06.04.09
Gedanken nach der Katastrophe von Winnenden
Es
wird alles mögliche zum Terrorismus
gezählt, nicht aber der real existierende Naziterror mit seinen
ungezählten Todesopfern
Im Jahre 2002 schrieb ich folgenden Artikel. Ich lege ihn erneut
- mit einem Zusatz - vor. Ich halte ihn nach wie vor für aktuell.
Ulrich Sander, VVN-BdA-Bundessprecher
Hier der ursprüngliche Text: Gedanken nach der Katastrophe von
Erfurt - die kein Amoklauf war
Von Ulrich Sander
Alle Welt ist "nach Erfurt" erschreckt, wie leicht ein
gewaltbereiter Mensch hierzulande in den Besitz von Waffen gelangen
und den Schusswaffengebrauch erlernen kann. Der Täter ging planvoll
vor, weshalb er kein Amokläufer war. Es sei denn, manche Politiker
sind auch Amokläufer.
Unter der Überschrift "Der Killer hat alles im Detail
geplant" berichtet die "Bild"-Zeitung am 30. April
02, der 16fache Mörder und Selbstmörder vom Gutenberg-Gymnasium in
Erfurt sei nach folgenden Anhaltspunkten vorgegangen: "1.
Beschaffung der Waffen (Pistole, Pumpgun): Um problemlos an sie
ranzukommen, wurde Steinhäuser Mitglied im Schützenverein
`Domblick`." Zudem gehörte er der Schützenabteilung des
Polizeisportvereins an.
Es ist daran zu erinnern, dass sich auch die Bewaffnung und
militärische Ausbildung der Neonazis nach diesem Muster vollzieht.
Bereits im Mai 1994 hat die VVN-BdA ein neonazistisches
Strategiepapier der Zeitschrift "Europa vorn" Nr. 35/92
veröffentlicht, in dem der Kölner Neonazi Manfred Rouhs an die
"rechten Aktivisten" den Aufruf richtet: "Zum
Selbstschutz angemessen, legal bewaffnen". Verbunden wurden
damit kaum verhüllte Gewaltaufrufe mit Tipps, wie der Nazi
heutzutage an einen Waffenschein und an Waffen kommt, und zwar
"als Mitglied einer Schützenbruderschaft oder eines
Schützenvereins .... mit der richtigen politischen Einstellung (die
dort übrigens zahlreich sind)". Erfolgversprechend sei auch,
"wenn der eine oder andere Kamerad selbst in die
Sicherheits-Branche einsteigt."
Es ist an einen weiteren Aufruf zur Bewaffnung und
Gewaltvorbereitung zu erinnern: Seit Jahren kursiert in der
Neonaziszene der Aufruf an "Junge Kameraden und Kameradinnen,
die vor der Berufswahl stehen, unbelastet, intelligent und sportlich
sind," sich getarnt zu "einer Ausbildung bei Bundeswehr
und Polizei" zu melden, "mit dem Ziel, sich in besonders
qualifizierten Spezialeinheiten (!) das nötige Wissen und Können
anzueignen." Der Initiator des Aufrufs ist Steffen Hupka,
ehemalige Mitarbeiter des verstorbenen Naziführers und Leutnants
a.D. Michael Kühnen. Er gehörte zur rechtesten Ecke in der NPD und
tritt jetzt verstärkt gemeinsam mit dem AntiAntifa-Initiatoren
Christian Worch in Erscheinung. Hupka: "Widerstand, der auf die
Beseitigung eines volksfeindlichen Systems zielt, muß professionell
geplant sein." (So heißt es in dem Papier "Umbruch"
aus dem Jahr 1995, herausgegeben von Hupka, heute führend im Umfeld
der Jungen Nationaldemokraten und der Worch-Kameradschaften).
Terroristen - und dazu muß ja wohl der Attentäter von Erfurt
gezählt werden; wenn das Wort Terror anzuwenden ist, dann doch wohl
in diesem Fall - Terroristen also, haben mit Hilfe militärischer,
polizeilicher und paramilitärischer und scheinbar
"sportlicher" Strukturen hierzulande eine bedrohliche
Infrastruktur zur Verfügung. Im Schießsport hat sich eine Praxis
der "Wehrsportgruppen" etabliert. Dies wird allerdings
ebenso in der gegenwärtigen Diskussion ausgeblendet, wie die
"Enttabuisierung des Militärischen", von der unser
Bundeskanzler neuerdings redet. Wir dürfen jedoch gewalttätige
Strukturen und Ideologien nicht einfach unberücksichtigt lassen,
wenn wir unsere Kinder und Jugendlichen vor Gewalt bewahrt werden
sollen. Wir dürfen die ständige Kriegsbereitschaft und die
dauernden Militäreinsätze, die unsere offizielle Regierungspolitik
auszeichnen, nicht weiterhin bei der Suche nach den Gründen für
das Verbrechen von Erfurt vernachlässigen.
Denn dies wäre fahrlässig. Die Politik muss wieder gewaltlos
werden, dann kann es auch die Gesellschaft sein.
Dazu noch ein Beispiel: Am Vorabend des Massakers von Erfurt
versuchte die PDS im Bundestag vergeblich, den Beschluss zum
"Verteidigungsfall", der dem "Krieg gegen den
Terror" zu Grunde liegt, zu überwinden. Es gelang der PDS
nicht einmal, diesen verhängnisvollen Beschluss zu thematisieren,
geschweige denn rückgängig zu machen, obwohl dies unbedingt
notwendig wäre, um Kriege - inneren wie im äußeren - endlich
wieder abzuschaffen. Innerhalb von sieben Minuten war die
Tagesordnung zu diesem Punkt abgeschlossen, weil sich Regierung wie
sämtlich übrigen Parteien weigerten, über die Beendigung des
Krieges auch nur zu diskutieren. Das ist die erschreckende
Wirklichkeit.
Zusatz von 2009:
Ich erneuere unsere Frage an den Innenminister in Land und Bund
auch und gerade angesichts der Ereignisse in Winnenden: Wir wollen
wissen, wie die Sicherheitspolitik in Deutschland mit der Bewaffnung
der ultrarechten Kreise umgeht, die sich wie eine tickende Zeitbombe
entwickelt.
Schon im Jahre 2003 erhielt ich (als Antwort auf meine Gedanken
in obigem Artikel) einen Brief aus dem Innenministerium in Berlin.
Ich hatte auf den Aufruf der Neonazis zum verdeckten Eintritt in
Polizei und Bundeswehr, aber auch in Schützenvereine hingewiesen,
auf dass sie dort Waffen und Ausbildung an Waffen erlangten.
Aufgerufen hatten auch solche braune Herren, die hier in NRW sich
immer wieder auf den Straßen zeigen und demonstrieren dürfen.
Der damalige Minister Schily ließ mir mitteilen, daß alles nach
dem neuen Waffengesetz geschehe, das nach dem 11. September 2001 und
nach dem schrecklichen Attentat auf das Gutenberg-Gymnasium von
Erfurt erlassen wurde. Dies Gesetz lässt aber das, was die Neonazis
mit ihrem Aufruf bezwecken, durchaus zu. Auch 2002 bis heute: Terror
der Rechten. Erinnern wir uns: Seit dem 11. September 2001 Jahres
wird alles mögliche vom Bundesinnenminister zum Terrorismus
gezählt, nicht aber der real existierende Naziterror mit seinen
ungezählten Todesopfern. Dieser Hinweis ist um so dringlicher, da
die Neonazis nach wie vor ihre Anti-Antifa-Terroraufrufe im Internet
wieder verstärkt verbreiten. So werden VVN-BdA-Vertreter und andere
Nazigegner mit Gewalt, mit Körperverletzung und indirekt mit Tod
bedroht, wie auf Internetseiten, die via USA hierher gelangen, zu
lesen ist.
Wie wir in der Ausstellung "Neofaschismus in der
Bundesrepublik Deutschland" sehen können, arbeiten die rechten
Gewalttäter mit der Losung "Sieg oder Walhalla". Das
heißt, sie rufen zu Selbstmordattentaten auf, dem Täter wird Sieg
oder der ruhmvolle Einzug in Walhalla versprochen. Nach diesem
Muster gab es im Jahre 2000 bereits den dreifachen Polizistenmord
von Dortmund durch einen Selbstmörder, von dem die Naziszene dann
später in Flugblättern sprach "Er war einer von uns - Drei zu
eins für Deutschland." Im Jahr 2005 wurde - wieder in Dortmund
- ein antifaschistischer Punk von einem Nazifan erstochen, und die
Naziszene gab bekannt: Es wurde die Machtfrage gestellt und von
unserem Kameraden beantwortet. Man werde jeden bestrafen, der sich
den freien Kameradschaften in den Weg stelle.
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