberwachung?“
Sehr geehrte Damen und Herren,
zu Beginn meiner Ausführungen möchte ich mich bei der VVN-BdA,
der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der
Antifaschisten für das Vertrauen bedanken, das sie mir - ohne dass
ich Mitglied dieser Organisation bin - entgegenbringen, indem sie
mir ihren Programmpunkt, ihre Möglichkeit eine warnende Stimme zu
sein, an mich abgetreten haben.
Und gleichzeitig bitte ich um Verständnis, dass die eine oder
andere Bemerkung von mir nicht der VVN zum Nachteil gereichen möge.
"Den Toten zum Gedenken - den Lebenden zur Mahnung!" -
dies steht hier zum Gedenken an die 71 Häftlinge, die hier kurz vor
der Befreiung vom Faschismus im April 1945 ermordet wurden.
Gedenken und Mahnung sind mir eine moralisch-politische
Verpflichtung zu Ihnen zu sprechen, mich einerseits darüber zu
schämen, dass ich in Solingen in einer Stadt wohne und mich ihr
zugehörig fühle, in der vor nur 65 Jahren derartige Verbrechen
gegen die Menschlichkeit durchgeführt werden konnten, mich
andererseits aber auch darüber zu freuen, dass ich gerade in dieser
Stadt Solingen wohne, die eine alte und tief verwurzelte
sozialistischen Arbeitertradition aufweist.
Ich will heute über drei Dinge zu Ihnen sprechen. Was ist
Faschismus? Was ist Islamfeindlichkeit? Was kann man gegen beides
tun?
Anrede.
Wenn ich mit dem Slogan anfange "Faschismus ist keine
Meinung, sondern ein Verbrechen" dann ist das weitaus mehr als
ein Slogan. Hinter diesem Satz steht vor allem und an erster Stelle
das millionenfache Leiden von Juden, Kommunisten, Sozialdemokraten,
Homosexuellen, Roma und Sinti, Zeugen Jehovas und
Kriegsdienstverweigerern, also den vielen, vielen KZ-Opfern. Dieses
Leiden und besonders der deutsche Holocaust in Auschwitz, Treblinka
oder Buchenwald sind mit keinem Wörtchen zu relativieren. Sie sind
schwerster Völkermord und grausamste Verbrechen gegen die
Menschlichkeit.
Faschismus ist also nicht nur unmoralisch, sondern zutiefst
rechtswidrig. Er widerspricht allen uns geläufigen und wichtigen
demokratischen Prinzipien von Rechtsstaatlichkeit, Menschen- und
Völkerrecht.
Faschismus als spezifisch deutsche Erfahrung ist außerdem
verknüpft mit Terror, Willkür und Millionen von Toten, mit
Obrigkeitsstaat, Befehl und Gehorsam und mit Angriffskrieg,
Imperialismus und kriegerischer Unterjochung von halb Europa.
Faschismus ist Verrat an allen aufklärerischen Idealen, sei es
Goethe, die deutsche Romantik oder der Marxismus; Faschismus war und
ist das Ende jeder Meinungs-, Versammlungs- und Religionsfreiheit;
Faschismus war und ist das Ende von internationaler,
interkultureller und grenzüberschreitender brüderlicher und
schwesterlicher Solidarität.
Im Kreis der Familie heißt Faschismus blinder Gehorsam
gegenüber dem Vater, Prügel als erlaubtes Erziehungsmittel, die
Untertanenrolle der Frau gegenüber dem Ehemann und eine äußerst
verklemmte, rigide und repressive Sexualmoral, meist sogar
Doppelmoral.
Anrede.
Die gegenwärtige Wirtschafts- und Finanzkrise hat uns alle
endlich wieder sensibel für große Grundsatzdiskussionen gemacht.
Endlich diskutieren auch solche Menschen, die dafür noch bis vor
kurzem taub und blind waren, wieder darüber was Kapitalismus ist.
Und spätestens hier muss man auch an den berühmten Ausspruch des
deutsch-jüdischen Philosophen Max Horkheimer denken, nämlich.
"Wer vom Kapitalismus nicht reden will, soll über den
Faschismus schweigen". Anders formuliert: Ist Faschismus die
notwendige Antwort auf die Krise des Kapitalismus? Gelingt es einem
politischen System nicht mehr, die Menschen ökonomisch in den Griff
zu bekommen, müssen dann despotische Mittel her? Stehen wir also
kurz vor einem neuen Faschismus? Ist genau dieses Moment der
politische Stellenwert beim gegenwärtig massiven Abbau
bürgerlicher Freiheitsrechte, sei es beim Datenschutz, der
Online-Rasterfahndung oder der Telefonüberwachung?
Mit gutem Recht werden daher die Bürger des Solinger Bündnisses
"Bunt statt Braun" am 1. Mai gegen die politischen
Zumutungen von NPD und pro NRW auf die Strasse gehen und
demonstrieren. Wir Gewerkschafter werden sehr lautstark und sehr
massiv Flagge zeigen, dass faschistische oder faschistoide Umtriebe
in Solingen nichts zu suchen haben.
Doch wenn es um NPD und pro NRW geht, dann muss man sich sehr
wohl darüber im Klaren sein, dass unsere Gesellschaft weder in den
20er Jahren noch heute von ihren Rändern her bedroht und aus den
Angeln gehoben wurde, sondern stets aus der Mitte. Mitten in unserer
gegenwärtigen ökonomischen Krise ist es wieder der Mittelstand,
der sich in seiner Existenz von oben und unten gleichzeitig bedroht
fühlt und sich genau deswegen radikalisiert.
Rufe nach "Endlich wieder mehr Ordnung", "Weg mit
den Alkis aus der Innenstadt", "Der Bremshey-Platz muss
wieder ein Schmuckstück werden", "Fleiß muss sich wieder
lohnen" und "Die kümmern sich nicht um ihre Kinder,
sondern produzieren dauernd neue Kopftuchmädchen": solche
unerträglichen Beiträge kommen nicht von Arbeitslosen, sie kommen
nicht von Hartz IV-Empfängern, sie kommen nicht vom herab
gesunkenen Proletariat, nein, sie kommen aus der Mitte unserer
Gesellschaft und sie zündeln höchst gefährlich mit Vorurteilen
und Rassismus. Es ist diese rechtslastige, populistische und dumpfe
Stimmungsmache, die von der Mitte kommt, die die Ränder
radikalisiert und ohne die weder NPD noch pro NRW erfolgreich sein
könnten.
Anrede.
Und nun muss ich mich an dieser Stelle auch deutlich und scharf
von jeglicher Gleichsetzung zwischen Rechts- und Linksradikalismus,
zwischen den Nazis und der DDR abgrenzen. Solche Vergleiche sind
zwar in aller Munde, sie sind aber dennoch geschichts- und
strukturblind, dumm und hochgradig ideologisch. Die DDR war ganz
sicherlich keine Demokratie, aber diesen Staat kann man aus drei
Gründen nicht mit dem Dritten Reich gleichsetzen. 1. Die DDR hat
keinen Krieg angefangen. 2. In der DDR gab es keine KZs. 3. Und im
Gegensatz zu Nazi-Deutschland, dessen politisches Verhalten aus sich
selbst heraus erklärt werden kann, ist jedes Verhalten der DDR nur
in einer gleichzeitigen Analyse des Verhaltens der damaligen
Sowjetunion zu verstehen.
Ich kann deswegen nur wiederholen: "Faschismus ist keine
Meinung, sondern ein Verbrechen".
Anrede.
Ich komme damit zu dem zweiten Punkt meiner Rede, nämlich der
Islamfeindlichkeit. Und um was es hier geht, möchte ich Ihnen mir
zwei Zitaten verdeutlichen. Da behauptet zum einen jemand, dass
Muslime "hysterische Glaubenstiere" seien und da macht zum
anderen eine Politikerin folgenden Vorschlag: "Wir sollten im
Stadtpark ein Tierbordell errichten, damit die muslimischen Männer
dorthin gehen können und sich nicht an den Mädchen im Stadtpark
vergreifen." Das erste Zitat stammt von Ulla Unseld-Berkéwicz,
Inhaberin des Suhrkamp-Verlages und damit eine der kulturpolitisch
einflussreichsten Linksintellektuellen in diesem Land und das zweite
Zitat stammt von Susanne Winter, einer österreichischen Politikerin
der rechtsradikalen Partei FPÖ. Man sieht: Islam-Bashing ist sowohl
bei Linken als auch bei Rechten salonfähig!
Anrede.
Mich erinnern solche unerträglichen und durch keine Begründung
zu rechtfertigenden Attacken an den evangelischen Pastor Martin
Niemöller (mit ich dem als zehnjähriger Junge übrigens mehrfach
sprechen konnte, da er Nachbar unserer Wohnung in Wiesbaden war und
dessen warme und mahnende Worte Teil meines Politisierungsprozesses
sind.) Warum muss ich gerade an ihn denken, einen Konservativen, der
sich im Lauf seines Lebens in einen Linken verwandelt hatte und der
von 1937 bis 1945 in den KSz Sachsenhausen und Dachau einsaß?
Einfach deswegen, weil seine folgenden Gedichtzeilen auch für
Muslime gelten:
"Als die Nazis die Kommunisten holten,
habe ich geschwiegen,
ich war ja kein Kommunist.
Als sie die Sozialdemokraten einsperrten,
habe ich geschwiegen,
ich war ja kein Sozialdemokrat.
Als sie die Gewerkschafter holten,
habe ich geschwiegen,
ich war kein Gewerkschafter."
Und an dieser Stelle erlaube ich mir folgende Ergänzung:
"Als sie die Muslime verhöhnten, beschimpften und
diskriminierten, habe ich geschwiegen, denn ich bin modern und
Religion ist sowieso Opium für's Volk!"
Und Martin Niemöller beendete sein Nachdenken mit dem folgenden
Dreizeiler:
"Als sie mich holten,
gab es keinen mehr,
der protestieren konnte."
Was passiert gegenwärtig in unserem Land, dass wichtige Leute -
so genannte Public Opinion Leader, so genannte Vorbilder und so
genannte Intellektuelle - derartig Menschen verachtende Sätze
äußern dürfen, ohne dass die Staatsanwaltschaft wegen
Volksverhetzung aktiv wird und ohne dass in der gesamten
Öffentlichkeit ein Schrei der moralischen Empörung laut wird?
Haben wir denn immer noch nichts aus der Geschichte gelernt, so als
ob wir nicht wüssten, dass Hassreden nur allzu schnell in Hasstaten
hinüber gleiten können? Müssten wir uns nicht jetzt und sofort
schützend vor Muslime stellen, ihnen unsere Solidarität anbieten
und jedem, der das anders sieht, sehr laut entgegen rufen "MIT
MIR NICHT?" Warum entsolidarisiert sich unsere Gesellschaft
immer mehr?
Anrede.
Ich komme mit dieser Frage zum dritten und letzten Teil meiner
Rede, also "Den Lebenden zur Mahnung!" und frage, was man
gegen faschistische Tendenzen und Islamfeindlichkeit tun kann?
Ich bin froh, dass wir angesichts von gleich zwei Menschen
verachtenden Großveranstaltungen am 1. Mai in Solingen ein
kräftiges und sehr breites Bündnis "Bunt statt Braun"
dagegen zusammen bekommen haben. Lassen Sie uns an diesem Tag sowohl
die NPD als auch pro NRW kräftig in die Schranken verweisen.
Noch ist nur wenigen Menschen bekannt, dass der DGB Solingen am
1. Mai 2007 bundesweit etwas einmalig Neues veranstaltet hat,
nämlich eine gemeinsame Gebetsandacht zum Tag der Arbeit zusammen
mit der Moschee des Türkisch-Islamischen Kulturvereins in der
Kasernenstrasse. Diese Andacht findet auch an diesem 1. Mai um 9:30
Uhr statt. Nehmen Sie teil - im Sinne von Martin Niemöllers Gedicht
sind wir alle Muslime!
Nehmen Sie außerdem am 1. Mai-Gottesdienst von DGB und
christlichen Kirchen in der Lutherkirche um 9:00 Uhr teil. Predigt
und Lieder stehen unter dem Motto "Bunt statt Braun", denn
im dritten Buch Mose heißt es: "Der Fremde, der sich bei Euch
aufhält, soll euch wie ein Einheimischer gelten."
Und schließlich: Nehmen Sie bitte alle an unserer diesjährigen
traditionellen Maikundgebung teil, nehmen Sie bitte alle teil, denn
wir wollen und müssen einer bundesweit öffentlichen
Medienaufmerksamkeit für diesen Tag sehr eindeutig und machtvoll
demonstrieren, dass es ein buntes, kräftiges, vitales, lustiges und
sozial engagiertes Solingen gibt und eben nicht ein Solingen von
rechten Dumpfbacken.
Die eigentliche Ursache für Islam-, Fremden- und
Ausländerfeindlichkeit gründet freilich weniger in irgendwelchen
Feindbildern und Vorurteilen, sondern darin, dass unsere
Gesellschaft seit rund 15 Jahren immer ungerechter wird und dass
diese soziale und ökonomische Dauer- und Großkrise viele Menschen
nach rechts in eine unheilvolle Welt von Angst, Wut, Gewalt und
Stumpfsinn abdriften lässt. Gerade einem Gewerkschafter ist genau
dieser Zusammenhang sehr wohl bewusst! Aber das ist ein anderes
Thema, über das ich heute nicht reden wollte.
"Den Lebenden zur Mahnung!" möchte ich meine Rede mit
einigen Zeilen von Kurt Tucholsky beschließen: "Denn nichts
ist schwerer und nichts erfordert mehr Charakter, als sich im
offenen Gegensatz zu seiner Zeit zu befinden und laut zu sagen:
NEIN!"
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit!
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