25.11.09
Das Phänomen
Der unvergessene Hanns Dieter
Hüsch (1925 – 2005) spricht uns ins Gewissen
Da wir alle als VVN-BdA dieses Gedicht für höchst gelungen
halten, versuchen wir uns auf unserer Website in der
Veröffentlichung von Prosa. Normalerweise sind wir ja eher für
Hardfacts und Meinungen...
Was ist das für ein Phänomen
Fast kaum zu hören kaum zu sehn
Ganz früh schon fängt es in uns an
Das ist das Raffinierte dran
Als Kind hat man’s noch nicht gefühlt
Hat noch mit allen schön gespielt
Das Dreirad hat man sich geteilt
Und niemand hat deshalb geheult
Doch dann hieß es von oben her
Mit dem da spielst du jetzt nicht mehr
Das möcht ich nicht noch einmal sehn
Was ist das für ein Phänomen
Und ist man größer macht man’s auch
Das scheint ein alter Menschenbrauch
Nur weil ein andrer anders spricht
Und hat ein anderes Gesicht
Und wenn man’s noch so harmlos meint
Das ist das Anfangsbild vom Feind
Er passt mir nicht er liegt mir nicht
Das ist das nicht und find ihn schlicht
Geschmacklos und hat keinen Grips
Und außerdem sein bunter Schlips
Dann setzt sich in Bewegung leis’
Der Hochmut und der Teufelskreis
Und sagt man was dagegen mal
Dann heißt’s: Wer ist denn hier normal
Ich oder er du oder ich
Ich find den Typen widerlich
Und wenn du einen Penner siehst
Der sich sein Brot vom Dreck aufliest
Dann sagt ein Mann zu seiner Frau
Guck dir den Schmierfink an die Sau
Verwahrlost bis zum dorthinaus
Ja früher warf man die gleich raus
Und heute muss ich sie ernähr’n
Und unsereins darf sich nicht wehr’n
Und auch die Gastarbeiterpest
Der letzte Rest vom Menschenrest
Die sollt man alle das tät gut
Spießruten laufen lassen bis auf’s Blut
Das hamwer doch schon mal gehört
Da hat man die gleich streng verhört
Verfolgt gehetzt und für und für
Ins Lager reingepfercht und hier
Hat man sie dann erschlagen all
Die Kinder mal auf jeden Fall
Die hatten keinem was getan
Was ist das für ein Größenwahn
Das lodert auf im Handumdrehn
Und ist auf einmal Weltgeschehn
Denn plötzlich steht an jedem Haus
Die Juden und Zigeuner raus
Nur weil kein Mensch derselbe ist
Und weiß und schwarz und gelbe ist
Wird er verbrannt ob Frau ob Mann
Und das fängt schon von klein auf an
Und wenn ihr heute Dreirad fahrt
Ihr Sterblichen noch klein und zart
Es ist doch eure schönste Zeit
voll Phantasie und Kindlichkeit
Lasst keinen kommen der da sagt
Dass ihm dein Spielfreund nicht behagt
Dann stellt euch vor das Türkenkind
dass ihm kein Leids und Tränen sind
Dann nehmt euch alle an die Hand
Und nehmt auch den der nicht erkannt
Dass früh schon in uns allen brennt
Das was man den Faschismus nennt
Nur wenn wir eins sind überall
Dann gibt es keinen neuen Fall
Von Auschwitz bis nach Buchenwald
Und wer’s nicht spürt der merkt es bald
Nur wenn wir in uns alle sehn -
Besiegen wir das Phänomen
Nur wenn wir alle in uns sind -
Fliegt keine Asche mehr im Wind
Hanns Dieter Hüsch
Veröffentlicht am 09. Dezember 2005
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