03.03.09
Gaza, Kritik an Israel und der Verdacht des
Antisemitismus
Wo steht linke Politik im
Konflikt zwischen Palästinensern und Juden?
Mit Genehmigung der Autorin Ellen Brombacher und des Neues
Deutschland, Sozialistische Tageszeitung, Forum, 31.01.2009,
veröffentlicht die VVN-BdA NRW diesen Beitrag zum Thema "Gaza,
Kritik an Israel und der Verdacht des Antisemitismus – wo steht
linke Politik im Konflikt zwischen Palästinensern und Juden?"
Das Schweigen aber ... es ist keine Alternative
Von Ellen Brombacher
Auf der gegen die israelische Aggression im Gaza-Streifen
gerichteten Demonstration am 17. Januar 2009 in Berlin trug ein vor
mir laufender Mann ein Plakat mit der Aufschrift: "Schluss mit
dem Holocaust in Gaza".
Ich kämpfte lange mit mir. Ich fragte mich: Habe ich in
Anbetracht der grauenhaften Ereignisse in Gaza das moralische Recht,
dem Mann - es war, wie ich später erfuhr, ein Palästinenser - zu
sagen, dass dies ein unzulässiger Vergleich ist? Zugleich bewegte
mich die Frage: Habe ich im Wissen um die Shoah das Recht, dieses
Plakat einfach zu übersehen?
Schließlich sprach ich ihn an. Als er mir all die furchtbaren
Tatsachen aufzählte, die das Leben und Sterben der Palästinenser
in Gaza bestimmen - die Blockade, die Bombardements, die ermordeten
Kinder - antwortete ich ihm, eben deshalb sei ich hier, und ein
Verbrechen müsse als Verbrechen benannt werden dürfen. Dennoch sei
der Vergleich mit dem Holocaust nicht richtig und schade daher auch
dem Anliegen der Demonstration. Hier schaltete sich seine
Gefährtin, eine Deutsche, ein. Sie teile meine Auffassung. Deshalb
sei sie auch nicht bereit gewesen, dieses Plakat zu tragen.
Welcher Gruppierung ich angehöre, fragte mich der Mann. Ich sei
Kommunistin, Mitglied der LINKEN; sei Deutsche und Jüdin.
Erstaunen. Und dann die Frage: "Und dennoch bist Du hier?"
"Selbstverständlich. Ich verurteile die israelische
Aggression." Wir verabschiedeten uns. Kurze Zeit darauf trug
der Palästinenser das Plakat nicht mehr. Wir verloren uns zunächst
aus den Augen.
Eher keine so zu erwartende Geschichte. Jenseits von Stereotypen.
Auch deshalb sei diese gegen eine von Vorurteilen dominierte
Äußerung Stephan J. Kramers, Generalsekretär des ZR der Juden in
Deutschland, gesetzt. "Weltweit", so Kramer am 15. Januar
2009, "wird der Ruf nach einer sofortigen Einstellung der
israelischen Operation im Gaza-Streifen laut und lauter. Und wieder
steht der Judenstaat in der Öffentlichkeit als der
Friedensverweigerer da. ›Quod erat demonstrandum - die bösen
Juden‹, jubeln die üblichen Kritiker, und viele, die es nicht
besser wissen, stimmen ihnen zu."
Hat Kramer in Anbetracht von Hamas-Raketen auf Südisrael recht?
War der Ruf nach einer sofortigen Einstellung der als
Selbstverteidigung deklarierten israelischen Operation im
Gaza-Streifen fragwürdig oder gar antisemitisch geprägt? Ich
meine: Nein. Bietet die Verurteilung dieses Krieges Antisemiten
Spielräume? Durchaus. Muss also zum Krieg schweigen, wer sich dem
Vorwurf nicht aussetzen will, Antisemit zu sein? Und umgekehrt:
Dürfen wir antisemitische Töne tolerieren, weil Israels Krieg so
abscheulich ist?
Dem Nahost-Konflikt lässt sich weder unter der Losung "Tod
Israel!" beikommen, noch mit jenen im BAK Shalom üblichen
Phrasen. Wer, wie dieser beim - der LINKEN nahestehenden -
Jugendverband ['solid] angesiedelte Bundesarbeitskreis Shalom, die
Solidarisierung mit den von Besatzerwillkür geschundenen
Palästinensern ablehnt, der sollte für sich nicht in Anspruch
nehmen, Lehren aus dem Faschismus gezogen zu haben.
Okkupationspolitik im Sonderfall Absolution zu erteilen, weil die
heute in Israel Herrschenden vorgeben, ihre Politik diene den
Interessen einer über Jahrhunderte verfolgten Minderheit, kann
nicht die Sache von Linken sein.
Seit mehr als vierzig Jahren hat Israel - gegen die Weltmeinung
und die der UN - palästinensisches Gebiet okkupiert und dessen
Bewohner um ihr Selbstbestimmungsrecht betrogen; seit fast zwanzig
Jahren, und zwar bevor die ersten Selbstmordanschläge stattfanden,
hat Israel den Gaza-Streifen, gipfelnd in einer völligen Blockade,
abgeriegelt. Nicht denkbar ohne die USA, schwer vorstellbar ohne die
EU. Und da sollen die Linken, zu deren Selbstverständnis doch seit
je ihre Mitwirkung beim Emanzipationskampf aller Menschen und
Völker gegen Ausbeutung und Unterdrückung gehört, schweigen?
Okkupationspolitik im Sonderfall Absolution zu erteilen, weil die
heute in Israel Herrschenden vorgeben, ihre Politik diene den
Interessen einer über Jahrhunderte verfolgten Minderheit, das kann
nicht die Sache von Linken sein.
Zugleich ist es Pflicht der Linken, nicht zu ignorieren, dass der
Antisemitismus zunimmt, eine üble Flut; verbrecherisch in seinem
Ergebnis. Alte, schon von den Faschisten hochgeputschte
"Theorien" über die jüdische Weltverschwörung werden an
Stammtischen erneut "diskutiert". Und die
Holocaust-Leugnung ignorierend, nutzt ein deutscher Papst die Gunst
der Stunde. Nichts rechtfertigt dies. Niemand sollte die verheerende
Tradition bedienen, die da meint, am Antisemitismus seien die Juden
selber schuld. Ich weiß, dass es manchmal schwer ist, genau zu
bestimmen, wo Grenzen überschritten werden und Kritik an Israel in
das Wiederaufleben antijüdischer Ressentiments übergeht. So wenig
der Vorwurf gerechtfertigt ist, Kritik an Israel sei per se
antisemitisch, so wenig ist Antisemitismus unter der Flagge der
Israelkritik ein Kavaliersdelikt.
Die Linken müssen diese Gratwanderung bewältigen, weil alles
andere Spaltung bedeutet. Das ist ein ungeheurer Anspruch an unseren
Intellekt und an die emotionale Intelligenz. Noch einmal: Die
Existenz von Antisemitismus liefert keine Begründung für die
Akzeptanz der israelischen Regierungspolitik und die von Heuchelei
begleitete, zur Staatsräson erklärte, vorbehaltlose Unterstützung
dieser Politik durch die Offiziellen der BRD. Das Vorhandensein von
Antisemitismus entschuldigt auch nicht, dass Klaus Lederer (DIE
LINKE) sich am 11. Januar 2009 dazu hergab, ausgerechnet auf einer
erklärtermaßen die israelische Aggression rechtfertigenden
Kundgebung zu sprechen. Und ich schreibe dies in Kenntnis der dort
von ihm gehaltenen Rede.
Zugleich gilt: Das Wissen um den latent vorhandenen
Antisemitismus und um die Möglichkeit für Antisemiten, diesen in
scheinbarer Kritik an Israel auszuleben, verpflichtet nicht zum
Schweigen, sehr wohl aber zu angemessenen Tönen, die jeden Verdacht
unmöglich machen, Judenhass sei im Spiel. Oder welcher Verdacht
sonst sollte aufkommen, wenn auf Demonstrationen Parolen ertönen
wie "Tötet alle Juden", "Judenschweine" oder
"Juden raus"?
Freilich: Letzteres kostet niemanden das Leben - gegenwärtig!
Aber Antisemitismus lässt sich nicht verhandeln ohne
Geschichtsbezug. Und auch die schrecklichen Geschehnisse im Nahen
Osten lassen sich nicht ohne diesen Rückblick verstehen. Ich teile
die von Moshe Zuckermann im April 2008 in der
Rosa-Luxemburg-Stiftung geäußerte Position: "Was immer
inzwischen am israelischen Shoah-Gedenken ideologisiert worden ist,
in Abrede kann nicht gestellt werden, dass die Shoah noch immer als
Grundmatrix der israelischen Staatsgründung erachtet werden muss
..."
Um jedes Missverständnis zu vermeiden: Weder die Jahrhunderte
andauernde grausame Verfolgung der Juden, noch Auschwitz als Symbol
des Unfassbaren und doch so real Gewesenen rechtfertigen das
schlimme Schicksal der Palästinenser: Den ihnen alltäglich
widerfahrenden Rassismus, die Vertreibungen, ihr Elendsdasein in
Flüchtlingslagern, die ungesühnten Massaker von Sabra und Schatila,
die Blockade Gazas, die Kriege von 1967, 1982 und 2007 sowie die
jüngste, Menschenrechte zerfetzende Aggression.
Im Gegenteil: Auschwitz ist der Schrei nach Menschlichkeit. Aber
Auschwitz ist auch der Schrei: "Mit uns nie wieder!" Der
ist ebenso berechtigt, wie er missbrauchbar ist. Und er wird von den
Herrschenden in Israel unerträglich missbraucht. Und die sind nicht
isoliert. Sie vertreten zugleich die imperialistischen Interessen
der USA und der NATO in der Region. Dass der, seine Waffen auf
Palästinenser richtende, die Uniform der israelischen Streitkräfte
tragende Enkel des Auschwitz-Überlebenden nicht an imperiale
Interessen, aber vielleicht - in der Überzeugung, das Existenzrecht
Israels zu verteidigen - an seine im Gas erstickten Vorfahren denkt,
ist von tiefer Tragik.
An der imperialen Interessenlage ändert dies nichts! Und für
die geschundenen Palästinenser - zumal sie daran keinerlei Schuld
tragen - sind die aus der Geschichte der Juden resultierenden
Traumatisierungen nicht nachvollziehbar. Zu sehr ist ihre Gegenwart
traumatisierend.
Für politisch aufgeklärte Menschen kann es nur einen Weg geben,
sich der Lage im Nahen Osten zu stellen: Die realen Interessen zu
analysieren, um die es dort wirklich geht, gepaart mit einem hohen
Maß an emotionaler Intelligenz, welche die aus der Geschichte
beider Völker resultierende Brisanz des Nahost-Konflikts erfasst.
Solcherart Herangehen lässt weder Platz für irgendeine Spielart
des Rassismus im Umgang mit den Palästinensern, die Islamophobie
eingeschlossen, noch für den mörderischen Antisemitismus.
Man lese wieder einmal das Standardwerk "Der gelbe
Fleck" von Rosemarie Schuder und Rudolf Hirsch. Und ich
empfehle nachdrücklich Hans Lebrechts Schrift "Die
Palästinenser" - ein einzigartiges Lehrbuch. Auch wenn er es
bereits vor einem Vierteljahrhundert geschrieben hat, sind doch die
von ihm beschriebenen Ursachen und Charakteristika des
Nahost-Konfliktes in den seitdem vergangenen Jahrzehnten im
Wesentlichen geblieben. Einseitigkeiten und Verkürzungen wird man
bei ihm vergeblich suchen. Er schreibt über die verheerende Rolle
der britischen Kolonialmacht bei der Schürung der Konflikte
zwischen Palästinensern und Juden ebenso wie über das
konfliktschürende Verhalten der Protagonisten des Zionismus und der
arabischen Reaktion. Einfache Antworten auf eines der
kompliziertesten internationalen Probleme lässt er nicht zu, und
zieht wohl gerade deshalb mit Selbstverständlichkeit den Schluss,
dass in diesem Konflikt zweifelsfrei die um ihre verbrieften Rechte
kämpfende palästinensische Bevölkerung die Hauptlast trägt.
Durch die Jahrzehnte hindurch blieben auch die unabdingbaren
Forderungen aktuell, dass es weder eine Existenz des jüdischen
Volkes auf Kosten des palästinensischen geben darf, noch eine
Infragestellung der Existenz des Staates Israel. Ein solcher Zustand
ist nicht herstellbar ohne den Rückzug der israelischen Armee aus
den widerrechtlich besetzten Gebieten, ohne die Beendigung der
Siedlungspolitik und ohne eine Lösung der Flüchtlingsfrage.
Auch in der LINKEN ist der Streit über all diese Fragen
entbrannt, so darüber, ob die Partei der Staatsräson verpflichtet
ist, wenn es um das Verhältnis zu Israel geht. Ich gehöre zu
jenen, die sich diese Diskussion nicht gewünscht haben. Andere
haben sie provoziert. So der BAK Shalom und dessen Unterstützer.
Der BAK Shalom versteht sich selbst als "Plattform gegen
Antisemitismus, Antizionismus, Antiamerikanismus und regressiven
Antikapitalismus". In seiner Grundsatzerklärung heißt es:
"Dass Linke häufig reaktionäre Regime verteidigen, statt
diese zu kritisieren, resultiert aus einem obsoleten
Antiimperialismus ... Das Kernstück des Antiimperialismus ist der
Hass auf die Vereinigten Staaten von Amerika, auf die alle Übel der
Welt projiziert werden. Im schlimmsten Fall wird die vermeintliche
jüdische Dominanz angeprangert. Dies ist die offene Flanke hin zum
Antisemitismus."
Mit anderen Worten: Wer aggressive, expansionistische US-Politik
kritisiert, muss damit rechnen, dass ihm Antisemitismus vorgeworfen
wird. Mit diesem Vorwurf verbindet sich eine Ungeheuerlichkeit: Das
Gedenken an die sechs Millionen grauenhaft ermordeter Juden soll,
einem moralischen Schutzschild gleich, vor das aggressive Agieren
des "modernen" Imperialismus gehalten werden.
Unübersehbar die Absicht: Antikapitalistische und
antiimperialistische Kämpfe sollen diskreditiert werden. Letztlich
geht es dabei vor allem darum, die in der Partei DIE LINKE und im
ihr nahestehenden Jugendverband gleichermaßen vorhandenen
friedenspolitischen Prinzipien über Bord zu werfen. In einer von
namhaften Unterzeichnern getragenen Erklärung "Staatsraison
und Regierungsbeteiligung", Mai 2008, erfolgt die prinzipielle
Auseinandersetzung mit dieser Absicht.
Um auf den Anfang meines Artikels zurückzukommen: Nachdem ich
mich an jenem 17. Januar von dem Palästinenser und seiner deutschen
Gefährtin verabschiedet hatte, trafen wir bei der
Abschlusskundgebung am Brandenburger Tor noch einmal aufeinander.
Miteinander redend, so als kannten wir uns seit langer Zeit, gingen
wir dann gemeinsam bis zum Potsdamer Platz. Es wurde zu einem
wichtigen Miteinandersprechen - für uns alle drei. Zum Abschied
umarmten wir uns, und ich wünschte mir, dass ich die beiden nicht
aus den Augen verliere. Aus meinem Gedächtnis ganz sicher nicht.
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