01.04.09
"Iwan der Schreckliche"
Auslieferung eines der letzten überlebenden NS-Kriegsverbrecher?
Von Peter Kleinert
John Demjanjuk (88), dem die Staatsanwaltschaft München als
Mitglied der SS-Wachmannschaft des KZ Sobibór im damals besetzten
Polen Beihilfe zum Mord an mindestens 29.000 Menschen vorwirft,
könnte demnächst von den USA nach Deutschland ausgeliefert werden.
Unter seinen ursprünglichen Vornamen Iwan Nikolajewitsch - die
Gefangenen nannten in "Iwan der Schreckliche" - war er
seit Jahrzehnten einer der meistgesuchten NS-Verbrecher. "Viele
Kriegsverbrecher entkommen ihrer Strafe durch Krankheit oder
Tod", ist eine Untersuchung überschrieben, die vor kurzem im
Amsterdamer Handelsblad erschien.
Altersheim statt Gefängniszelle
Der Journalist Bart Funnekotter geht aufgrund seiner Recherchen
von mehr als 600 möglichen Kriegsverbrechern aus, die heute,
siebzig Jahre nach dem Beginn des Zweiten Weltkrieges, eigentlich
noch vor Gericht gestellt werden müssten. Ein Beispiel aus seinem
Handelsblad-Bericht: "Heinrich Boere ist mit heiler Haut
entkommen. Der frühere niederländische SSler (85) dürfte seine
letzten Tage in einem Altersheim in der Eifel fristen, statt in
einer Zelle in einem Gefängnis. Das Gericht in Aachen, wo er sich
für drei Morde, die er während des Zweiten Weltkrieges in den
Niederlanden begangen hat, verantworten sollte, beschloss am 7.
Januar, dass er zu krank sei, um sich einem Prozess zu
unterziehen."
Sechs Jahrzehnte Rückstellung
In den siebziger und achtziger Jahren waren weltweit noch
hunderte Ermittler und Juristen auf der Suche nach flüchtigen
NS-verbrechern. Heute seien es nur noch einzelne und ca. zehn
Verfahren, die zum Abschluss kommen könnten, so Bart Funnekotter.
Im September 2008 hatte Ulrich Maaß, Oberstaatsanwalt in Dortmund,
beschlossen, den SSler Boere in Deutschland vor Gericht zu bringen.
Maaß ist Leiter der Schwerpunkt-Staatsanwaltschaft für
NS-Verbrechen in Nordrhein-Westfalen und hier hauptverantwortlich
für die Verfolgung von verdächtigen Naziverbrechern. Wegen
beschränkter Mittel dauerte es lange, bis er an die Strafsache
Boere kam. Funnekotter: "Zu lange, wie sich nun herausstellt.
Sechs Jahrzehnte Rückstellung haben zum Aufschub geführt."
60 ungarische Juden ermordet?
Da ihm der Niederländer dank der Entscheidung der Aachener
Richter durch die Finger gerutscht ist, richtet Oberstaatsanwalt
Maaß seine Aufmerksamkeit nun auf andere Fälle. Seit Dezember
untersucht er den Fall Adolf S. [Storms] (89) aus Duisburg, einst
Unterscharführer der Waffen-SS-Division Wicking. Adolf S. [Storms] soll im
März 1945 in Österreich sechzig ungarische Juden ermordet haben.
Er wurde durch einen Studenten der Universität Wien aufgespürt,
der seinen Namen im Telefonbuch fand. Maaß: "Die Österreicher
wussten schon in den fünfziger Jahren, dass er nach Deutschland
geflüchtet war, aber sie haben uns das nicht mitgeteilt. Nun haben
wir es mit einem ernsthaft erkrankten Mann zu tun, bei dem es sehr
zweifelhaft ist, ob wir ihn vor den Richter bringen können."
Aber: "Das deutsche Volk hat eine Schuld auf sich geladen. Wir
sind vor uns selbst und vor den Opfern verpflichtet, jeden
anzuklagen, den wir verdächtigen, Verbrechen während des
Naziregimes begangen zu haben."
Ulrich Sander
Ulrich Sander - das Handelsblad nennt ihn "Nazijäger"
- ist Sohn eines deutschen Widerstandskämpfers, Journalist, Autor
und Landessprecher der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes
VVN-BdA in NRW, kann Ulrich Maaß da nur zustimmen: "Wir sind
in Deutschland recht gut im Gedenken an die Opfer der Nazis, aber
nicht im Verfolgen der Täter. Nur Bedauern bezeugen, ist aber nicht
genug." Sander spürt als Amateur und gemeinsam mit jungen
Historikern schon Jahrzehnte nur mit Hilfe öffentlicher Quellen
Naziverbrechern nach und lässt sich davon auch nicht abhalten, wenn
- wie im Dezember 2003 - in diesem Zusammenhang aufgrund einer
Anzeige von deren Verehrern im "Kameradenkreis der
Gebirgstruppe" seine Wohnung in Dortmund und das Landesbüro
VVN/BdA in Wuppertal von Beamten des Polizeilichen Staatsschutzes
durchsucht und sein PC und persönliche Briefe beschlagnahmt werden
(siehe NRhZ 154). Sein 2008 im Kölner PapyRossa-Verlag
veröffentlichtes Buch "Mörderisches Finale: NS-Verbrechen bei
Kriegsende" schrieb er, weil er davon überzeugt ist, dass zu
wenig Aufmerksamkeit für die Tatsache besteht, dass die Nazis bis
zum allerletzten Tag des Krieges weitermachten mit ihren Verbrechen:
"Diese Täter müssen auch verurteilt werden. Der Holocaust
bestand aus mehr als den Massenmorden in den
Konzentrationslagern."
Sein Durchhaltevermögen scheint 2009 Früchte zu tragen. Im
Herbst vorigen Jahres begann in München der Prozess gegen Josef
Scheungraber, einer der Täter, die auch durch Sander aufgespürt
wurden. Scheungraber war im Juni 1944 im Norden Italiens als
Befehlshaber einer Kompanie verantwortlich für den Mord an vierzehn
Bürgern als Vergeltung für einen Überfall von Partisanen. Er
wurde 2006 in Italien in Abwesenheit zu lebenslänglich verurteilt.
"In Deutschland ist die Beweislast jedoch schwerer",
erklärt Sander. "Vor dem italienischen Gesetz reicht es zu
beweisen, dass einer bei dem Massaker dabei war. Der deutsche
Richter will jedoch ganz genau und sicher wissen, dass der Täter
den Abzug der Waffe selbst gespannt hat oder den Befehl dazu gegeben
hat. Versuche mal, zuverlässige Zeugen dafür zu finden, sechzig
Jahre danach."
John
Demjanjuk demnächst in München?
Neben der Strafsache Scheungraber könnte demnächst in München
auch das oben erwähnte Verfahren gegen John Demjanjuk anlaufen,
wenn "Iwan der Schreckliche", von den USA nach Deutschland
ausgeliefert wird, wo er seit 1951 lebt, nachdem er seine
ursprünglichen Vornamen Iwan Nikolajewitsch gegen John ausgeatuscht
hatte. Demjanjuk war bereits 1988 in Israel für KZ-Verbrechen zum
Tode verurteilt worden. 1993 wurde dieses Urteil in höherer Instanz
wegen Zweifeln an den Beweisen aufgehoben und Demjanjuk durfte in
die USA zurückkehren. Der ermittelnde Oberstaatsanwalt Kurt
Schrimm, Direktor der Zentralstelle zur Verfolgung von
NS-Kriegsverbrechen in Ludwigsburg, wollte sich mit dem Freispruch
nicht abfinden und startete 2007 eine neue Ermittlung gegen
Demjanjuk. Nach einem halben Jahr wurden Ergebnisse geliefert.
Schrimm zum Handelsblad: "Wir haben nun überzeugende Beweise
gefunden, dass er während des Krieges Verbrechen im KZ Sobibór
begangen hat. Weil es sich hier um neue Fakten handelt, gibt uns das
die Chance, ihn erneut vor Gericht zu bringen." Beweisen kann
man offenbar, dass der gebürtige Ukrainer zu den "Trawnikis"
gehörte, eine Unterstützungstruppe der SS, die aus
"fremdvölkischen Hilfswilligen" gebildet und nach einem
Zwangsarbeiterlager in Polen benannt wurden. Unter deutschem
Kommando ermordeten sie in den Ghettos Juden und dienten als
KZ-Wächter.
In den achtziger Jahren leitete Schrimm noch 150 Mitarbeiter,
mittlerweile sind es nur noch sieben. Doch er ist noch immer
äußerst motiviert für seine Arbeit. Für die erste Hälfte 2009
stehen Ermittlungsreisen in die USA, nach Chile und Brasilien auf
seinem Programm: "Wir lassen bei der Ergreifung nicht nach,
auch wenn wir nicht täglich Erfolge verbuchen können. Wenn so eine
Strafsache wie die von Demjanjuk endlich zu einer Verurteilung
führt, macht das die Arbeit von Jahren gut." Die
amerikanischen Behörden haben ihm bereits die
US-Staatsbürgerschaft aberkannt, die amerikanische Justiz will ihn
ausliefern, unklar ist aber, ob der Angeklagte als gesund genug für
einen Flug angesehen wird oder am Ende - wie der SSler Heinrich
Boere, dank der Entscheidung der Aachener Richter - auch vor einem
Prozess bewahrt wird.
Über
das KZ Sobibór, das wie Belzec und Treblinka eines der drei
Vernichtungslager in Ostpolen war, wo im Rahmen der "Aktion
Reinhardt" in den Jahren 1942 und 1943 etwa 1,7 Millionen Juden
getötet wurden, hat der holländische Jude Jules Schelvis das Buch
"Vernichtungslager Sobibór" geschrieben. Schelvis war im
Mai 1943 mit weiteren 3.000 Menschen aus den Niederlanden über das
Durchgangslager Westerbork mit der Deutschen Reichsbahn nach
Sobibór deportiert worden. Bis auf 81 Männer wurden alle Menschen
dieses Transports am Tag ihrer Ankunft in Sobibór ermordet. Jules
Schelvis hat als Einziger von ihnen überlebt und berichtet in
seinem Buch u.a. auch über den in Sobibór geglückten Aufstand der
Häftlinge vom 14. Oktober 1943. Bei der Revolte wurden zwölf
SS-Männer getötet, etwa 300 Häftlinge konnten fliehen. Das Lager
selbst wurde gleich nach dem Aufstand liquidiert. Für Schelvis
brach eine Zeit von zwei Jahren in der Hölle weiterer
Konzentrationslager an, bevor er im April 1945, am Ende seiner
Kräfte und vielfach dem Tod nur knapp entronnen, im
Konzentrationslager Vaihingen/Enz befreit wurde.
Das Buch, in dem Jules Schelvis seine eigenen Erlebnisse,
ergänzt durch Zeugenaussagen aus den Sobibór-Prozessen der
Nachkriegszeit, umfangreiches Archivmaterial und Interviews mit
Überlebenden verarbeitet hat, ist 1993 erstmals in den Niederlanden
erschienen und gilt seitdem als Standardwerk. Nachdem es in
Deutschland jahrelang vergriffen war, erschien anlässlich des 60.
Jahrestages des Aufstandes von Sobibór in einer Neuauflage in der
Reihe rat/antifaschistische texte hamburg im Unrast Verlag e.V.
Münster. (PK)
Zu den erwähnten Büchern:
Jules Schelvis: Vernichtungslager Sobibór, ISBN-10:
3-89771-814-6, ISBN-13: 978-3897718142, Ausstattung: br., 360
Seiten, 20.00 Euro, Unrast Verlag Münster, www.unrast-verlag.de
Ulrich Sander: Mörderisches Finale - NS-Verbrechen bei
Kriegsende, 192 Seiten, 14,90 Euro, herausgegeben vom
Internationalen Rombergparkkomitee, 2008 bei PapyRossa Verlag,
Köln, www.papyrossa.de
Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung: http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=13618
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