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Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes
Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten

Landesvereinigung NRW

 

09.11.08

Zum 09.11.1938 

Zerreißen wir den Schleier über den NS-Verbrechen der Wirtschaft

Rede von Ulrich Sander, Bundessprecher der VVN-BdA, am 8. 11. 08 auf dem Gelände der ehemaligen Springorum-Villa, Hainallee, Dortmund beim Antifaschistischen Spaziergang zum 70. Jahrestag der Reichspogromnacht

Nachdem der konservative Politiker und Ex-Reichskanzler von Papen mit Hitler am 4. Januar 1933 im Hause des Kölner Bankiers v. Schröder die Weichen für die Machtübertragung an Hitler und seine bald alleinherrschende Partei gestellt hatten, besuchte von Papen am 7. 1. die Villa Springorum. Hier stand sie. Hier klärte er mit den Herren der "Ruhrlade" die Einzelheiten der Machtübertragung und machte weitere Millionen Reichsmark für die Nazipartei locker. Die Teilnehmer waren u.a. Friedrich Springorum vom Hoesch-Konzern und Albert Vögler, Vereinigte Stahlwerke. Wir erinnern heute auch an die Verbrechen der Wirtschaft in der Zeit von 1933 bis 1945, an ihrem Anteil an Krieg, Unterdrückung, Völkermord und Holocaust.

Die antijüdischen Aktionen des Jahres 1938 gipfelten im Novemberpogrom, höhnend und verniedlichend "Reichskristallnacht" genannt. SA- und SS-Trupps, zivil getarnt, sowie andere Nazis zerstörten am 9. und 10. November 1938 Tausende jüdische Geschäfte, Wohnungen und Synagogen. Von offizieller Seite wurden 91 Todesopfer angegeben. Die tatsächliche Zahl der Todesopfer lag höher. Etwa 30.000 jüdische Männer wurden - meist für mehrere Wochen - in die Konzentrationslager Buchenwald, Sachsenhausen und Dachau eingesperrt. Die Nazis drängten sie zur Auswanderung und Aufgabe ihres Besitzes.

Die Schäden des Pogroms wurden von der "Reichsgruppe Versicherungen" auf 49,5 Millionen Reichsmark beziffert. Im Auftrag Görings wurde den Juden zum "Schadensersatz" eine Kontribution auferlegt, die schließlich 1,127 Milliarden RM betrug. So reiht sich die Reichspogromnacht ein in die Reihe der Verbrechen der Wirtschaft in jener Zeit. Denn der "Schadensersatz", das waren die Versicherungssummen und Bankkonten jüdischer Menschen in Deutschland und Österreich, wurde in die Rüstungsindustrie gesteckt. Sie machte ungeahnte Profite.

Gleich nach dem Pogrom, am 12. November 1938, fand unter der Leitung von Hermann Göring im Luftfahrtministerium eine Sitzung statt, auf der die weitere "Judenpolitik" verkündet wurde. Göring, zweiter Mann nach Hitler, ging es bei dieser Zusammenkunft vor allem um den zügigen Abschluss der "Arisierung" der deutschen Wirtschaft. "Bei der Arisierung der Wirtschaft ist der Grundgedanke folgender: der Jude wird aus der Wirtschaft ausgeschieden und tritt seine Wirtschaftsgüter an den Staat ab", erklärte Göring.

Einen Ausblick auf die nächste Zeit gab Göring mit folgenden Ausführungen: "Wenn das Deutsche Reich in irgendeiner absehbaren Zeit in außenpolitischen Konflikt kommt, so ist es selbstverständlich, dass auch wir in Deutschland in aller erster Linie daran denken werden, eine große Abrechnung mit den Juden zu vollziehen." Der Novemberpogrom war also der Auftakt zum Krieg und zur Vernichtung der europäischen Juden.

Im Herbst 1938, so zeigt eine Bestandsaufnahme der "Arisierung", d.h. Liquidierung jüdischen Eigentum in der Wirtschaft, waren von den ehemals rund 100.000 jüdischen Betrieben nur noch etwa 40.000 in jüdischem Besitz; von den 50.000 Einzelhandelsbetrieben nur noch 9000. Ende 1937 waren 30.000 jüdische Arbeitslose registriert. Bereits im Frühjahr 1938 waren es doppelt so viele. 1933 wurde jüdisches Vermögen auf rund 12 Milliarden RM geschätzt, im April 1938 auf weniger als die Hälfte.

Mit der "Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben" vom 12. 11. 1938 wurden Juden als Eigentümer wirtschaftlicher Unternehmen aus der Wirtschaft vollständig vertrieben. In der von "Göring, Generalfeldmarschall, Beauftragter für den Vierjahresplan" unterschriebenen Verordnung heißt es u.a.: "§1 (1) Juden (§5 der Ersten Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 14. November 1935 [...] ist vom 1. Januar 1939 ab der Betrieb von Einzelhandelsverkaufsstellen, Versandgeschäften oder Bestellkontoren sowie der selbständige Betrieb eines Handwerks untersagt." Jüdische Gewerbebetriebe, Markt- und Messestände sind verboten und sie "sind polizeilich zu schließen." (Absatz 3)

Durch den Novemberpogrom 1938 und die sich daran anschließenden staatlichen Maßnahmen erfolgte schnell der gänzliche wirtschaftliche Ruin der deutschen Juden.

Nach dem Pogrom im November 1938 wurde die "Reichszentrale für jüdische Auswanderung" gebildet; Leiter war der Gestapo-Chef Müller; die tägliche Arbeit organisierte Adolf Eichmann.

Victor Klemperer schreibt Mitte September 1939 in sein Tagebuch: "Befehl der Regierung von Mund zu Mund zu verbreiten an alle Juden: Verbot, nach acht Uhr das Haus zu verlassen, Verbot, jüdische Verwandte als Besuch bei sich aufzunehmen. Außerdem Fragebogen für Gestapo ausfüllen, wie weit Stand der Auswanderung." Bis zum 1. April 1940 müsse er sein Haus verlassen, habe ihm ein Parteibeamter im Dezember 1939 mitgeteilt. Da seine Frau arisch sei, stünden ihm und ihr zwei Zimmer zu.

Die "Auswanderungsarbeit" unter Eichmanns Führung stand von nun an unter der heimlichen Überschrift "Deportation" und damit Abtransport in den Tod.

Zu den Profiteuren des vernichtenden Antisemitismus und der Arisierung der Wirtschaft gehörten die Industriellen an Rhein und Ruhr. Die Arisierungspolitik gehörte neben der Kriegstreiberei zu weiteren großen Verbrechenskomplexen der Wirtschaft, die Ausbeutung von Zwangsarbeitern und die Ausplünderung besetzter Gebiete sollten folgen.

Nehmen wir das Beispiel von Friedrich Flick. Nach ihm war bis vor wenigen Tagen in Kreuztal bei Siegen ein Gymnasium benannt, bis die ehemaligen Schülerinnen und Schüler jetzt eine Namensänderung erzwangen.

Für die Arisierung der damaligen großen Petschek-Konzerne im Montanbereich ließ Flick ein Gesetz entwerfen, das dann von Göring am 3. Dezember 1938 in der Verordnung über den Einsatz jüdischen Vermögens befolgt wird. Flick hatte argumentiert: Der Ignaz-Petschek-Konzern dürfe nur solchen Unternehmen zufallen, "deren Interesse aus nationalsozialistischen Gesichtspunkten zu begründen ist." Von den Arisierungen profitierte der Flick-Konzern quantitativ wie kein anderes privates Unternehmen. In den zwölf Jahren der NS-Diktatur verzehnfachte er die Zahl der Beschäftigten und baute seinen Konzern zum zweitgrößten privatwirtschaftlichen Stahlerzeuger des Deutschen Reiches aus. Oft wird gesagt: Nationalsozialisten waren die Konzernherren nicht. Viele traten erst spät oder nie in die NSDAP ein. Ist das wichtig? Wichtig ist: Sie suchten und gewannen 1933 - viele schon vorher - die Gunst der neuen Machthaber und profitierte in großem Ausmaß von "Arisierungen", Zwangsarbeit und dem immensen Bedarf an Rüstungsgütern. Dafür wurden nur wenige Führungskräfte de Konzerne, so Flick und Krupp, vor dem Internationalen Militärtribunal in Nürnberg zur Verantwortung gezogen, der Konzernchef Flick wurde als Kriegsverbrecher verurteilt. Doch trotzdem konnte er nach 1945 seinen dritten Aufstieg realisieren und seine Verbrechen verschleiern.

Wir wollen endlich diesen Schleier zerreißen. Wir, die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes/Bund der Antifaschisten, wir haben in diesem Jahr die Spurensuche "Verbrechen der Wirtschaft" gestartet. Wie die Spurensuche nach den Opfern wollen wir auch die Spurensuche nach den Tätern betreiben. Es werden Stolpersteine für die Opfer gelegt. Wir wollen auch an die Täter erinnern. Zum Beispiel hier haben wir am 7. Januar folgende Tafel provisorisch enthüllt: "Hier an der Ecke Eintrachtstraße/Hainallee, in der Villa Springorum trafen sich am 7. Januar 1933 Franz v.Papen und führende Ruhrindustrielle, um die Machtübertragung an Hitler herbeizuführen. Viele Ruhrindustrielle unterstützten bereits vor 1933 die Ziele der Nazis. Sie profitierten von Krieg, Faschismus und Holocaust." Wir erneuern den Antrag an die Stadt Dortmund, eine Tafel dieses Textes hier anzubringen.

Literatur und Quellen zu diesem Referat:

  • Johannes Bähr, Axel Drecoll, Bernhard Gotto, Kim Christian Priemel und Harald Wixforth: "Der Flick-Konzern im Dritten Reich", Hrsg. durch das Institut für Zeitgeschichte München-Berlin im Auftrag der Stiftung preußischer Kulturbesitz. Oldenbourg Verlag, München 2008, 1.018 Seiten, 60 Abb., 20 Graf., Leinen, 64,80 €.
  • Siegfried Ransch "Das ‚Jüdische Arbeitsheim Radinkendorf' (1940 bis 1943) - Dokumentarischer Bericht über ein Lager an der märkischen Spree", 113 Seiten, o.Jg., Selbstverlag (Eingang: Oktober 2008)

Information zum Antifa. Spaziergang. Dortmund 2008

Zum Gedenken an die Pogromnacht vor 70 Jahren - am 9. November 1938 -

lädt das "Bündnis Dortmund gegen Rechts" ein:

Antifaschistischer Spaziergang am Samstag, den 8. November um 12.00 Uhr

Treffpunkt Märkische Straße 126/128 (U41 - Haltestelle Märkische Straße)

Von hier aus werden Stolpersteine aufgesucht, an denen der Opfer des Naziterrors gedacht wird.

9. November 1938 die "Reichspogromnacht"

Heute erinnern wir an den Pogrom, der vor 70 Jahren von den Nationalsozialisten inszeniert wurde. In ganz Deutschland brannten in dieser Nacht die Synagogen, auch in Dortmund, (die große Synagoge in der Innenstadt war vorauseilend schon vor dem 9. November zerstört worden,). Auch in Dortmund wurden jüdische Wohnungen und Geschäfte geplündert und zerstört, jüdische Menschen über die mit Glasscherben übersäten Straßen getrieben, verhöhnt und geschlagen und in die Gefängnisse gesperrt. In Dortmund war es die Steinwache.

Das Brandzeichen zur sogenannten Endlösung der Judenfrage war gesetzt.

Nach dieser schrecklichen Nacht gelang es nur noch wenigen Dortmunder Juden ins Ausland zu fliehen. Wenn wir die Stolpersteine für die Opfer der Shoah an der Märkischen Str.Nr. 126-128 und Nr.50 besuchen, wollen wir auch an die über 4000 Frauen, Männer und Kinder erinnern, die von Dortmund aus in die Vernichtungslager und Gaskammern deportiert wurden.

Die Stolpersteine

Über 100 dieser in das Pflaster eingelassenen, kleinen Steine, die den Opfern des Faschismus einen Namen geben und ihr Geburts- und Todesdatum festhalten, sind inzwischen in Dortmund verlegt worden und es kommen immer neue dazu. Jeder Stein steht für ein von den Nazis ausgelöschtes Leben, steht für eine Schandtat, die ohne gleichen in der Geschichte ist.

Stolpersteine für Arthur, Elli und Rudolph Spiegel und Henriette Eber, Märkische Str. 50

Das Schicksal einer Dortmunder jüdischen Familie zwischen Emigration und Vernichtung. Die fünfköpfige Familie Spiegel lebte seit 1933 an der Märkischen Straße. Mutter Lina Spiegel stirbt 1939, Tochter Hilde als kleines Mädchen.

Tochter Margarethe verließ vor dem Umzug an die Märkische Str. ihr Elternhaus, sie wurde über Theresienstadt nach Auschwitz deportiert und gilt als verschollen. Tochter Lotte emigrierte 1939 nach England, Sohn Paul im gleichen Jahr nach Holland und von da aus nach Argentinien.

Die übrigen Familienmitglieder, Vater Arthur, der Sohn Rudolph, Tochter Elli und Henriette Eber, eine Schwester von Lina Spiegel, wurden Opfer des Holocaust. 1942 mussten sie die Wohnung an der Märkischen Str. verlassen. Rudolph steht 1942 auf der Deportationsliste nach Riga und ist dort in das Totenbuch eingetragen. Nach Zeugenaussagen soll auch Elli mit diesem Transport in den Tod gefahren sein. Arthur Spiegel und seine Schwägerin Henriette sind im Juni 42 nach Theresienstadt deportiert. Henriette lebt nur noch zwei Wochen, Arthurs Name ist mit dem Datum vom März 43 in das Totengedenkbuch von Theresienstadt eingetragen.

Stolperstein Märkische Str.126-128 für Lilli Sulima, Jüdin, Kommunistin, Widerstandskämpferin

Lilli, 1906 in Offenbach geboren, arbeitete um 1930 als Redaktionssekretärin beim kommunistischen "Ruhrecho" in Dortmund. Als Mitglied der KPD wurde sie von der Gestapo verfolgt. In der Zeit der Illegalität arbeitete sie mit Sprengstoffexperten der Partei zusammen. Ihr weiterer Lebensweg liegt im Dunkeln. Sie muss in Holland der Gestapo in die Hände gefallen sein. Nach Aussage der Hauptsynagoge in Amsterdam ist Lilli am 19. 11. 43 in Ausschwitz ermordet worden

Orte der Opfer -- Orte der Täter

Wenn wir an die Opfer des Hitlerfaschismus erinnern, benennen wir auch diejenigen, die Hitler zur Macht verhalfen. Einer von ihnen war der Dortmunder Friedrich Springorum jun., Generaldirektor von Hoesch. Seine Villa stand in der Hainallee,nicht weit entfernt von den Wohnungen der Opfer des Rassenwahns.

Er war neben Albert Vögler Mitglied in dem geheimen Bund "Ruhrlade", in dem sich die rechtesten Kreise der Großindustrie von Rhein und Ruhr versammelten und schon in den 20er Jahren die Weimarer Republik bekämpften. Ab 1932 setzten sie vollends auf die NSDAP, die sie mit Millionensummen unterstützten.

Sie setzten auf Adolf Hitler und sein Programm der Zerschlagung der Gewerkschaften und der Arbeiterbewegung, der "Ausrottung des Marxismus", auf Hochrüstung und Krieg. Das alles lag in ihrem Interesse an Expansion und Profitmaximierung.

Nachdem Ex- Reichskanzler von Papen mit Hitler am 4. Januar 33 im Hause des Kölner Bankiers v. Schröder die Weichen für Hitlers Kanzlerschaft gestellt hatten, besuchte von Papen am 7. 1. Die Villa Springorum. Hier klärte er mit den Herren der "Ruhrlade" die Einzelheiten der Machtübertragung und machte weitere Millionen Reichsmark für die Nazipartei locker. Friedrich Springorum starb 1937, Albert Vögler verübte 1945 Selbstmord.

Erinnern an damals für das Handeln von heute!

Heute versucht sich eine Neonazi-Szene zu etablieren, die nahtlos an die Ideologie des Rassismus, des Antisemitismus und der Menschenverachtung ihrer faschistischen Vorgänger anschließt. Bauen wir auch mit jedem Stolperstein, mit den vielen großen und kleinen Gedenkstätten in Dortmund, ein Bollwerk gegen den Neonazismus! Beziehen wir sie in unser Handeln und unsere Gegenwehr ein.