28.10.09
Neue Regierung mit skandalösen nazifreundlichen
„Extremismus“-Konzepten
VVN-BdA Landessprecher Ulrich
Sander bei der Ausstellungseröffnung „Neofaschismus in
Deutschland“ in der Essener VHS - Endlich die NRW-Verfassung ernst
nehmen
Einführung von Ulrich Sander, Landessprecher der VVN-BdA, zur
Ausstellungseröffnung am 26. 10. 2009 in der Volkshochschule Essen
„Neofaschismus in Deutschland“
Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Freundinnen und Freunde,
ich danke für die Gelegenheit, zur Ausstellungseröffnung „Neofaschismus
in Deutschland“ zu sprechen. Es seien mir einige aktuelle
Bemerkungen gestattet.
Wenn die NPD bei den vergangenen Wahlen nicht die von ihr
gewünschten Ergebnisse erreicht hat, so liegt es vor allem am
gemeinsamen Handeln von Gewerkschaftern, Kommunalverantwortlichen
und Bürgerinitiativen am Ort, an der Aufklärungsarbeit mit
Ausstellungen wie dieser und am Wirken von Zeitzeugen etwa in
Schulen. Doch die NPD baut ihre Strukturen aus und wird die
FreienNationalisten und die verschiedenen Kameradschaften weiter
unterstützen. Bezahlt wird dies zum Teil durch
Wahlkampfkostenerstattung in Millionenhöhe. Es gab
besorgniserregende örtliche Erfolge der NPD und deren Tarngruppen
bei den Kommunalwahlen, und damit werden die Nazigruppen ihren
Einfluss ausbauen. Und solange sie nicht verboten sind, werden sie
ihre menschenfeindliche, rassistische und antisemitische Politik mit
Hilfe unserer Steuergelder praktizieren – auch mit Gewalt.
Als die Überlebenden des Naziterrors, die Gründungsmitglieder
der VVN-BdA einst von der Gestapo abgeholt wurden, gab es niemanden,
der ihnen geholfen hätte. Es gab keine Kraft, die ihre Deportation
und Einkerkerung verhindert hat. Und viele haben zugeschaut und
geschwiegen als die Sozialdemokraten, Kommunisten, Gewerkschafter
aus ihren Wohnungen gezerrt und in die Konzentrationslager
verschleppt wurden.
Heute haben wir eine andere gesellschaftliche Situation, um dem
Vordringen des Neonazismus zu begegnen. Wir haben noch demokratische
Rechte. Unsere Verfassung fordert uns zum Handeln auf. Dort heißt
es im Artikel 20 Absatz 4:„Gegen jeden, der es unternimmt, diese
Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum
Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist“. Konkret
heißt das, und das sage ich als jemand, der sich dem Vorbild
unserer antifaschistischen Eltern und Verwandten verpflichtet weiß:
Solange Neonazis auftreten können wann und wo sie wollen, so lange
Naziparteien wie die NPD oder die DVU nicht verboten werden, müssen
wir uns wehren.
Als ich kürzlich im Rahmen unserer Sammlung von Stellungnahmen
für ein NPD-Verbot die eingegangenen Karten durchsah, fand ich die
Meinung des 17jährigen Pitt aus Dortmund: „Ich kann nicht
verstehen, wie man für die NPD sein kann. Kann mir mal einer
erklären, was diejenigen Politiker wollen, die nicht für das
NPD-Verbot sind? Was haben die mit uns vor?“
Das fragte ich mich auch, als ich las, dass die Koalitionspartner
von Union und FDP jetzt den gesellschaftlichen Konsens gegen
Rechtsextremismus aufgekündigt haben. Nach Pressemeldungen aus den
Koalitionsverhandlungen wurde bekannt, dass die bisher zur
Bekämpfung des Rechtsextremismus aufgewendeten Mittel auch zur
Bekämpfung von so genanntem Linksextremismus und Islamismus
verwendet werden sollen. Union und FDP bagatellisieren mit ihrem
skandalösen Beschluss die Gefahr, die vom gewalttätigen
Rechtsextremismus in Deutschland ausgeht. Die Koalition ignoriert,
dass seit 1993 141 Menschen Opfer rechter und rassistischer Gewalt
geworden sind. Sie bagatellisiert die von Jahr zu Jahr steigenden
Zahlen von gewalttätigen Angriffen durch Rechtsextreme. Noch 2001
haben alle im Bundestag vertretenen Parteien gemeinsam beschlossen,
stärker gegen Rechtsextremismus, Rassismus, Antisemitismus und
Gewalt vorgehen zu wollen. Ergebnis waren unter anderem die
Programme für Vielfalt und Toleranz, die Modellprojekte beim Kampf
gegen Rechtsextremismus unterstützt haben. Damit dürfte nun mit
der Koalitionsvereinbarung Schluss sein. Es zeichnet sich eine
Rückkehr zum Kalten Krieg ab, in dem die alten Nazis vom
Antikommunismus profitierten. So werden nun die neuen Nazis davon
profitieren, dass sich die Regierung unverantwortlich verhält.
Und damit wird die Notwendigkeit unserer Ausstellung
unterstrichen.
Diese Ausstellung wendet sich auch Tabuthemen zu, so der Grauzone
zwischen Konservatismus und Neofaschismus, so der Beziehung zwischen
Nazismus und Militarismus und kriegerischer Gewalt.
so der Ökonomie des Faschismus, die nicht von Antikapitalismus
gekennzeichnet war und ist – trotz aller sozialen Demagogie.
Der neue Beschluss der Koalitionäre gegen „Extreme“ gibt den
Verfassungsschutzämtern von Bayern und Baden-Württemberg Auftrieb,
die den Antifaschismus großer Teile des deutschen Widerstandes
nachträglich kriminalisieren. In Bayerischen
Verfassungsschutzberichten etwa wird die VVN-BdA als ‚linksextremistisch
beeinflusste Organisation’ bezeichnet. Diese Einschätzung ist
eine Diffamierung und missachtet völlig Ziele und Wirken der
VVN-BdA.
Doch die VVN-BdA ist eine Organisation, in der sich Menschen für
Demokratie und Frieden engagieren. Die Etikettierung der VVN als ‚linksextremistisch’
ist vor allem auch eine persönliche Diffamierung der älteren
Mitglieder der VVN, die unter dem Naziterror in Konzentrationslagern
leiden mussten: Diejenigen, die sich damals den Nazis
entgegenstellten und noch heute in hohem Alter die Jugend aufklären
möchten, werden letztlich als ‚Extremisten’ auf die gleiche
Stufe wie die Neonazis gestellt. So wird der VVN wahrheitswidrig
unterstellt, sie orientiere sich an der ‚kommunistischen
Dimitroff-Theorie’, wonach die ‚Ursache für Faschismus
zwangsläufig im Kapitalismus und in der bürgerlichen
Gesellschaftsordnung zu suchen’ sei. Abgesehen von der recht
vereinfachten Beschreibung dieser Theorie: Die VVN-BdA hat immer
Wert darauf gelegt, keine bestimmte Auffassung über Ursachen von
Faschismus und Nationalsozialismus zu vertreten oder verbindlich
vorzuschreiben. Aufgrund dieses Selbstverständnisses gibt es in der
VVN deshalb bis heute ein breites Spektrum an Anschauungen über
Ursachen des Faschismus, darunter eben auch die Auffassung von einem
engen Zusammenhang von Faschismus und Kapitalismus. Im Übrigen
bleibt völlig unverständlich, wieso letztere Deutung des
Faschismus verfassungsfeindlich sein soll; auch erste Erklärungen
der CDU aus ihrem Ahlener Programm und der CSU im Nachkriegsbayern
oder auch manche Bestimmungen der Landesverfassungen haben in diesem
Verständnis ihre Wurzeln. Verwiesen sei hier nur auf den Bericht
des NS-Verfolgten und CSU-Politikers Alois Schlögl im
vorbereitenden Verfassungsausschuss zum Kapitel Wirtschaft am
13.9.1946, wo er u.a. über den Nationalsozialismus ausführte: ‚In
den zwölf Jahren feierte der Privatkapitalismus wahre Triumphe. Er
kam durch Kapitalisten im wahrsten Sinne des Wortes zur Macht’.
Ist es verfassungsfeindlich, wenn neben vielen anderen
Auffassungen in der VVN heute auch solche Positionen vertreten
werden?
Auch die Landesverfassung von NRW besagt – die Lehren aus Krieg
und Faschismus ziehend: „Zusammenschlüsse, die ihre
wirtschaftliche Macht missbrauchen, sind zu verbieten.” Solche
Zusammenschlüsse waren die geheime Ruhrlade der Industrie und die
Institution „Adolf Hitler Spende der Wirtschaft“, die ihren Sitz
hier in Essen hatte, - sie wurde von Krupp und dem späteren hohen
FDP-Mann Ernst Achenbach geführt.
Weiter gibt es den gültigen Mitbestimmungsartikel 26 in jener
Verfassung: Es „wird das Recht der Arbeitnehmer auf
gleichberechtigte Mitbestimmung bei der Gestaltung der
wirtschaftlichen und sozialen Ordnung“ (nicht nur einzelner
Betriebe) „anerkannt und gewährleistet.” In Artikel 24 heißt
es, dass „im Mittelpunkt des Wirtschaftslebens ... das Wohl des
Menschen” steht; der „Schutz der Arbeitskraft hat Vorrang vor
dem Schutz materiellen Besitzes”. Wenn jetzt linke Leute in NRW
Programmaussagen vornehmen, die genau diese antifaschistischen
Bestimmungen beinhalten, dann bezeichnet die Landesregierung dies
groteskerweise als verfassungsfeindlich. Ich finde, Regierende
handeln gegen die Verfassung und gegen die Lehren aus der aktuellen
Wirtschaftskrise, wenn sie demokratische Kapitalismuskritik und
aktiven Antifaschismus diskriminieren.
Unsere Ausstellung zum Neofaschismus gibt ein erschreckendes Bild
der Gefahr, mit der wir es zu tun haben, aber auch einen starken
Eindruck von den Möglichkeiten, unsere Demokratie zu verteidigen.
Es geht um beides – Erkennen und Handeln. Wir dürfen uns nicht
hilflos der Entwicklung nach rechts aussetzen. Machen wir alle von
den demokratischen Handlungsmöglichkeiten gebrauch. Ich wünsche
den Veranstaltern dieser Ausstellung viel Erfolg.
Anmerkung: Als Literatur für diese Rede wurden u. a. die
Bayernseite der „antifa“, Magazin der VVN-BdA, November-Dezember
2009 und eine Presseerklärung von MdB Ulla Jelpke verwertet.
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