24.08.09
Vor 70 Jahren: 23. August 1939 - Der
deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt
Kurt Bachmann zum Streit um den
deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt
Aus Anlass des 70. Jahrestages des Überfalls Hitlerdeutschlands
auf Polen, und damit des Beginns des 2. Weltkrieges, wird auch
wieder der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt vom August und
September 1939 thematisiert. Einblick in den damaligen heftigen
Diskurs unter Linken und Antifaschisten gibt ein Aufsatz von Kurt
Bachmann aus dem Jahr 1988. In einem Sammelband veröffentlichte die
VVN-BdA den Aufsatz zum Streit um den deutsch-sowjetischen
Nichtangriffsvertrag im Jahr 1999 erneut. Kurt Bachmann (1909 -
1997) war Widerstandskämpfer und NS-Opfer, er überlebte mehrere
KZ, war nach 1945 Journalist, Vorsitzender der DKP und
Präsidiumsmitglied der VVN-BdA.
aus:
Kurt Bachmann - Wir müssen Vorkämpfer der Menschenrechte sein -
Reden und Schriften, Pahl Rugenstein Verlag, Bonn 1999
Streit um den deutsch-sowjetischen
Nichtangriffsvertrag
"Kontroverse Diskussionen bis
zu Handgreiflichkeiten"
Wohl nicht wachsam genug, konnte ich in den ersten Septembertagen
1939 in Albi/ Südfrankreich verhaftet werden. Ein von Soldaten
bewachter Schulhof war erster Sammelpunkt für Deutsche und
Österreicher, Kommunisten wie Faschisten und andere. Ich wurde bei
Ankunft bestürmt, meine Meinung zum frisch abgeschlossenen
Nichtangriffspakt zu sagen. Die Meinungen prallten hart aufeinander.
Ich sagte damals, wenn auch mein Herz blutet, so sagt mir mein
Verstand: Das ist erstens ein Vertrag zwischen Deutschland und der
Sowjetunion, aber ebenso zwischen den beiden Völkern. Zweitens:
Unser Volk muß alles tun, um diesen Vertrag und damit den Frieden
zu erhalten. Drittens: Das Hitler-Regime muß zugleich von uns
gestürzt werden. Das löste - wie überall - unter Kommunisten und
Andersdenkenden kontroverse Diskussionen aus, bis zu
Handgreiflichkeiten. Spanienkämpfer, darunter ein Kölner Genosse,
zogen mich aus der Menge heraus, waren interessiert, meine Meinung
und meine Quellen zu hören. Wir setzten dann die Diskussion
sachlich fort und die Verbindung zur Partei war für mich
hergestellt.
Die Vorgeschichte
Was war dem Nichtangriffspakt vorausgegangen? Meine Erkenntnis,
meine wichtigste und zuverlässigste Quelle an Informationen war
schon lange vor dem Faschismus der Moskauer Rundfunk, auch wenn ich
dort nicht alle Zusammenhänge, besonders jene Abläufe in der
Sowjetunion und in der KPdSU, selbst erfuhr. Ende Dezember 1933
hatte die Sowjetunion allen Staaten in Europa vorgeschlagen, ein
"System kollektiver Sicherheit" zu schaffen, also
Nazideutschland einbegriffen. Der Widerstand der Westmächte war
jedoch stärker. England und Frankreich betrieben eine Politik des
Gewährenlassens für den Angreifer. 1935, so erzählte ich, schloß
Großbritannien bereits mit Hitler-Deutschland ein Flottenabkommen.
Die Nazis konnten 35 Prozent des Umfangs der britischen Kriegsflotte
bauen. Die spanische Republik wurde durch die Westmächte
preisgegeben, Österreich von den Nazis besetzt; dem Münchner
Abkommen folgte die Zerschlagung des tschechischen Staates. Kurz,
die Westmächte hatten so versucht, die faschistische Eroberungslust
gegen die Sowjetunion zu lenken. Im Fernen Osten war die Sowjetunion
1939 zum zweitenmal japanischen militärischen Angriffen ausgesetzt.
Ihr drohte im Zusammenhang mit dem Antikominternpakt die Gefahr
eines Zweifrontenkrieges im Osten und Westen. Als England und
Frankreich das sowjetische Angebot zu einem militärischen Beistand
im August 1939 nach fünfmonatigen Verhandlungen ablehnten,
unterbreitete Ribbentrop der Sowjetunion einen 10jährigen
Nichtangriffsvertrag.
"Man sagt, der Abschluß des Nichtangriffspakts mit
Deutschland sei nicht die beste Entscheidung der Sowjetunion
gewesen. Das mag stimmen, wenn man nicht von der heutigen Realität,
sondern von gedanklichen Abstraktionen, herausgelöst aus dem
zeitlichen Kontext ausgeht. Auch unter den damaligen Bedingungen
stellte sich die Frage etwa so, wie in der Zeit des ›Brester
Friedens‹: Es ging um Sein oder Nichtsein … des Sozialismus auf
der Erde", stellte Michail Gorbatschow in seiner bedeutenden
Rede zum 70. Jahrestag der Oktoberrevolution fest (APN-Verlag 1987,
S. 30)
Die Folgen des Vertrages
Was waren damals schon erkennbare Folgen der sowjetischen Politik
des Nichtangriffspaktes? Die Sowjetunion gewann, so sagte ich
damals, eine kurze Atempause. Sie war nötig nicht nur, weil die
Rote Armee in Umrüstung war und überlegene Waffen erst noch in die
Produktion gehen mußten. Die Sowjetunion unter Stalins Führung
verhinderte mit dem Nichtangriffspakt den Zusammenschluß aller
imperialistischen Mächte gegen sich. Japan riskierte von da an
nicht mehr, gegen die Sowjetunion loszuschlagen, wie Sorge funkte.
Der Zweifrontenkrieg war gebannt. Die Münchner Politik der
Befriedung, die Absicht der Westmächte, Hitlers Aggression zuerst
gegen die Sowjetunion zu lenken, war mißlungen. Statt eines
Weltbündnisses aller imperialistischen Mächte gegen die
Sowjetunion entstand am 22. Juli 1941 die Antihitlerkoalition, das
militärische Bündnis von 50 kapitalistischen Staaten und 36
Völkern mit dem einen ersten sozialistischen Staat der Welt.
Der Nichtangriffspakt war, so habe ich es 1939 gesagt und davon
bin ich auch heute zutiefst überzeugt, weder unter den damaligen
Bedingungen noch aus heutiger Sicht ein Fehler, sondern kluge
Einsicht in das damalige Notwendige. Offen ist - und das bereitet
mir Sorge - die Politik Stalins vier Wochen nach dem
Nichtangriffspakt, bis zum Überfall Hitlers am 22. Juni 1941 auf
die Sowjetunion.
Dazu muß man wissen: Mittels Unterlagen, die die deutsche Abwehr
geliefert hatte, wurden 1936/37 die besten Heerführer der Roten
Armee diffamiert und dem Henker ausgeliefert. Eine bedeutende Anzahl
der erfahrensten Militärkader wurde nach falschen Anschuldigungen
1937 erschossen oder ging in die Gefängnisse. "Diese seit zwei
Jahren einsetzende Entwicklung" - Repressalien gegen die
höheren Kommandanten der Roten Armee - "kann uns nur
freuen", berichtete Hitlers Militärattache General Ernst
Köstring in Moskau am 19. 3. 1939 nach Berlin. (L. Besymenski,
Sonderakte Barbarossa, Stuttgart 1969, S.244)
Verfehlte Politik
Erschossen wurde auch Marschall der Sowjetunion M. Tuchatschewski,
Träger des Leninordens, Militärstratege. In einem Stabsmanöver
1936 sagte er den wahrscheinlichen Hauptstoß der Hitlerwehrmacht
auf Smolensk-Moskau voraus, ebenso die tatsächliche
Kräftekonstellation der Wehrmacht (Sowjetunion heute, 2/88,
S.10/11). Marschall Shukow machte im Dezember 1940, nach einem
Kriegsspiel, die gleichen Voraussagen über die Richtung des zu
erwartenden Angriffs. Beide Ratschläge blieben bei den
Abwehrmaßnahmen der Roten Armee auf Veranlassung Stalins
unberücksichtigt.
Dem Nichtangriffspakt vorausgegangen war die Unterzeichnung eines
deutsch-sowjetischen Wirtschaftsabkommens am 19. August 1939, wonach
die Sowjetunion sich zu Lieferungen von Rohstoffen, Erdöl und
Getreide verpflichtete. Als Gegenleistung sollte sie deutsche
Ausrüstungen, Maschinen, darunter auch Flugzeuge, erhalten. Dreimal
- Ende 1938, im März und November 1940 - besuchte in diesem
Zusammenhang eine Gruppe sowjetischer Luftwaffenexperten deutsche
Betriebe bei Junkers, Dornier, Heinkel, Messerschmitt und andere.
Die Besucher erprobten im Flug auch die Messerschmitt 109 und andere
Kriegsflugzeuge. "Genau ein Jahr vor Kriegsbeginn trafen in
Moskau fünf Jagdflugzeuge Messerschmitt 109, zwei Bomber Junkers
88, zwei Bomber Dornier 215 sowie die jüngste Entwicklung - der
Jäger Heinkel 100 ein." (A. Jakowlew, Ziel des Lebens, Moskau
1976, S. 261) Hitler war für diesen tiefen Einblick in die
Produktion der deutschen Luftwaffe, offensichtlich um die
sowjetische Wachsamkeit einzudämmen. Das war ein Teil des
Überraschungsmoments beim Überfall, Teil der Maßnamen, Stalin,
Molotow und andere zu überlisten. Es bestärkte offensichtlich
Stalin in seiner verhängnisvollen Überzeugung, daß Hitler im
Jahre 1941 den Überfall nicht entfesseln würde.
Freundschaft mit dem Faschismus?
Von Prof. Dr. D. Wolkogonow, Generaloberst, veröffentlichte die
"Prawda" am 20. Juli 1988 einen Auszug aus seiner Arbeit
über J. W. Stalin, "Triumph und Tragödie", einem, wie
mir scheint, zutreffenden Titel. Darin heißt es: "Ein großer
politischer Irrtum war unserer Ansicht nach die Unterzeichnung des
deutsch-sowjetischen Abkommens über ›Freundschaft und
Grenzverlauf zwischen der UdSSR und Deutschland‹ vom 28. September
1939. Nach der Unterzeichnung des Nichtangriffspakts einen Monat
vorher, einem offenbar notgedrungenen Schritt, hätte man innehalten
sollen. Resolutionen der Komintern, Beschlüsse des 18. Parteitages
der KPdSU, die Parteilinie, die den sowjetischen Staatsbürgern
zugewendet war, stellten klar, daß der Faschismus, der
gefährlichste Stoßtrupp des Weltimperialismus, ein terroristisches
Regime der Diktatur und des Militarismus ist. In der Weltauffassung
der Bürger der Sowjetunion verkörperte der Faschismus den
Klassenfeind in konzentrierter Form. Und dann plötzlich ›Freundschaft
mit dem Faschismus‹?! ..."
Es gab und es gibt keinerlei Rechtfertigung keinen Grund für
derartig verhängnisvolle ideologische Schwankungen und
Veränderungen. Vergangenes aber muß mit dem Gefühl der
historischen Verantwortung und auf der Grundlage der historischen
Wahrheit bewertet werden. Wahr ist, daß trotz alledem der Krieg zum
erfolgreichen Kampf des ganzen Sowjetvolks wurde, gekrönt mit dem
Sieg über den deutschen Faschismus. Im Kriegsverlauf bewährten
sich die Talente hervorragender, aus dem Volk hervorgegangener
Feldherren, Generale, Offiziere. "Im Kampf um den Sieg"
sagte Gorbatschow, "haben auch die während des Krieges von J.
W. Stalin bewiesenen Eigenschaften ihre Rolle gespielt - sein
großer politischer Wille, seine Zielstrebigkeit und Beharrlichkeit
und seine Fähigkeit, die Menschen zu organisieren und zu
disziplinieren. Doch die Hauptlast des Krieges trug der einfache
Sowjetsoldat - der Mann aus dem Volke."
zuerst erschienen in: "Unsere Zeit", 26. August 1988
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