19.03.09
Was junge Menschen heute von dem Naziopfer Helmuth
Hübener (17) lernen können?
Ein Vortrag von Prof. Dr. Alan
Keele, gehalten am 27.10.2008 vor Deutsch- und Russischstudenten an
der Brigham Young Universität zu Provo (Utah) USA
Vorbemerkung:
Sehr viel zu lernen ist von einem Vortrag, der aus Anlaß des
Todestages des jüngsten vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilten
und hingerichteten Widerstandskämpfers in Utah / USA gehalten
wurde. Die VVN-BdA NRW ist ermächtigt, diesen Vortrag von Alan
Keele zu veröffentlichen. Darin wird der Mut Helmuth Hübeners,
jenes Widerstandskämpfers, für das Hier und Heute eingefordert.
besonders junge Amerikanerinnen und Amerikaner können viel von ihm
lernen. Wer war Helmith Hübener? Hier seine Kurzbiographie aus der
Gedenkstätte Deutsche Widerstand, Berlin.
Helmuth Hübener (08.01.1925 -
27.10.1942)
Helmuth Hübener kommt in Hamburg als Sohn einer Arbeiterin zur
Welt und wird entscheidend durch die Religionsgemeinschaft Kirche
Jesu Christi der Heiligen der letzten tage (Mormonen) geprägt. Er
wächst ohne Vater auf und beginnt 1941 eine Lehre bei der Hamburger
Sozialbehörde. Zugleich hilft er als ehrenamtlicher Sekretär dem
Gemeindepräsidenten seiner Religionsgemeinschaft, 1940/41 kommt er
in Kontakt mit einer illegalen Altonaer kommunistischen
Jugendgruppe. Er hört regelmäßig ausländische Rundfunksender und
verbreitet wichtige Meldungen als Streuzettel weiter. Im Sommer 1941
gewinnt er mit dem sechzehnjährigen Schlossergesellen Rudolf Wobbe
und dem siebzehnjährigen Malergesellen Karl-Heinz Schnibbe, wenig
später mit dem siebzehnjährigen Verwaltungslehrling Gerhard Düwer
Gesinnungsfreunde. Sie diskutieren gemeinsam mit ihm zahlreiche
Flugblätter und verteilen sie in Hamburger Arbeitervierteln, um die
nationalsozialistischen Wehrmachtsberichte und Nachrichtensendungen
zu korrigieren. Im Winter 1941 sehen die Freunde um Hübener bereits
die militärische Niederlage voraus. Sie wollen deshalb nicht mehr
allein mit kurzen Parolen auf Streuzettel zum Kampf gegen das
NS-Regime auffordern, sondern die Menschen über den Ernst der Lage
aufklären. Innerhalb von sechs Monaten konzipiert Hübener mehr als
20 Flugblätter. Ende Januar 1942 bitten Düwer und Hübener einen
Bekannten, die Flugblätter ins Französische zu übersetzen. Sie
werden dabei beobachtet, denunziert und am 5. Februar 1942 von der
Gestapo verhaftet, die wenige Tage später auch Schnibbe und Wobbe
festnimmt. Die Jugendlichen werden schwer misshandelt. Am 11. August
1942 findet vor dem Berliner Volksgerichtshof der Prozess statt.
Helmuth Hübener wird trotz seines Alters von 17 Jahren zum Tode
verurteilt und am 27. Oktober 1942 in Berlin-Plötzensee ermordet.
Seine drei Freunde erhalten lange Freiheitsstrafen. Sie können das
Kriegsende überleben.
"Was können die Mormonen
in den USA am Beispiel der Mormonen im III. Reich lernen?"
Ein Vortrag von Prof. Dr. Alan Keele,
gehalten am 27.10.2008 vor Deutsch- und Russischstudenten an der
Brigham Young Universität zu Provo (Utah) USA.
Heute, der 27. Oktober, ist der 66. Todestag unseres damals
siebzehnjährigen Glaubensgenossen Helmuth Hübener, der 1942 wegen
seiner Widerstandstätigkeit durch die nationalsozialistische
Gewaltherrschaft in Berlin-Plötzensee enthauptet wurde. Aus
historischen und aus humanitären Gründen allein geziemt es sich,
dass wir heute hier des Lebens und des Todes von Helmuth gedenken,
der, mit seinen zwei Freunden aus der Mormonengemeinde, Karl-Heinz
Schnibbe und Rudi Wobbe, die jüngsten Deutschen waren, welche eine
ernsthafte Widerstandsbewegung gegen Adolf Hitler und seine
NS-Diktatur anstellten. Helmuth soll auch der jüngste Deutsche
gewesen sein, der wegen Widerstand vom NS-Regime hingerichtet wurde.
Es ist eine Ehre, heute das letzte überlebende Mitglied der
Gruppe, Karl-Heinz Schnibbe, bei uns zu haben, besonders weil er
sich von einer schweren Krankheit eben erholt.
Ich fühle mich verpflichtet, jeden Oktober um diese Zeit etwas
zu tun, um das Angedenken an die Hübener-Gruppe und deren mutiges
Handeln am Leben zu erhalten. Aber es geht ja um viel mehr, als dass
wir sie ehrten. Der Gewinn für uns heute von der Mühe, uns etwas
über ihren Widerstand unterrichten zu lassen, ist möglicherweise
viel größer als jede Ehre, die wir ihnen jetzt erweisen könnten.
Nach 66 Jahren hat die Hübener-Story auch den Atlantik überquert
und bietet einem mit Problemen sehr belasteten Amerika ein besseres
politisches Beispiel, als das, was wir bisher hatten. Die Gabe,
welche die Hübener-Gruppe gerade an junge Mormonen schenkt, besteht
darin, uns zu politischen Taten und zu einem politischen
Vermächtnis zu verhelfen, auf welche wir in 66 Jahren stolz sein
können.
Als ich vor nunmehr 40 Jahren die Hübener-Geschichte für mich
und für die Mormonen entdeckte und mit Schreiben und Reden darüber
begann, war es für mich erfreulich zu erfahren, dass Amerikaner,
besonders Mormonen, sich sehr für diesen intelligenten und mutigen
jungen Heiligen der letzten Tage interessierten, denn er hatte ja
die Lügen einer der boshaftesten Regimes in der Geschichte der Welt
durchschaut und auf Lebensgefahr die Wahrheit darüber verbreiten
wollen.
Dieses Interesse und die große Sympathie seitens der Amerikaner,
besonders der älteren patriotischen Amerikaner, überrascht nicht,
denn unsere "größte Generation," wie sie neulich Tom
Brokow in seinem Bestseller nannte, stellte sich ja mutig dem
Faschismus und half, ihn zu besiegen. Für Amerikaner, besonders
amerikanische Mormonen, war Hübener ein junger Held, der das
"richtige Zeug" hatte, Hitler, dieser Personifizierung des
Bösen, die Stirn zu bieten und ihn zu denunzieren. Und obwohl wir
alle seinen Tod bedauern, welcher amerikanische Mormone könnte
Helmuths beispielhaftes Leben kritisieren?
In Deutschland war die Reaktion unter den Mormonen allerdings
eine andere. Es stimmt schon, dass im großen und ganzen die jungen
deutschen Mormonen heutzutage an Hübener sehr interessiert sind und
sich mit ihm stark identifizieren, genau wie die Amerikaner. Unter
den älteren Semestern aber - besonders denjenigen in Hamburg,
welche den Krieg erlebt hatten - gab und gibt es eine Anzahl, die
Hübener für einen Staatsverräter halten.
Ich möchte betonen, dass die politischen Ansichten der Mormonen
in Deutschland im III. Reich über die ganze Bandbreite verstreut
waren. An dem einen Ende der Skala finden wir Helmuth, Rudi und
Karl, hervorragende Musterbeispiele von mormonischen Antifaschisten.
Sie machen uns stolz, Mormonen zu sein. Es gab auch welche wie
Distriktspräsidenten Otto Berndt, der von der Gestapo verhaftet
wurde, weil man Verdacht hegte, er sei die graue Eminenz hinter den
Jungen gewesen. Es gab welche wie die Familie Sommerfeldt, die ganz
klar Hitler nicht mochten (deren Urenkel John heute hier anwesend
ist).
Bruder Heinrich Worbs von der St. Georger Gemeinde wurde
verhaftet, gefoltert und litt einen verfrühten Tod wegen seiner
öffentlichen abschätzigen Bemerkungen über die Nazis. Salomon
Schwarz, ein Mitglied der Kirche, der als jüdisch galt (weil er wie
die Juden im Stürmer ein bisschen aussah) starb in Auschwitz. Seine
Schwester Annemarie litt ihr ganzes Leben lang furchtbare seelische
Angststörungen weil sie glaubte - höchstwahrscheinlich mit Recht -
dass ein Glaubensgenosse ihren Bruder der Gestapo denunziert haben
könnte.
Jawohl: es gab leider auf dem anderen Ende der Skala auch
Mormonen, welche fanatische Nazis waren. Einige gehörten sogar der
SS an (darunter einer, der junge Bruno S., der bald darauf der SS
den Rücken kehrte, selber verhaftet wurde und den Krieg im
Arbeitslager verbrachte). Es gab dann eine Menge in der Mitte,
darunter der Gemeindevorsteher Arthur Zander, ein sehr netter und
unermüdlicher Kirchendiener, der nur zufällig auch ein
unerschütterlicher Gläubiger an Hitler war.
Als Helmuths Verhaftung in der Gemeinde bekannt gemacht wurde,
soll einer der passioniertesten Brüder - Bruder Jacobi -
aufgestanden sein und gesagt haben, dass es gut sei, Helmuth wurde
verhaftet; wenn er von Helmuths Treiben gewusst hätte, hätte er
ihn selber erschossen.
Das ist natürlich ein Extremfall. Die meisten Mormonen im III.
Reich waren höchstwahrscheinlich so ungefähr wie ein Querschnitt
der heutigen Mormonen, auch in den USA: nicht immer aufs Beste
informiert, nicht besonders geübt im Aussortieren von
Wahrheitsansprüchen, in erkenntnistheoretischen Sachen ein bisschen
wackelig also, oft ein kleines bisschen geistig faul und für
Sticheleien und Gerüchte manchmal zu anfällig. (Ja, WIR sind heute
viel besser dran, nicht? WIR haben ja heute das Internet, dank
welchem ich neulich von wohlmeinenden mormonischen Freunden und
Nachbarn immer wieder davor gewarnt wurde, dass Obama ein
muslimischer Terrorist sei, dass seine Frau Michelle eine Schwarze
Pantherin sei, die Amerika hasst, und dass Barak letzte Woche nach
Hawaii flog, nicht um seine totkranke Oma zu besuchen, sondern um
Unterlagen zu zerstören, welche bewiesen hätten, dass er die
weiße Rasse versklaven möchte!!!)
Ich sprach vorhin über diejenigen in Deutschland, welche Helmuth
für einen Landesverräter hielten. Es ist für uns heute leicht,
solche Leute aus unserer Perspektive heraus zu verdammen, doch wir
wollen ein bisschen in ihren Schuhen wandeln, sozusagen: Helmuth
hatte ja den Staat stürzen wollen, er hatte zu Kriegszeiten den
Feind begünstigt. Er hatte ganz öffentlich den Führer beleidigt
und beschimpft, auch als dieser noch sehr populär war. Er nannte
ihn einen Mörder, einen Lügner und den Volksverführer.
Einigen der älteren Mormonen schien es auch, dass Helmuth den
12. Glaubensartikel missachtet hatte: "Wir glauben, dass es
recht ist, Königen, Präsidenten, Herrschern und Obrigkeiten
untertan zu sein und dem Gesetz zu gehorchen, es zu achten und für
es einzutreten."
Noch schlimmer aber war die Tatsache, dass Helmuth all seine
Glaubensgenossen und die Kirche selber in Todesgefahr gebracht
hatte. Er hatte sie alle der Verfolgung, ja der Vernichtung durch
die NS-Diktatur ausgeliefert. Und glauben Sie bitte nicht, dass das
ein Hirngespinst gewesen sei: die Nazis haben die Zeugen Jehovas in
Deutschland mit Stumpf und Stiel ausgerottet.
Man muss auch im Auge behalten, warum viele Deutsche, darunter
einige Mormonen - aber ganz gewiss nicht alle - in Hitler und die
Nazis regelrecht verknallt waren und warum andere, wenige
fanatische, der Propaganda verfallen und von der Begeisterung der
Zeit mitgerissen wurden: Hitler hatte die Arbeitslosenzahlen
drastisch gesenkt und eine stabile Wirtschaft nach einer Ära der
astronomischen Arbeitslosen- und Inflationszahlen geschaffen.
Nicht viele dankbare Menschen, die jetzt wieder Arbeit hatten,
wollten die Hintergründe des Aufschwungs näher erforschen,
nämlich die riesige Wiederbewaffnung und die strategischen
Bauprojekte wie z.B. die Autobahn, (welche aber ganz klar
militärisch wichtig war, damit mechanisierte, motorisiere Armeen
von einer Front zur anderen hin- und hersausen könnten). Der
amerikanische Querdenker H.L. Mencken sagte ja einmal, es ist
schwer, einen Menschen dazu zu bewegen, etwas zu verstehen, wenn
sein Einkommen davon abhängig ist, es gerade nicht zu verstehen.
Hitler stellte den Nationalstolz wieder her, der von der Schmach
des harten Versailler Vertrags nach dem Ersten Weltkrieg schwer in
Mitleidenschaft gezogen wurde. Er war gegen öffentliches Benehmen
hart vorgegangen, das von den berüchtigten wüsten Zwanzigern
übriggeblieben war und welches den bürgerlichen Mittelstand
unbehaglich machte. Transvestitenbars, Prostitution, Vandalismus,
Graffiti, Pornographie, lästige Bettler, Besoffene und
Kleinverbrecher machten das Straßenbild damals unschön.
Selbst heute hört man ab und zu in einem unbedachten Augenblick
von Deutschen eine Reminiszenz wie: "Ja, man kann schon sagen
was man will: damals waren Frauen auf der Strasse sicher! Und er hat
uns die Autobahn gegeben!" (Umweltschützer mit Humor haben
diese Ente auf den Kopf gestellt: "Na, ja, der Adolf damals,
der war nicht so schlimm ... nur das mit der Autobahn hätte er
nicht machen sollen!")
In solchem Klima ist es leicht zu übersehen gewesen, dass die
Strassen nur für einige sicherer waren, denn Hitler hatte schon
längst angefangen, eine ganze Menge "lästiger Menschen"
- darunter Schwule, Juden, Kommunisten, Sozialisten, Gewerkschaftler
und Zeugen Jehovas - ins KZ zu werfen.
Deutsche Mormonen, die es nicht klar durchdacht hatten, dürften
weitere, theologische Gründe gehabt haben, Hitler zu umarmen.
Allerdings wird dies ein bisschen spitzfindig. Diejenigen, die in
ihm den Mann Gottes sahen, der die Welt auf das Millennium
vorbereiten sollte, fanden sogar in dem Begriff des tausendjährigen
Reiches eine gewisse Genugtuung.
Und es waren ja nicht nur die deutschen Mormonen, die sich
Anfangs von der Romantik der Nationalsozialisten einfangen ließen,
besonders in den frühen Stadien der Diktatur. Aussagen von
enthusiastischen aber nicht gut informierten amerikanischen
Kirchenmitgliedern über die Lage in Deutschland (der brisant
antisemitischer J. Reuben Clark, Jr. ist ein abschreckendes
Beispiel) fanden den Weg nach Deutschland. Es war auch damals in
Deutschland bekannt, was in einem anonymen Leitartikel in der
britischen Kirchenzeitung The Millennial Star stand, der für Hitler
und das neue Deutschland schwärmte, weil der die Welt auf das
Millennium vorbereite. All das trug dazu bei, dass unter deutschen
Heiligen der letzten Tage das Gefühl heranwuchs, dass Hitler von
Gott gesandt wurde, Deutschland und die Welt vor dem Übel der
Epoche zu retten: Kommunismus, Sozialismus, Judentum und
Homosexualität.
(Ich erwähne hier ausdrücklich die Homosexualität, weil ich
neulich verblüfft war zu erfahren, während eines Besuchs in der
Villa Wannsee bei Berlin, wo die berüchtigte Wannseekonferenz
anfangs 1942 abgehalten wurde, dass in Deutschland mehr Homosexuelle
verhaftet wurden als Juden. Aber das dürfte ja logisch sein, denn
die größten Judenbevölkerungen befanden sich damals außerhalb
von Deutschland, in Polen und Rumänien usw. Außerdem sagte mir
neulich eine Kollegin aus der Marriott School of Business sie habe
vor ein paar Jahren im Sommer eine Studentengruppe nach Buchenwald
geführt. Als man wieder in den Bus stieg, soll einer der Studenten
heiter und aufgeräumt einem anderen gesagt haben, wie cool es sei,
dass die Nazis damals so viele Schwule umgebracht hätten.)
Ich fahre weiter fort mit der Liste der trivialen Gründe, welche
sich anhäufend zu dem frühen Pro-Hitler-Vorurteil in den Köpfen
einiger deutscher Mormonen beitrugen: darunter ist die Tatsache,
dass die genealogischen Unterlagen der ganze Archive, auch der
Kirchenarchive in Deutschland - seit ewig für Mitglieder der
verhassten "Sekte" verschlossen - über Nacht für alle
zugänglich waren. Leider konnten nur ganz wenige diesen Schritt mit
der Judenverfolgung in Verbindung bringen: ist ja klar, die Nazis
wollten offene Archive, damit man nachschauen konnte, ob die Oma
vielleicht nicht ganz astrein arisch war!
Einige der Mormonen sahen darin große Bedeutung, dass Hitler
Nichtraucher und Abstinenzler war. Wegen dieser eher ungewöhnlichen
Eigenschaften (er war aber auch Vegetarier, was die Mormonen an sich
nicht sind) glaubten viele Mormonen in Deutschland an ein Gerücht,
dass Hitler als Kind in die Mormonengemeinde in Österreich (in Haag
am Hausruck, ca. 25 km von Braunau am Inn entfernt) gegangen sein
muss, wo er von dem Wort der Weisheit erfuhr. Einige glaubten sogar,
er sei heimlich getauft worden. (Ich selber habe dieses Gerücht
mehrmals gehört, vor kurzem sogar wieder, und zwar von einem
Amerikaner, der als Missionspräsident in Österreich gedient hatte
und diese Ente vermutlich öfters weitergegeben hatte.)
Solche Volklore wurde in einem organisierten Geschwafel von einem
Gelehrten namens Max Hähnle kodifiziert. Hähnle war kein Mormone,
dafür aber ein "Freund der Kirche" damals, der als
Soziologe in Tübingen unter Max Weber studiert haben soll. Er hatte
den Mormonismus als soziologisches Phänomen gewählt und machte
Forschungsreisen nach Salt Lake City. Er soll in ganz Deutschland
herumgereist sein und Ansprachen vor Mormonengemeinden abgehalten
haben, worin er den Mormonismus mit dem Nazismus vorteilhaft
verglichen haben soll.
1939, kurz vor dem Angriff auf Polen, erschien dann ein infamer
Artikel in einer Sondernummer des Völkischen Beobachters, in
welchem gerade dasselbe Argument vorherrscht. "Im Lande der
Mormonen" wurde dem Anschein nach von einem amerikanischen
Missionspräsidenten namens Alfred. C. Rees geschrieben, doch
Hähnle hätte genauso gut als Ghostwriter hinter ihm stehen
können, was ich aber leider nicht beweisen kann.
Ich gebe nur ein Beispiel aus diesem Artikel an: der Verfasser
behauptet, Hitler hätte die Idee für den Eintopfsonntag den
Mormonen abgeguckt, die an einem Sonntag im Monat den Fastensonntag
feiern und das ersparte Geld den Armen spenden. Als der Autor des
Artikels aber für seine These immer mehr Begeisterung aufbringt,
klingt es bald, als hätten die Mormonen von den Nazis geklaut,
nicht umgekehrt. Einer längeren Liste von Mormonenbräuchen folgt
diese Aussage: "Hier zeigt sich die praktische Verwirklichung
des deutschen Ideals: Gemeinnutz geht vor Eigennutz. Die Mormonen
sind Menschen, welche diese gesunde Lehre in die Tat umsetzen."
Nach dem Krieg haben sich augenscheinlich nicht alle der Mormonen
das anders überlegt, weder diejenigen, die durch oberflächliche
Ähnlichkeiten geködert wurden, Hitler zu unterstützen, noch
diejenigen, die Helmuths Benehmen als gefährlich ansahen - darunter
natürlich auch Leute, die Hitler sonst nicht unterstützt hätten -
aber ich merke jetzt viel weniger Meckern darüber als früher, was
aber auch wohl rein versicherungsmathematische Gründe haben
könnte: diese älteren Menschen sterben jetzt in immer größeren
Zahlen ab.
Und doch habe ich bei meinem letzten Berlinbesuch im August 2008
im Gespräch mit Dieter Berndt, einem früheren Pfahlpräsidenten,
einem sehr intelligenten, kompetenten, gewissenhaften und überaus
sympathischen Mann, ihn von einigen Irrtümern über Helmuth
Hübener befreien können, welche schon damals während der
Kriegsirrungen und -wirrungen ihm zu Ohren gekommen waren und welche
ihn die ganze Zeit bis zu unserem Gespräch gegen die Hübener-Story
eher skeptisch gestimmt hatten.
Unterdessen stellen mich nun immer mehr junge Mormonen aus
Deutschland, Österreich und der Schweiz im immer alarmierteren Ton
die Parzival-Frage: was uns Amerikanern und amerikanischen Mormonen
in letzter Zeit eigentlich fehlt, besonders denjenigen im
Bundesstaat Utah. Ich habe 2008 schon zum drittenmal auf der
Jahrestagung der Jungen Alleinstehenden Erwachsenen (JAEs) aus den
DACH-Ländern über Helmuth Hübener einen Vortrag gehalten und
hatte dabei oft Gelegenheit, mit jungen Menschen über die
Implikationen von Helmuths Handeln ins politische Gespräch zu
kommen.
Diese jungen HLTs, die mit mir darüber geplaudert haben, sind
ausnahmslos besorgt um die USA, worin sie sich eigentlich nicht von
anderen Europäern unterscheiden. Sie erwähnen unter anderem das
Todesurteil. Es überrascht manche Amerikaner, die einfach
gedankenlos automatisch davon ausgehen, dass Amerika das
fortgeschrittenste Land der Erde sei, zu erfahren, wie Europäer die
Todesstrafe wie ein atavistisches Überbleibsel der Nazizeit
einstufen. Europäer sind sich viel klarer als Amerikaner darüber,
dass Amerika das einzige demokratische Land auf der immer kürzer
werdenden Liste der Länder ist, welche das staatliche Töten noch
nicht abgeschafft haben, darunter China, der Iran, Pakistan und
Saudi Arabien. Diese vier plus USA sind jährlich für 90% aller
Todesurteile in der ganzen Welt verantwortlich.
Deutsche sind sich bewusst, dass fast alle, die in den USA
hingerichtet werden, arm sind und zu einer Minderheit gehören - ein
weißer Mörder mit den Mitteln zum eigenen Anwalt kann praktisch
nicht hingerichtet werden - und Deutsche scheinen viel besser als
der Durchschnittsamerikaner zu begreifen, dass der neuste Stand der
Technik der DNS-Forschung gezeigt hat, wie viele Unschuldige im
Todestrakt sitzen oder schon hingerichtet wurden. (Um Ihnen als
Amerikanern eine Ahnung vom Ausmaß europäischer Empörung zu
geben, will ich den Fall Schwarzenegger kurz erwähnen, der vor drei
Jahren in seiner Heimat einen Eklat erleben musste, als er als
Gouverneur von Kalifornien bei der Hinrichtung von Stanley Tookie
Williams das Urteil nicht aufgehoben hatte, was sein gutes Recht
gewesen wäre und eigentlich von ihm erwartet wurde. Er blieb aber
hart und sah sich dann genötigt, seine Geburtsstadt zu bitten,
seinen Namen vom neuen Fußballstadion Graz zu entfernen, bevor das
seine sehr aufgebrachten Fans offiziell veranlassen konnten. Sonst
lieben den Arnold seine Grazer überaus! In Punkto Todesstrafe sind
die Europäer aber sehr, sehr dagegen, Arnold hin, Arnold her.)
Andere Probleme mit Amerika nagen an meinen jungen europäischen
Freunden. Amerika ist ja bekanntlich die Heimat der Tapferen und das
Land der Freien? Man zeigt auf unsere verwunderliche
Einkerkerungsrate, die höchste der Welt. Amerika, mit 5% der
Weltbevölkerung, hat sage und schreibe 25% der eingekerkerten
Menschen der Welt. Das bedeutet, dass von je 32 Amerikanern ein
Amerikaner hinter Gittern sitzt: diese Rate ist ca. neunmal höher
als in Deutschland. Für schwarze amerikanische Männer ist die Rate
mehr als sechsmal höher noch: jeden Tag sitzt im Durchschnitt von
je fünf Schwarzen einer, eine Rate die über 50-Mal höher ist, als
der deutsche Durchschnitt (und die anderen europäischen Länder
sind so ähnlich).
Deutsche beunruhigen sich über das Vorhandensein von soviel
Faust- und Schnellfeuerwaffen in den USA, die in Deutschland streng
verboten sind. Da sieht man so was wieder als Überbleibsel der
NS-Zeit, ein Überrest des Barbarismus. Man ist auch über unsere
Kriminalitätsrate für Gewaltdelikte entsetzt. Man glaubt einfach
nicht an die amerikanische Chimäre, dass unsere Todesstrafe und
unsere Einkerkerungsmanie das Land sicherer gemacht hat. Es werden
pro Kopf viermal so viele Morde in den USA begangen als in
Deutschland (und zehnmal mehr als in Japan!). Allerdings sacken
unsere Kriminalitätsraten leicht ab und in Deutschland steigen sie
momentan leicht an.
All das und vieles mehr sorgte für die Geräuschkulisse,
sozusagen, aber für meine jungen deutschen HLT-Freunde wurde das
Problem erst dann individualisiert und kristallisiert als George W.
Bush 2000 mit weniger Wahlstimmen als Al Gore (47,87% zu 48,38%)
US-Präsident wurde und dann 2004 erwählt wurde, diesmal mit einem
Plus, aber einem sehr, sehr kleinen.
Ich werde heute nur ganz kurz erwähnen, wie verblüfft Europäer
über unser Wahlsystem sind, wo ein paar Wähler in einer Grafschaft
in Florida mit soviel Gewicht in die Waagschale fallen, dass die
Wahlmänner den Bush erwählen müssen, wo er doch nicht die
Mehrheit hatte. Illegale Abschreckungstaktiken, Anfechtungen von
Wahlberechtigten, "Durchspülung" der Wählerlisten im
letzten Augenblick, große Stehschlangen, kaputte Wahlmaschinen,
Software die gehackt wird ... all das muss in Deutschland wie ein
fernes Echo der Einschüchterung damals 1933 durch Braunhemden
klingen.
In Deutschland bekommt jede(r) Wahlberechtigte Wochen vorher mit
der Post den Wahlzettel zugeschickt. Wenn ein Fehler gemacht wird,
hat man Zeit zu reklamieren. Sogar dass wir am Dienstag statt am
Sonntag wählen ist verdächtig: will man etwa die Arbeiterklasse
von der Urne abhalten?
Wer weiß, ob der Dienstag als Wahltag - der früher ganz harmlos
für Bauern mit weiter Reise zur Urne gedacht war - tatsächlich die
Wahlbeteiligung nicht beeinträchtigt? Jedenfalls ist diese seit dem
Kriegsende in Deutschland so zwischen 80% und 90% geblieben - 1972
war sie sogar 91,1% - wogegen in Amerika für die Präsidentenwahl
die Beteiligung so um 50% herum bleibt- 1996 war sie sogar 47,2% -
mit kleinerer Beteiligung in den Kongresswahlen dazwischen: 1998 war
sie 34,7%.
Nachdem George Bush in den Mittelpunkt ihrer Besorgnis rückte
war dann für deutsche Mormonen die Tatsache noch problematischer,
dass man in Utah in Rekordzahlen für Bush stimmte. 2004 waren es
72% im ganzen Bundesstaat, in der Grafschaft Utah County sogar 86%.
Die englische Zeitung The Guardian berichtete (allerdings ohne die
statistische Methode zu klären), die Mormonen hätten bundesweit
90% für Bush gestimmt. Utah ist auch sehr zäh: während die
Beliebtheit für Bush im Moment bundesweit nur um 20% schwebt,
bleiben die Utahner ihm viel treuer, trotz Wirtschaftskrise. Der
Bundesstaat Idaho, mit seinen vielen Mormonen, hinkt nur ein
bisschen nach, Wyoming sowieso.
Es war natürlich der Krieg von Bush, der bei den jungen
Deutschen all dieses Interesse an den Wahlgewohnheiten der Mormonen
zuspitzte. Am 12.09.2001 zeigten über 200.000 Deutsche am
Brandenburger Tor und viele andere anderswo ihre Solidarität mit
den USA nach den Angriffen vom 11.09.
Innerhalb von ein paar Monaten hatte die Bush-Administration
diesen guten Willen zum größten Teil durch ihre einseitige Politik
und Alleingang-Mentalität vergeudet: durch ihre Opposition gegen
den Internationalen Kriminalgerichtshof, der eine Erweiterung der
Nürnberger Kriegsprozesse zu sein hatte; ihre Verweigerung, das
Kyoto-Protokoll über den Umweltschutz zu unterzeichnen; ihre offene
Geringschätzung der Vereinten Nationen und anderer internationalen
Organisationen und vieles mehr.
Dazu kommt das undiplomatische abfällige Geschwätz vom
Verteidigungsminister Donald Rumsfeld, der im Januar 2003
behauptete, nur "das alte Europa" wie Frankreich und
Deutschland stünde gegen den kommenden Irakkrieg, nicht "das
neue Europa" wie Polen, Rumänien und andere Ostblockstaaten
(für deren Unterstützung die USA übrigens mit großen Summen
Bestechungsgelder schon lange herausgerückt hatten).
Die Franzosen trugen da die Hauptlast, denn man machte sich in
USA über ihre vermeintliche Feigheit lustig, taufte "French
Fries" (Pommes frites) in "Freedom Fries" (Freiheits-frites)
um und betrieb sonst viel Quatsch und Schnickschnack darüber. Im
Februar 2003 legte Rumsfeld nach indem er behauptete, nur Lybien,
Kuba und Deutschland widersetzten sich gegen den kommenden
Irakkrieg, weil diese Länder "die Freiheit hassen."
Im Vorfeld zum Irakkrieg blieben Deutsche genauso
freiheitsliebend wie alle anderen, doch sie waren nicht überzeugt,
Saddam zu stürzen sei eine besonders gute Idee, besonders wenn man
die wackligen Gründe betrachtete, die die Bush-Administration
dafür angab.
Deutschland hatte schon seinen guten Willen bewiesen, indem es
schon früh 2002 Truppen nach Afghanistan schickte, trotz aller
Schwierigkeiten, die von der Verfassung herrühren, die
verständlicherweise die Abenteuerpolitik verbieten wollte: Deutsche
Truppen sollten nach 1945 lieber zu Hause bleiben und nicht
außerhalb von Deutschlands Grenzen tätig sein. Dessen ungeachtet
hatten Deutschland und seine Bürger nach heftigen Debatten
eingesehen, dass al-Qaida und die Taliban nicht nur die USA
gefährden. Neulich rückten weitere 1.000 deutsche Truppen nach
Afghanistan aus den selben Gründen nach.
Aber Afghanistan war eine Sache und der Irak ist eine ganz
andere. Während viele Amerikaner auf die Bush-Ente hereingefallen
waren, der Irak hätte uns angegriffen, sahen die meisten Deutschen
überhaupt keinen Zusammenhang zwischen al-Qaida und Saddam Hussein.
Die meisten Angreifer am 11.09 waren ja Saudis wie Osama Bin Ladin
selber. Keine waren aus dem Irak. Und außerdem wusste man schon,
wer sich überhaupt hat informieren wollen: al-Qaida ist eine
fanatische, fundamentalistische, religiöse Rechtsbewegung. Saddams
Arabische Sozialistische Ba'ath Partei dagegen war eine säkulare,
nichtkirchliche Linksbewegung (in Syrien immer noch an der Macht),
auf rationalistisches, sogar positivistisches europäisches Denken
basiert, wie z.B. auf das Denken von August Comte und von dem
deutschen Romantiker Johann Gottlieb Fichte. Der Wahlspruch der
Ba'ath Partei wurde sogar von einem deutschen Sozial-Demokratischen
Motto der Weimarer Zeit unmittelbar ins Arabische übersetzt:
Einheit, Freihei, Vaterland. Das bedeutet noch lange nicht, dass
Saddam ein netter, progressiver Kerl war, aber dies machte es sehr
unwahrscheinlich, dass Saddam und Osama sich gegenseitig riechen
konnten.
Im großen Ganzen glaubte man in Deutschland eben nicht an solche
Sachen wie Dick Cheneys oft verwendetes Mantra, dass al-Qaida sich
mit Saddams Agenten in Prag getroffen hätten, denn es gab keine
glaubwürdigen Indizien dafür, außer Judith Millers laufende
Artikel in der New York Times, welche sich auf unbenannte Quellen im
Weißen Haus beriefen - Cheney! - und die Cheney selber im
Teufelskreis falscher Informationen bei Talkshows Sonntagmorgen für
Sonntagmorgen zynisch aus seinem schiefen Mundwinkel zitierte:
"Sie brauchen mir ja nicht zu glauben, lesen Sie einfach selber
was in der New York Times darüber steht!"
Die meisten Deutschen waren ja eher skeptisch gegenüber der
lückenhaften und ungenauen Beweisführung der Bushies - jetzt ganz
und gar widerlegt worden - dass Saddam in Besitz von
Massenvernichtungswaffen gekommen sei - Urankonzentrat Yellow-Cake
aus Afrika! Aluminiumrohre für Zentrifugen!! - und gewillt sei,
diese Waffen ohne weiteres an jeden Terroristen weiterzugeben, auch
an seine eigenen Todfeinde al-Qaida.
Nach der Invasion des Irak vertiefte sich die europäische
Skepsis nur. Das gänzliche Fehlen von Plänen für einen möglichen
Aufstand der Irakis fiel mit der fixen Idee des monomanen Rumsfeld
zusammen, dass man mit viel weniger Truppen auskommen könne, da man
technisch den Irakis ja weit überlegen sei. Weitverbreitetes Chaos
im ganzen Irak war die Folge davon. Die "Koalition der
Willigen" hatte nicht einmal genug Soldaten, die Museen vor
Plünderung zu schützen, geschweige denn die großen
Munitionslager, die infolgedessen dann systematisch geladen,
fortgeschleppt, verborgen und nachher als "IEDs" als
Improvisierte Explosive Geräte (Devices) gegen Soldaten und gegen
die Bevölkerung ihre Verwendung fanden und noch finden.
Das Problem verschlimmerte sich, als wir dann ohne Planung
irgendwelcher Art von heute auf morgen allen Mitgliedern der
Ba'ath-Partei das Berufsverbot aufbrummten. Das war die sogenannte
Entba'athisierung, eine Schnapsidee von Paul Wolfowitz, Rumsfelds
Stellvertreter im Pentagon, der als Jude etwas über die
Entnazifizierung in Deutschland damals aufgeschnappt haben soll, der
aber auch nicht kapiert hatte, wie schlecht das auch in Deutschland
klappte! Die Entba'athisierung wurde in den ersten Stunden seiner
Amtszeit von Paul Bremer, dem Vorsteher der CPA (Coalition
Provisional Authority = Provisorischer Bevollmächtigter der
Koalition), nachdem er kurz mit Wolfowitz darüber sprach, aber ohne
dass er überhaupt mit dem Weißen Haus oder mit dem Auswärtigen
Amt ein Wort verloren hätte!
Die Entba'athisierung war dann ganz klar ein riesengroßer
Fehler, denn alle Kompetenzen des Landes wurden in einem Schlag
gefeuert: Polizei, Feuerwehr, Lehrer, Strom- Wasser-
Kanalisationsspezialisten, Ölfelder- und Raffineriefachleute ...
Aber in Saddams Irak waren ja alle Behördenbediensteten Mitglieder
der Ba'ath Partei, obschon die meisten einfach apolitisch waren.
(Bremers fatale Entscheidung wurde im Januar 2008 endlich
rückgängig gemacht.)
Ein noch entsetzlicher Fehler war es dann, schon 17 Tage nach
seiner Ankunft in Bagdad, dass Bremer das irakische Militär
auflöste, diesmal wieder ohne jegliche Rücksprache mit dem Weißen
Haus, der CIA, dem AA oder dem Pentagon. Da wusste buchstäblich die
linke Hand nicht, was die rechte tat, denn CIA und Pentagon Teams
hatten schon mit Iraki Offizieren mehrere Treffen mit dem Ziel, die
Armee zu reorganisieren. Die Auflösung ließ 400.000 junge Irakis
mit Waffen und mit Ausbildung an Waffen arbeitslos und auf der
Strasse, unbezahlt - auch für früheren Dienst - und extrem sauer.
Bis heute haben wir im tragischen Fiasko Irak mehr als 4.237
Tote. Sogar noch schlimmer, weil es lebenslänglich für so viele
Menschen ein Schrecken ohne Ende mit sich bringt, ist die Tatsache,
dass bis heute ca. 9- bis 10-mal mehr, also zwischen 30.000 und
40.000 US-Soldaten verwundet wurden, obwohl das Pentagon behauptet,
man zähle nicht die Verwundeten. Ironischerweise kommt dies zum
Teil daher, weil wir jetzt eine bessere Medizin haben, die oft die
Schwerstverwundeten rettet, manche, die von IEDs global am ganzen
Körper verwundet wurden, fast ausnahmslos auch am Kopf. Daher gibt
es auch heute eine erschreckend große Selbstmordrate unter den
Veteranen. Die USA behaupten auch die Zahl der Iraki Toten nicht
mitzuzählen, aber es sind gewiss mehr als 100.000. Einige
statistische Einschätzungen erreichen sogar 600.000. Die meisten
sind natürlich unschuldige Zivilisten. Millionen mussten fliehen,
viele über die Grenzen. Auch weiß kein Mensch, was dieser Krieg
alles kostet: vermutlich wird er Billionen und Aberbillionen kosten.
Vorerst wird er auf Pump geführt. Um die Sache in Perspektive zu
halten kann ich nur sagen, von der halben Billion, die schon
ausgegeben wurde, ist der Teil, der auf Utah fällt, ca. zwei
Milliarden Dollar.
In Afghanistan steigen nun die Verlustziffern auch stets an: bis
heute sind insgesamt 1.067 Koalitionssoldaten gestorben, darunter
645 Amerikaner und 28 Deutsche. Heute sieht man schon ein, dass
al-Qaida und die Taliban viel stärker geworden sind, dass der
Irak-Krieg uns nicht stärker sonder viel verwundbarer gemacht hat:
neue Rekruten für den Heiligen Krieg gegen den Westen fließen Tag
für Tag in die Region. Nach all den Verlusten in Blut und Geld
müssen wir von vorne anfangen.
Aber es gibt noch eine sehr beunruhigende Seite der Geschichte:
nach dem 7.10.2001, als man in Afghanistan mit der Operation
Enduring Freedom (Operation Dauerhafte Freiheit) begann, fingen wir
an, von den Gefangenen auf dem Schlachtfeld und von anderen
Gefangenen Auskunft - Geheimdienstinformationen - herauspressen zu
wollen. z.B. von dem ersten Gefangenen "auf höchster
Ebene" Abu Subaida, der auch als al-Qaidas Reiseagent bekannt
geworden ist.
Nach dem 20.03.2003, dem ersten Tag der Invasion des Iraks,
flossen noch mehr Gefangene in den wachsenden Strom derjenigen, die
vielleicht über künftige Angriffe Informationen verfügen. Auf
höchster Ebene, im Weißen Haus, wurde entschlossen, jetzt
"die Boxhandschuhe auszuziehen" und "mal auf die
dunkle Seite zu gehen" wie das Vizepräsident Dick Cheney
ausdrückte.
Die Frage war und ist, wieweit Amerika gehen wollte. Unsere
eigenen Soldaten hatten schon im zweiten Weltkrieg in japanischen
Gefangenenlagern die offizielle staatliche Folter erlebt und wir
haben den Tätern nach dem Krieg den Prozess gemacht. (Sogar die
Nazis haben unsere Soldaten besser als die Japaner behandelt, obwohl
sie gegen Sowjetgefangene u.a. viel grausamer handelten.)
Nachdem amerikanische Soldaten als Kriegsgefangene im Koreakrieg
von den Chinesen und Nordkoreanern gefoltert wurden, wurde vom
amerikanischen Militär ein Programm namens SERE entwickelt (Survival,
Evasion, Resistance, Escape = Überleben, Ausweichen, Widerstand,
Flucht), das unseren Soldaten künftig helfen soll, solche Folter
besser zu überstehen. Nachdem Abu Subaida gefangen wurde, stellte
die CIA zwei Psychologen als Fachberater an, welche anhand der
Berichte Gefolterter, die für SERE gemacht wurden, die ganze
chinesisch-koreanische Prozedur mit "Reverse Engineering"
(Rückentwicklung) nunmehr wiederherstellen sollten.
Diese beiden Fachberater - Bruce Jessen und James Mitchell - sind
Mormonen, also werden sie jetzt in der Presse und sonst wo die
"Mormonenmafia" genannt, die amerikanischen Wiedererfinder
von Foltertechniken, die zum Teil bis in die Zeit der Inquisition
zurückreichen. Ich lade Sie ein, diese beiden zu googeln um zu
lesen, was man über sie schreibt. Sie werden nicht gerade als
Vorbilder hingestellt und der Mormonismus wird ihretwegen von den
verschiedenen Kommentatoren nicht besonders hochgeschätzt.
(Übrigens: die große Schwachstelle in dieser hirnrissigen
Machenschaft ist gerade die Tatsache, dass unsere Leute damals unter
Folter allerhand Unfug aussagten, damit man eben doch aufhören
sollte. Warum man angenommen hat, wir würden echte
Geheimdienstinformationen durch solche Methoden einholen bleibt mir
ein Rätsel. Erfahrene Vernehmungsbeamten wie z.B. diejenigen bei
der Bundespolizei FBI - welche sich ganz stark gegen dieses Programm
wehrten - wussten ja, das man durch Folter keine brauchbare gültige
Auskunft kriegt.)
§2340 des US-Bundesgesetzbuches detailliert die Verpflichtungen
der USA gegenüber dem internationalen Übereinkommen gegen Folter
und andere grausame, unmenschliche und menschenunwürdige Verfahren
oder Strafen. In den USA ist Foltern ein Schwerverbrechen. Aber als
die Folter gegen Abu Subaida und andere nun ihren Weg nahm, begannen
sich Jessen und Mitchell und ihre Mitpeiniger zu fragen, ob sie sich
etwa für ernsthafte Verbrechen strafbar machen. Um sich davor zu
schützen, um sich den sogenannten "goldenen Schild" zu
holen, erbaten sie von ihren Vorgesetzten schriftliche Befehle.
Diese fanden über den Dienstweg, über die Befehlskette, nach oben
und stapelten sich im Weißen Haus. Also ging ein Gesuch von Alberto
Gonzales, dem damaligen persönlichen Advokaten von George W. Bush,
an das OLC, Office of Legal Council (Büro für Rechtsberatung) im
Justizministerium. Man wollte wissen, was Folter an sich ausmacht.
Wie weit dürfte man gehen? Hier begegnen wir in der Story, leider,
einem dritten Mormonen, stellvertretender Bundesjustizminister Jay
Bybee, magna cum laude, baccalaureus und juris doctor von unserer
alma mater Brigham Young University.
Bybee ist der Autor eines Memorandums vom August, 2002, das
später als "das Folter-Memo" bekannt und berüchtigt
wurde, obwohl man von der Logik und der Sprache her davon ausgehen
muss, dass Bybees eigener Assistent John Yoo auch dahinter steckt.
Weil Bybee es aber unterschrieb, nennt man es nicht das Yoo- sondern
das Bybee-Memorandum.
Dieses geheime Memorandum, das schließlich an die
Öffentlichkeit durchsickerte, kam zum Schluss, dass Versuche,
Auskunft aus Menschen herauszuquetschen nur dann vor dem Gesetz als
Folter angesehen werden können, wenn sie den Menschen fast töteten
bzw. für das ganze Leben seelisch ruinierten: "Körperlicher
Schmerz, um als Folter zu gelten, muss an Intensität äquivalent
mit dem sein, der von ernsthafter körperlicher Verletzung stammt,
z.B. Organversagen, Beeinträchtigung einer Körperfunktion oder
sogar vom Tod." Wenn seelische Qual als Folter eingestuft
werden sollte, müsste sie "in bedeutendem psychologischem
Schaden von erheblicher Dauer, d.h. Dauer von Monaten oder sogar
Jahren" enden. Ich möchte Sie alle einladen, im Internet einen
ganz neuen Dokumentarfilm vorzuschauen, vom öffentlichen
Fernsehsender PBS, mit dem Titel "Torturing Democracy"
(die Demokratie foltern) unter www.torturingdemocracy.org, der auch
bald landesweit im Fernsehen spielen wird. (Er wurde schon von
einigen PBS-Filialen gesendet. Man munkelt aber, die
Bush-Administration habe sich gegen den Film eingesetzt und der PBS
mit Geldentzug gedroht. Jetzt soll der Film erst landesweit am 21.
Januar, ausgerechnet am Tag nach der Inauguration des neuen
Präsidenten spielen dürfen.) Ich schlage Ihnen auch das neue Buch
von Jane Mayer vor, The Dark Side (die dunkle Seite) wie auch eins
von Barton Gellman, Angler (offizieller Codename für Dick Cheney).
Nachdem das Bybee-Memorandum bekannt wurde, und ich zitiere jetzt
kurz aus dem Wikipedia-Beitrag darüber, "war das [Bybee]
Memorandum ... der Anlass für weitverbreitete und lautstarke
Kritik. Harold Koh, Dekan der Jurafakultät der Yale University und
früherer stellvertretender Außenminister für Menschenrechte
nannte es die 'vielleicht eindeutigst falsche Rechtsansicht, die ich
je gelesen' und einen 'Makel auf unserem Recht und unserem
nationalen guten Ruf.' Jack Goldsmith, der Nachfolger von Bybee im
Justizministerium fand das Memorandum 'zutiefst mängelbehaftet' und
zog das Dokument 2004 zurück. Am 17. Oktober 2007 verwarf der
nominierte neue Generalstaatsanwalt Michael Mukasey vor einem
Ausschuss des Senats - unter Befragung vom Senator Patrick Leahy vom
Senatsjustizkomitee - das Bybee-Memorandum, indem er sagte, es sei
schlimmer als eine Sünde, es sei ein Fehler gewesen." [Zitatende]
Man hätte hoffen können, mit der Zurückweisung des Memorandums
hätte auch die offizielle Folter aufgehört, was aber leider nicht
der Fall gewesen ist. Ich lade Sie ein, einige oder sogar alle
folgenden Stichworte zu googeln. Selbst die einfachsten
Wikipedia-Einträge darüber werden Ihnen einen Einblick geben
inwiefern die Bush-Administration weiterhin unerhört die
US-Verfassung und die einfachsten Menschenrechte (z.B. habeas corpus
- Gesetz zum Schutze vor willkürlicher Haft) mit Füssen tritt.
Hier sind ein paar Stichworte:
Black Sites (schwarze Orte). Das sind geheime Gefängnisse, die
von der CIA in Polen, Rumänien, Indonesien, Thailand und sonst wo
unterhalten werden, wohin Gefangene heimlich hingeflogen werden, um
gefoltert zu werden. Die Bundesregierung in Berlin behauptete
ursprünglich, keine Kenntnisse davon zu haben, doch Aufklärer an
deutschen Flughäfen und Flugstützpunkten haben mindestens 85
solche Flüge während Zwischenlandungen in Ramstein, Rhein/Main
usw. beobachtet.
Extraordinary Rendition (außerordentliche Auslieferung). Das
Hüllwort bezieht sich auf das Kidnapping und die Auslieferung von
Menschen an Schurkenstaaten, wo überhaupt keine Bedenken gegen
Misshandlungen vorliegen. Von vielen Beispielen führe ich nur
veranschaulichend kurz eines an, nämlich das von Maher Arar, einem
kanadischen Ingenieur syrischen Ursprungs, der auf der Rückfahrt
von einem Familientreffen am Flughafen John F. Kennedy in New York
umsteigen musste. Er wurde dort verhaftet und nach Syrien geflogen.
Seine Familie wurde nicht informiert.
Nach fast einem Jahr Folter ließen ihn die Syrier laufen, weil
sie merkten, dass er über keine Informationen verfügte. Eine
Untersuchung in Kanada stellte fest, dass die Royal Mounted Police,
die kanadische Bundespolizei, ihn irrtümlicherweise an die
Amerikaner verraten hatte. Darnach bat ihn und seine Familie die
kanadische Regierung formell um Verzeihung und zahlte an ihn eine
Entschädigungssumme von 10,5 Millionen Dollar aus. Die USA habe
seinen Namen noch nicht von der Fahndungsliste verdächtiger
Terroristen gestrichen. Er hat inzwischen Cheney, Rumsfeld und Bush
den Prozess gemacht.
Für meine deutschsprachigen Freunde gibt es solche Fälle im
Nahbereich. Der Schweizer Senator Dick Marty vom Europarat
ermittelte intensiv im Fall Extraordinary Rendition und kam zu dem
Ergebnis, dass an die 100 Menschen in Europa gekidnappt und an
verschiedenen Orten gefoltert wurden, darunter einige deutsche
Staatsbürger. Einer davon, Khalid El-Masri, in Kuwait gebürtig und
mit einer Deutschen verheiratet, war Ende 2003 unterwegs in den
Urlaub. An der Grenze zu Mazedonien verschwand er vom Reisebus. Er
wurde von der CIA über Bagdad nach Afghanistan ausgeflogen und dort
in einem geheimen Gefängnis gehalten, das "the Salt Pit"
(das Salzloch) genannt wird, wo er bis Ende Mai 2004 gefoltert
wurde. Dann dämmerte es der CIA, dass man ihn mit einem
Verdächtigen namens Khalid Al-Masri verwechselt haben könnte: sein
deutscher Pass war echt. Also zauberte man ihn aus Afghanistan weg
und spuckte ihn mitten in der Nacht auf einer einsamen Strasse in
Albanien aus, ohne Geld und immer noch in der Gefängniskluft
bekleidet.
Natürlich hat ihn die albanische Polizei als verdächtiger
Terrorist verhaftet, bis er irgendwann einmal nach Deutschland
durfte und mit seiner Frau und seinen Kindern wiedervereint werden
konnte, welche inzwischen gemeint hatten, er hätte die Familie im
Stich gelassen. Sie waren nach dem Libanon gefahren, um ihn dort zu
suchen. Seine Bemühungen, seinen Peinigern den Prozess zu machen -
einschließlich dem Piloten der Entführungsmaschinen, deren Namen
inzwischen bekannt geworden waren, scheiterten bisher, denn die USA
verweigert ihm und seinem Advokaten die Einreise.
In einer bizarren Facette dieser bizarren Geschichte soll Khalid
letztes Jahr in Neu-Ulm einen Elektronikladen in Brand gesteckt
haben, weil ein iPod, den er dort gekauft habe, defekt gewesen sei
und man sich geweigert habe, ihm einen neuen zu geben. Er gab die
Brandstiftung zu, verteidigte sich aber indem er behauptete, die
Folter habe ihn geisteskrank und unzurechnungsfähig gemacht.
(Noch ein deutscher Staatsbürger, Mohammed Haydar Zammar, der
die Piloten vom 11.09. in Hamburg kannte, liegt anscheinend nach all
den Jahren immer noch in dem furchtbaren Gefängnis in Damaskus in
Syrien, wo eben Maher Arar gefoltert wurde.)
Ich kann hier nur ganz kurz solche Themen wie Abu Ghraib und
Guantanamo Bay anschneiden und will hoffen, dass Sie diese für sich
ausführlich erforschen werden. Ein Thema heißt: Unlawful Enemy
Combatant (widerrechtlicher feindlicher Kriegsteilnehmer), welche
Personen sind, die auf unbestimmte Dauer ohne Prozess verhaftet und
sogar hingerichtet werden dürfen, ohne allen Schutz durch das
Gesetz. Sie werden herausfinden, dass dies ein Versuch der
Bush-Administration ist, eine ganz neue Kategorie Mensch zu
erfinden, der außerhalb der Grenzen der Zivilisation leben und
sterben sollte.
Endlich möchte ich dann zu dem Problem Abhören kommen. Wir
haben auch in den letzten paar Tagen Zeugnisse gehört von denen,
die auf Horchposten gedient haben, welche nun zugeben, ohne auf
legalem Wege über den Sondergerichtshof FISA (Foreign Intelligence
Surveillance Act = Auslandsnachrichtenüberwachungsgesetz) allerhand
private Gespräche amerikanischer Staatsbürger abgehört,
aufgenommen und sogar aus Jux - wenn diese besonders pikant waren -
unter ihren Mitarbeitern verbreitet zu haben.
Aber all diese Probleme laufen auf etwas hinaus, was ganz
besonders beunruhigend ist, nämlich die "Unitary Executive"
(Einheitliche Exekutive), eine Theorie, promulgiert von der
Bush-Administration, welche besagt, dass der Präsident nicht nur
die Vorrechte des Präsidentenamtes innehat, sondern auch die der
Legislative und der Justiz. Hier begegnen wir wieder dem
bedenklichen juristischen Kopf von John Yoo, früher Assistent bei
Jay Bybee im Justizministerium, jetzt Professor der juristischen
Fakultät der University of California in Berkeley.
Ich zitiere wieder mal kurz aus Wikipedia: "Yoos Standpunkt
besteht unter anderem darin, dass die Heeresmacht - genau wie
dasVetorecht bzw. etwaige Begnadigungen durch den Präsidenten - von
Rechts wegen unnachprüfbar seien. Yoos Meinungen werden weitgehend
von Rechtsgelehrten als kontrovers angesehen und der Ansicht
zuwider, welche die meisten Verfassungsexperten vertreten. Glenn
Greenwald vertritt die Auffassung, dass Yoos Meinungen eine Art
'Ideologie der Gesetzlosigkeit' wiederspiegeln. Den Standpunkt von
Yoo wird von David Addington unterstützt, früher Ratgeber, nunmehr
Stabschef vom Vizepräsidenten [Dick Cheney], der ein ganz neues
Paradigma bzw. Denkmuster vertritt, welches möglichst viel
Flexibilität für das Handeln des Präsidenten bietet. ... Die
Kritiker argumentieren dagegen, dass die Stellung der Anhänger der
Theorie der Einheitlichen Exekutive - durch John Yoo ganz besonders
vertreten - im Klartext eigentlich besagt, dass der Präsident
verfassungsmäßig als Kriegsführer von keinem Gesetz, weder im
Inland noch im Ausland, eingeschränkt werden kann. Andere erwähnen
die Tatsache, dass der Standpunkt von John Yoo keineswegs vom
Führerprinzip abweicht und genau denen gleicht, die in
Polizeistaaten herrschen. Präsident Bush hat diese 'Theorie der
Einheitlichen Exekutive' in einer breiten Palette substanzieller
Fälle angewandt, oft in Verbindung mit 'Signing Statements'
(Erklärungen beim Unterschreiben) worin steht, wie die Exekutive
das besagte Gesetz zu konstruieren beliebt." [Zitatende]
Gestatten Sie mir, ganz kurz auszuführen, wie diese "Signing
Statements" funktionieren: Wenn Präsident Bush einen
Gesetzesentwurf durch seine Unterschrift zum Gesetz macht, kommt es
oft vor, dass er ein "Signing Statement" dazu
unterschreibt, das meist geheim bleibt, worin er aber oft seine
Absicht ausdrückt, das Gesetz, das er soeben in Kraft setzt, und
dabei das Kongress und den Obersten Gerichtshof, zu ignorieren. So
unglaublich das klingt, bedeutet dies im Klartext, dass der
Präsident sich tatsächlich für immun hält. Die New York Times
schrieb in einem Leitartikel Anfang 2008 folgendes: "Über die
letzten sieben Jahre stellte Mr. Bush hunderte solcher
hinterlistigen Dokumente aus, worin er ausdrückte, dass er
überhaupt nicht beabsichtigt, dem Gesetz zu gehorchen, das er
gerade unterschrieb."
Früherer Vizepräsident Al Gore sagte folgendes über die
Einheitliche Exekutive unter Bush: "Ein Präsident, der gegen
das Gesetz verstösst, stellt eine Gefährdung und Drohung für die
Grundstruktur unseres Staates dar. Unsere Gründungsväter waren
unnachgiebig felsenfest steinhart der Meinung, sie hätten eine
Regierung der Gesetze aufgestellt, nicht eine der Menschen. In der
Tat erkannten sie, dass die Struktur unserer Regierung welche sie in
unserer Verfassung niederlegten - unser System der gegenseitigen
Kontrolle - davon ausging, dass immer durch die Gesetze regiert
werden sollte. Wie es John Adams ausdrückte: 'Die Exekutive soll
nie die legislative bzw. die juristische Macht ausüben, oder beide,
mit dem Ziel, dass das eine Regierung der Gesetze sein sollte, nicht
der Menschen.' Eine Exekutive, die sich die Macht anmaßt, die
legitimen legislativen Anweisungen des Kongresses zu ignorieren bzw.
ohne die Kontrolle der Justiz, wird die zentrale Drohung, welche die
Gründungsväter in der Verfassung zu ersticken versuchten - eine
allmächtige Exekutive die an den König erinnert, von dem sie sich
soeben befreit hatten. In den Worten von James Madison: 'die
Anhäufung aller Mächte - legislativer, exekutiver und juristischer
- in denselben Händen, sei es in den Händen einer Person oder
mehrerer, sei es durch Erbschaft, Selbsternennung oder Wahl, kann
mit Recht als die Tyrannei selber definiert werden.'"[Zitatende]
Ich habe für Sie hier leider eine längere und detailliertere
Liste der Gründe skizziert als ich es gern hätte machen wollen,
warum sich unsere jungen deutschsprachigen Mitgläubigen über den
Stand der Dinge in Amerika Sorgen machen. Wir wollen uns zum Schluss
nun auf deren Besorgnis über die politischen Ansichten ihrer
Glaubensvetter in Utah konzentrieren. Wenn man Bush, Utah und
Popularität googelt, findet man solche interessanten Sachen wie den
folgenden Artikel in der New York Times vom Mai, 2006, mit dem
Titel: "All Polls Aside, Utah is Keeping Faith in Bush"
(Alle Volksbefragungen beiseite: Utah bleibt treu im Glauben an
Bush). Diese Zitate sind lehrreich:
"'Wenn ich ihn betrachte sehe ich einen Mann mit seinem
Herzen auf dem rechten Fleck,' sagte Delia Randall, eine 22-jährige
Mutter aus Provo, dem Mittelpunkt einer Grafschaft welche John Kerry
nur 11 Prozent der Wahlstimmen in der Präsidentenwahl 2004 gab.
'Ich mag George Bush, weil er gottesfürchtig ist, und so denken
viele hier in diesem Gebiet.'
'Er ist stark und er wankt nicht,' meinte Jaren Olsen, 18, ein
Student im ersten Semester an der Brigham Young Universität, der
grössten amerikanischen Privatuniversität mit religiöser
Zugehörigkeit, der aus Albany stammt. 'Mir gefällt, dass er für
die Familie ist, dass die Ehe nur zwischen einem Mann und einer Frau
sein sollte. Und der Krieg, ja, wir müssen zuende führen, was wir
begonnen haben.'
Eine Studentin im 5. Semester an der Brigham Young Universität,
Danielle Pulsipher, bot dem Präsidenten eine pauschale Beistimmung
an. Als sie gefragt wurde, welche seiner Handlungen ihr am besten
gefielen, fühlte sie sich sehr um eine Antwort verlegen. 'Ich bin
nicht sicher, was er gemacht hat, doch mir gefällt, das er
religiös ist - das ist sehr wichtig,' sagte Frau Pulsifer.
In Interviews sagten die Wähler durchaus einheitlich, dass sie
zu dem Präsidenten stünden, auch wenn sie mal Sachen aufzählten,
mit denen sie im Widerspruch stünden. 'Ich mag seine
Aufrichtigkeit' sagte Allison Wilkey, Mutter von drei Kindern.
Viele Demokraten in Utah sagen, sie halten mit ihrer Meinung
zurück. 'Wir reden ja gar nicht über die Politik, weil alle so
einseitig sind' sagte Sarah Rueckert, eine Mutter von drei Kindern
und eine Mormonin, die neulich zurück nach Utah umzog, nachdem sie
10 Jahre lang in solchen Städten wie Chicago, Portland und San
Francisco wohnte. 'Sie sind alle pro-Bush.'" [Zitatende]
Jetzt möchte ich eines kristallklar sagen: ich vergleiche Bush
gar nicht mit Hitler. Ich interessiere mich heute hier weniger für
Vergleiche zwischen Führern als für Vergleiche zwischen Wählern.
Mich interessiert, wie Wähler zu der Wahrheit kommen, wie sie
Entscheidungen treffen, Wahrheitsansprüche prüfen. Es wird auf der
einen Seite immer völkermörderische Psychopathen wie Adolf Hitler
geben. Andererseits wird es immer tragisch schwache unneugierige
vielleicht gutgemeinte inkompetente Dummköpfe wie George W. Bush
geben. Inzwischen verstreuen sich allerhand andere unerwünschte
Typen der Skala entlang, welche auch gern an die Macht kämen. Der
entscheidende Schlussstein in dem Kampf, solche Katastrophen zu
vermeiden - in welchem Land auch immer - liegt darin, dass die
Wählerschaft von vornherein meidet, solche Leute überhaupt erst
ins Amt einzusetzen, geschweige denn, für sie ein zweites Mal
(2004!) zu stimmen.
Eine Offenbarung durch den Propheten Joseph Smith in dem Buch der
Lehre und Bündnisse Abschnitt 98 (Verse 8-10) ist hier lehrreich:
"Ich, der Herr, Gott, mache euch frei, darum seid ihr wirklich
frei; und das Gesetz macht euch auch frei. Doch wenn die Schlechten
herrschen, trauert das Volk. Nach ehrlichen Menschen und weisen
Menschen soll man darum eifrig suchen, und gute Menschen und weise
Menschen sollt ihr bedacht sein zu unterstützen; andernfalls, was
auch immer weniger ist als diese, kommt vom Bösen."
Wichtigstes Umstandswort - Adverb - in dieser Schriftstelle ist
eifrig: man soll eifrig nach ehrlichen, weisen und guten Menschen
suchen. Anders ausgedrückt: wenn die Wähler uninformiert sind und
zu faul, das auszuüben, was man in der Welt der Wirtschaft und der
Justiz die Sorgfaltspflicht nennt, dann herrschen die Schlechten und
das Volk trauert irgendwann einmal. Aber die Sorgfaltspflicht ist
harte, harte Arbeit. Alle, die lesen können, dürfen nicht in
Wirklichkeit Analphabeten sein: sie müssen wirklich etwas lesen und
sie müssen lange über harte Tatsachen nachdenken und mit
intelligenten Menschen diskutieren.
Genauso wie Despoten wie Adolf Hitler demokratische Institutionen
z.B. Parlamente hassen und sie ungeduldig als
"Debattenklubs" von der Hand weisen, so hassen auch
Lemmingähnliche Mitglieder von Wählerblöcken die harte
analytische Arbeit als Individuen, das Lernen über die vielen
Probleme und Kandidaten. Sie lassen sich sehr ungern von anderen
eines Besseren belehren. Das ist eine Art intellektueller Faulheit.
Es ist das Gegenteil von dem, was wir uns von Universitätsstudenten
erhoffen. Es ist das Gegenteil von dem, was Helmuth Hübener tat.
Wenn die "Anderen" etikettiert werden und z.B. als
"Pro-Abortion" (abtreibungsfreundlich) bzw. als
"Babykiller" verworfen werden, und die "Unseren"
sich als "Pro-Life" (Pro-Leben) definieren, dann ist es
ein Leichtes, sich zu überzeugen, dass man als religiöser Mensch
auf der richtigen Seite steht, ohne dass man das harte Nachdenken
über ein extrem komplexes und heikles Problem macht. So ist es ganz
leicht: "Ich stehe auf sicherem moralischem Boden und die
Anderen nicht. Es ist ja schwarz und weiß." Darum hat mich
neulich ein neu dazugezogener Nachbar gefragt - übrigens ein sehr
netter Mensch, allerdings nicht gerade mit Wissen überbelastet -
und ein Mitglied meines Hohenpriesterkollegiums: "Wie können
Sie Mitglied der Demokratischen Partei und der Mormonenkirche sein?
Demokraten sind ja bekanntlich Babykiller!"
Tja, das wirkliche Leben ist ein bisschen komplizierter, denn
gerade vor ungefähr sechs Wochen ist unserer Familie so etwas
passiert, als unsere sehr beliebte Schwiegertochter Amy ihre
Schwangerschaft hat unterbrechen müssen, um ihr Leben zu retten.
Sie hatte nämlich die Hiobsbotschaft empfangen, ihr Baby sei ein
Triploid mit 69 Chromosomen statt der normalen 46, weil zwei
Spermien genau zur selben Zeit in das Ei gedrungen waren. Das
grösste Problem bei solchen Fällen - wie wir rasch nachlernen
mussten - besteht darin, dass diese auch Molarschwangerschaften
genannt werden, Fälle, wo der Mutterkuchen aus Krebszellen besteht,
die sich tief in die Wand der Gebärmutter eingraben.
Wenn eine solche Molarschwangerschaft nicht sofort unterbrochen
wird und alle Zellen mit 69 Chromosomen entfernt werden, wird die
Mutter über kurz oder lang an Krebs sterben. Es versteht sich von
selbst, dass der Fötus nie lebensfähig war: unsere kleine Enkelin
hatte kein Zerebellum - Kleinhirn - und litt an ungefähr 100
anderen tödlichen Geburtsschäden. Zum Glück wohnt Amy in London
(als das Problem bekannt wurde, weilte sie bei uns in Utah, wo es
viel schwieriger gewesen wäre, erstklassiges ärztliches Talent auf
diesem Gebiet zu finden, weil unsere Gesetze hinterherhinken).
Stellen Sie sich mal vor, wie das in South Dakota sich ausgetragen
hätte, wenn das Gesetz, das neulich dort promulgiert wurde, in
Kraft getreten wäre: es stellt ein globales Verbot für alle
Abtreibungen dar. Das wäre vielleicht für meinen Nachbarn eine
Genugtuung, für unsere Familie und für Amy, für ihre anderen
Kinder und für unseren Sohn wäre sowas eine wahre Katastrophe
gewesen.
Vor einigen Jahren, in einer ähnlichen Situation wo ich der
Bischof war von einem jungen Ehepaar mit einem solchen Problem,
schlug ich im Handbuch für Bischöfe nach. Ich war erstaunt zu
sehen, wie nuanciert und differenziert-durchdacht, wie weise und wie
mitfühlend der Standpunkt der Kirche in Bezug auf die Abtreibung
eigentlich ist, soviel anders als das, was wir normalerweise an
Panikmache und Beschimpfungen zum Thema Abtreibung immer hören.
Letzten Endes ist meine Vision für die Mormonen als tätige
Teilnehmer in repräsentativen Demokratien weltweit die folgende:
wir sollten aufhören, Ideen und Etiketten "von der
Stange" rechtsgerichteter politischer Gruppen zu kaufen. Keine
"Einheitsgrösse" und keine "Konfektionswaren"
mehr. Wir sollten unseren eigenen tiefsten Überzeugungen und
unserer tiefsten Theologie ihre eigenen passenden politischen
Kleidern maßschneidern und sie auf dem Markt der politischen Ideen
frei herumlaufen lassen, gleichgesinnte Freunde zu gewinnen.
Wie es heute steht, kaufen wir in den USA meistens von der
Republikanischen Stange, aber dafür kriegen wir überhaupt keine
Beachtung seitens der Republikaner, welche unsere Wahlstimmen für
selbstverständlich halten, geschweige denn seitens der Demokraten,
die uns für einen hoffnungslosen Fall halten. Letzte Woche nannte
die Deseret News Utah den Rodney Dangerfield unter den
US-Bundesstaaten: "We just don't get no respect!" (Dangerfield
= ein bekannter amerikanischer Humorist, dessen Pointe, bzw.
Kehrreim heißt: ich krieg' doch eben keinen Respekt nicht ab!)
Wie wäre es, wenn wir uns von unseren faulen "dito"
Denk- und Wahlgewohnheiten befreiten und uns unsere eigenen hohen
politischen Ziele steckten? ("Dittoheads" sind in Amerika
diejenigen, die den nicht gerade moderaten rechtsradikalen
Radio-Talkshow Moderator Rush Limbaugh hören und seine Meinung
immer mit lauten "Ditto!-" Rufen - hört, hört!! -
unterstreichen.) Wie wäre es, wenn wir eine kohärente und
flächendeckende Reihe eigener politischen Ziele artikulierten, die
uns maßgeschneidert wären und auf der Bergpredigt von Jesus
Christus bzw. der Turmpredigt von König Benjamin im Buch Mormon
basiert wären, statt die "Keilpolitik" anderer von der
Stange zu kaufen?
So könnte das vielleicht anfangen: Uns liegt die Heiligkeit der
Erde und die Heiligkeit allen Lebens darauf am Herzen. Wir sind voll
von Mitgefühl für die Armen, die Hungrigen, die Nackten, die
Kranken, für diejenigen ohne gesundes Trinkwasser oder anständige
Schulen für ihre Kinder. Wir wollen mit dem ganzen Herzen das Beste
für alle Menschen, seien sie von welcher Rasse, Glaubensrichtung
oder Hautfarbe auch immer, denn wir wissen an Hand von unseren
Doktrinen, dass sie unsere buchstäblichen Brüder und Schwestern
sind. Wir sind entsetzt über alle Erscheinungsformen des Vorurteils
und eifernder Borniertheit. Wir respektieren aufs Aufrichtigste
andere Kulturen und Glaubensrichtungen, denn wir wollen ja auch
selber wegen unserer Kultur und Glaubensrichtung respektiert werden.
Wir versenden Boten in die fernsten Ecken der Erde und wollen sie
sicher und willkommen wissen, genauso wie wir hierzulande Fremde
ohne Vorurteile willkommen heißen.
Wir haben ein starkes Verlangen nach Frieden, nach einer Welt
ohne Misshandlung, Gewalt, Folter, Diebstahl und Betrügerei. Wir
sind fest entschlossen, dass es für alle Menschen Wahrheit,
Fairness und Gerechtigkeit geben soll. Ganz besonders wollen wir,
dass alle Kinder in der ganzen Welt jede Gelegenheit haben, in einer
gesunden, sicheren Milieu zu lernen und aufzuwachsen...
Wir werden ehrliche, weise und gute Kandidaten unterstützen,
egal von welcher (legitimen!) politischen Partei, welche den
Weitblick und das politische Können besitzen, um uns zu helfen,
soviele von unseren Ansichten wie möglich zu realisieren, also
unter maximaler Mitwirkung unserer Mitmenschen guten Willens.
Solches würde tiefgreifende Implikationen für allerhand
politische Fragen haben, für die Umwelt, die Immigrationspolitik,
die Steuerpolitik, die Außenpolitik... Sicherlich müssten unsere
Ideen in die Sprache des jeweiligen breiteren politischen Diskurses
übersetzt werden, aber diese Belange blieben als unser Prüfstein.
Wer unsere Unterstützung begehrt, der sollte unseren Wünschen
ernsthaft engegenkommen.
Wenn eine Zeit käme, wo Mormonen als Wähler in allen Parteien
geschätzt und umworben würden, könnte dann unser mäßigender
Einfluss davor bewahren helfen, dass diese extrem ausscheren, denn
unser Prüfstein bliebe die Bergpredigt und die Turmpredigt.
In den USA haben wir ja schon genug Mitglieder, beide Parteien
positiv zu beeinflussen. Wenn unsere Zahlen wachsen, hier und
sonstwo in der Welt, könnten wir einen überaus positiven Einfluss
haben, aber nur, wenn wir nicht wie heute in Utah handeln!!
Amerika ist für mich das grosse Signalfeuer der Welt, die grosse
Hoffnung für eine aufgewühlte Welt und deren leidende Menschheit.
Mein Schmerz darüber, wie unsere demokratischen Ideale verschmutzt
wurden, wie unsere Prestige in der Welt angeschlagen ist, ist jedoch
nicht grösser als meine Überzeugung, dass wir Mormonen dieses
ändern helfen können, nicht einfach weiter hinterher laufen. Das
Evangelium ist wahr und wir können es viel besser machen, genau wie
Helmuth Hübener - und die anderen wir er - es unter viel
schlechteren Umständen von 66 Jahren getan haben. Ich will nur,
dass wir und alle Leute überall wieder auf Amerika stolz sein
dürfen und ich will, dass wir auf uns selber stolz sein dürfen,
indem wir intelligent und eifrig zum Aufbau gerechter und
menschlicher Gesellschaften in der ganzen Welt mitmachen.
Ich schließe mit den Worten des Heilandes zu den frühen
Aposteln. Er sagte ihnen: "Siehe, ich sende euch wie Schafe
mitten unter die Wölfe. Darum seid klug wie die Schlangen und ohne
Falsch wie die Tauben." (Matthäusevangelium 10, Vers 16). Das
ist auch vielleicht der beste politische Rat für die Mormonen in
der ganzen Welt, damals wie heute. Es ist mein Gebet, wir werden dem
gewachsen sein.
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